Es ist etwas aus der Mode gekommen mit dem Straßenverkehr für die Unmöglichkeit der Anarchie aufzutreten, obwohl die überwältigende Verkehrstotalität jegliche Anarchie nachhaltig unwahrscheinlich macht. Heute scheint "Afrika" die Rolle des schlagenden Beweises in Sachen Anarchie zuzufallen, allerdings um genau entgegengesetztes auszusagen: Anarchie ist möglich und sogar sehr wahrscheinlich. Afrika wird ein gutes Beispiel, weil es Gewalt zeigt, die, wie Robert D. Kaplan unlängst in "lettre" provozierte, globale Zukunft als "kommender Anarchie" zeige.(Red.)
Afrika wird gegenwärtig zum Inbegriff für Anarchie erklärt, indem Fernsehen und andere Massenmedien Bilder schlimmster Auseinandersetzungen und brutalster Gewalt aus afrikanischen Bürgerkriegszonen im Bewußtsein eines breiten Publikums verankern. Trotz Informationsflut ist es kaum möglich, die vorgefertigten Beurteilungen an eigener Erfahrung zu kontrollieren. Das Publikum ist allen strategisch kalkulierten und manipulativen Absichten ausgesetzt, das gilt auch für die Aufwertung tatsächlicher Grausamkeiten zu Sinnbildern der Anarchie.
Obwohl der Vorwurf, Medien riefen oft erst die Gewalt hervor über die sie dann berichten, teils zutrifft, scheinen die BeobachterInnen und Betroffenen der Auseinandersetzungen das entworfene Bild zu teilen. Wer dort den Konflikt aktiv erfährt, neigt aufgrund seiner unmittelbaren Erlebnisse mit Gewalt und Kriegdazu, von der Anarchie in Afrika zu sprechen.
Als ein Medienprodukt und als unmittelbares Erleben könnte die Metapher von Anarchie in Afrika nur begrenzt wirken. Das ändert sich, wenn sie auf strategische Ursachen bezogen wird und auf sie Schlußfolgerungen für globale Prognosen gestützt werden. Die Konzepte behaupten, die Ursachen gegenwärtiger und kommender Anarchie gefunden zu haben. Ökologisch modernisiert wird sie zum dynamischen Bestandteil geostrategischer Konzeptionen, die für sich beanspruchen, gesellschaftliche Prozesse nicht nur kleinräumig zu beschreiben, sondern auch global zu kalkulieren und letztlich zu managen.
Anarchie in Afrika?
Doch schon die Schlüsse auf Basis der unmittelbaren Erfahrungen trügen. In etwa zwanzig Ländern Afrikas wird brutal Krieg geführt, von denen bei uns nur kurze Zeit Notiz genommen wird, wie in der Vergangenheit von Somalia und Ruanda bzw. Burundi. Aktuell widerfährt dies den teils mehrjährigen Bürgerkriegen Westafrikas in Liberia und Sierra Leone. Auch andere Länder der Region kennzeichnet Instabilität. Vorwiegend werden sie nach Putschen von Militärs regiert, ZivilistInnen regieren gestützt auf das Militär. Aber was heißt es, wenn darin Anarchie identifiziert wird? Greifen wir nur ein Beispiel auf, wo selbst die professionell mit Hilfe betrauten Organisationen in Liberia auf Anarchie diagnostizieren: „Die Vereinten Nationen, das Rote Kreuz und andere Organisationen wie ‚Ärzte ohne Grenzen‘ kündigen … den Abzug praktisch aller Mitarbeiter aus Monrovia an, da die Lage dort unhaltbar geworden sei. Sie sprachen von ‚absoluter Anarchie‘ und berichteten über anhaltende Plünderungen und andere Gewalttaten … Die durch die Stadt streifenden Banden stünden immer mehr unter dem Einfluß von Alkohol und Rauschgift. Die Zahl der umherziehenden, völlig entwurzelten Menschen wurde auf 60 000 geschätzt. Wegen des Zustroms von Flüchtlingen lebt inzwischen fast die Hälfte der 2,6 Millionen Einwohner Liberias in Monrovia.“ (FAZ v. 15. April 1996)
Die Betroffenen nehmen die Gewalt und den Zerfall aller ordnenden Kräften in Liberia als eine unfaßliche Situation, in der alle begrifflichen Vorstellungen versagen. Eskalationen sind kaum zu kalkulieren, da sie sich ohne klar konturierte religiöse, z.B. islamisch-fundamentalistische, Bewegungen oder politisch-ideologische Gruppen entwickeln. Weder Stämme noch Clans bieten Anhaltspunkte, um sich zu orientieren. Aber es reicht nicht aus, in dem Zerbrechen und dem Fehlen dieser Kräfte die Ursache der Gewaltexplosionen zu suchen. Schon daß es besonders oft professionell ausgebildete Soldaten oder ehemalige Sicherheitsbeamte sind, die sich