Seit der Zündung einer Atombombe (für "friedliche" Zwecke) in der Wüste von Rajasthan 1974 gilt Indien als Atomwaffenstaat. Doch Indien, das den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, beteiligt sich nicht nur am nuklearen Wettrüsten, sondern hat auch ein ehrgeiziges "ziviles" Atomprogramm, das die gesamte Brennstoffspirale umfaßt