als Täter hervortun, indem sie auf eigene Rechnung terrorisieren, müßte stutzig machen. Selbst die Entwurzelten, die sich spontan zusammenrotten, haben ihre Geschichte. Sie kamen im Zuge der wirtschaftlichen Modernisierungen in die Städte, können aber nun ihre Existenz nur mit Einsatz von Gewalt fristen. Und Militarisierung wie auch die Verstädterung sind keine anarchistischen Produkte oder Projekte. Wenn Gewalt auf so verschiedene Weise zur Lebensform wird, hängt das von den vorausgehenden sozialen Ordnungen ab. In den Auseinandersetzungen wüten die einstigen Gewaltpotentiale vorheriger Ordnungen. Die Orientierungen, die unter ökonomischer und politischer Unterdrückung entstanden sind, setzen sich verheerend und unter Einsatz der vorhandenen Waffen, sei es in Händen destruktiv wütender Herrschaftsorgane und neuer, sich selbstorganisierender Gewaltpotentiale, durch. Die Wendung zur Gewalt ist deshalb noch längst nicht Anarchie, das hieße jegliche qualitativen Merkmale von Anarchie zu mißachten. Von Anarchie angesichts der schrecklichen Erfahrungen zu sprechen dient als Fluchtpunkt aus der Situation, die nicht mehr einzuordnen scheint. Warum aber tendieren auch die strategischen Deutungen, denen keineswegs die Sprache versagt, zur Diagnose und Prognose: Anarchie?
Heute Afrika, morgen die ganze Welt
Auch Robert D. Kaplan setzt bei den Gewaltausbrüchen in westafrikanischen Ländern an, allerdings mit dem anspruchsvollen Ziel, „einen Bericht über die wahrscheinliche politische Zukunft unseres Planeten im 21. Jahrhundert“ vorzulegen. Deshalb verallgemeinert er die dortigen gewaltsamen Auflösungstendenzen: „Westafrika wird zu dem Symbol der weltweiten demographischen, gesellschaftlichen und ökologischen Belastung, aus der die kriminelle Anarchie als eigentliche ’strategische‘ Gefahr hervorgeht. Krankheit, Überbevölkerung, sinnloses Verbrechen, Rohstoffmangel, Flüchtlingsströme, die zunehmende Aushöhlung der Nationalstaaten und der internationalen Grenzen und der Machtzuwachs von Privatarmeen, Sicherheitsfirmen und internationalen Drogenkartellen zeigen sich heute am deutlichsten in westafrikanischer Perspektive.“ (S. 52, Seitenzahlen verweisen auf lettre/Frühjahr 96)
Zu einer historisch übergreifenden Tendenz wird die Diagnose, da sie vorgibt, nicht nur den Schrecken in Sierra Leone, sondern auch die als Gegenbeispiel geltende Elfenbeinküste zu berücksichtigen. Die Garanten des dortigen Erfolgs waren der zeitweilig hohe Kakaopreis und die Phase segensreicher Einflüsse der französischen Gemeinde. Heute wirkt beides kaum noch. Es wird überdeckt von Hüttenstädten in Abidjan, die z.B. nach „Chicago“ und „Washington“ benannt sind. Sie symbolisieren „die demographische Gegenwart Afrikas und der Dritten Welt – von der Zukunft ganz zu schweigen – besser … als idyllische Dschungellandschaften…“, und die „… Elfenbeinküste steht vor einer Gefahr, die schlimmer wäre als ein Putsch: einer anarchischen Implosion der Gewalt – eine verstädterte Version dessen, was in Somalia bereits eingetreten ist“ (S. 53). Daß Gewalt die afrikanische Welt „implodieren“, nämlich in sich zusammenfallen, läßt, ist sicher möglich, auch wenn fraglich bleibt, was daran „anarchisch“ sein soll und was die Implosionen an Gefahren für das Umfeld bedeuten.
Auch hier sind die Wertungen und die Vorgänge zweierlei. Je konkreter beschrieben wird, was gegenwärtig geschieht und was zu erwarten ist, um so weniger drohen die theoretischen Holzwege der Bewertung. Ein relativ genaues Bild der Ursachen liefert ein Papier der französischen Außenbürokratie für Nigeria: „Die Aussichten auf einen Übergang zu ziviler Herrschaft und Demokratisierung sind mager … der repressive Apparat des staatlichen Sicherheitsdienstes … wird sich von zukünftigen zivilen Regierungen nur schwer unter Kontrolle halten lassen … Das Land wird unregierbar … der Wille, Nigeria zusammenzuhalten, ist nur noch sehr schwach.“ (S. 54) Statt diffus Anarchie walten zu sehen, treten identifizierbare Akteure und strategische Absichten aus dem unkalkulierbaren Geschehen hervor.
Schaut Kaplan sich das Schlachtfeld genauer an, bleibt auch bei ihm von Anarchie wenig. Es weckt in ihm Erinnerungen an „eine vormoderne Formlosigkeit und erinnert an Kriege im mittelalterlichen Europa“ (S. 52). Verräterisch auch ein weiterer Wiedererkennungseffekt: nach dem Zerfall der Staaten bleiben von Afrika nur ein paar Küstenhandelsplätze, wie es der viktorianische Atlas zeigte (S. 53). Da von Anarchie aus dieser Phase der europäischen Geschichte wenig bekannt ist, aber viel von Kreuzzügen, Inquisition Kolonialisation etc. scheint auch hier die Anarchie zur Abwehr des allzu bekannten zu dienen. Außerdem drängt sich die Frage auf: Wie kann etwas, dem Europa bereits so lang entwachsen ist, zu seiner und der globalen Zukunft werden?
Das Bindeglied sind die strategisch motivierte Ursachenforschung und die darauf gestützten Schlußfolgerungen. Kaplan führt die aktuellen Konflikte in erster Linie auf ihnen zugrunde liegende ökologische Ursachen zurück. Die Zerfallsprozesse fußen, so sein Argument, auf der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, verstärkt durch Übervölkerung und Verstädterung. Insgesamt berücksichtigt sein Theorieplan die Kombination mehrerer Einflüsse: „Um die Ereignisse der nächsten 50 Jahre zu verstehen, muß man sich einen Begriff von Umweltsituation, kulturellen und rassischen Zusammenstößen, geographischem Schicksal und den neuen Formen des Krieges machen.“ (S. 54). Angesichts der globalen Veränderungen drohen die konkreten AkteurInnen aus dem Blickwinkel zu geraten, da ihnen sowieso keine Handlungschancen auf dem Feld bleiben. Das gilt auch für die möglichen Ursachen, die zu anonymen Prozessen naturalisiert werden: „…die Natur beginnt sich zu rächen“. Ähnliches gilt für die „kulturell rassischen Zusammenstöße“, die an die Stelle des Ost-West-Gegensatzes treten, indem sie ideologische Auseinandersetzungen durch religiösfundamentalistisch stimulierte Konflikte ablösen und höhere Mächte ins Spiel bringen. Schließlich werden die Kriege nicht mehr ausschließlich strategisch rationalistisch verstanden, nämlich Staaten zugeordnet. Sie werden individualisiert, entspringen dem Lustprinzip der Menschen, die gern kämpfen, was zu einer diffusen vormodernen Gewalt führt. All das vereinigt sich zu dem modernisierten Bedrohungsszenario: Die kommende Anarchie. Zwar sprechen die aufgeführten strategischen Ursachen nur von veränderten Formen der Herrschaft, aber nicht von deren Abschaffung, aber Anarchie hat in dieser Prognose eine doch wohl sehr zentrale Aufgabe: Sie gibt das allen bekannte Schreckgespenst ab.
„Afrika gibt es nicht“
Von Anarchie, das war zu beobachten, wird dann gesprochen, wenn Gewalt erlebt wird. Und eine Häufung von Gewalt, sowie ihre künftige Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, wird mit einer kommenden Anarchie identifiziert. Wer merkt da noch, daß dem eine radikale Umkehr in den Annahmen über den Zusammenhang von Gewalt und Anarchie vorausgeht. Anarchie galt für ihre AnhängerInnen mehrheitlich als das Ende von Herrschaft und Gewalt. Da die Gewalt in Afrika exzessiv explodiert, gibt es ein anarchisches Afrika nicht. Seine ProphetInnen liefern nur eines der vielen Bilder von Afrika, die der Afrikakorrespondent Georg Brunold mit etwa dreihundert Seiten Reportagen über Afrika unter dem Titel „Afrika gibt es nicht“ kritisiert. Von außen überlagern die Fiktionen die Wahrnehmung des Kontinentes und von innen hält dem keine gesamtafrikanische Identität eigene Bilder wirkungsvoll entgegen. Für die StrategInnen und die Medien ist das ein Vorteil. Denn die Fiktion der Anarchie in Afrika ist nützlich. In der Fremde lauert die Gefahr, für deren Abwehr wir hier rüsten und schuften müssen. Deshalb soll auf einmal Anarchie möglich sein und über uns kommen, um unsichere Herrschaftsstrukturen zu festigen. Aber aufgepaßt! Anarchie ist tatsächlich möglich.
Literatur
Robert D. Kaplan: "Die kommende Anarchie" in lettre 1/1996, S. 52-61
Georg Brunold: Afrika gibt es nicht. Korrespondenzen aus drei Dutzend Ländern, Frankfurt am Main, Eichborn, 1994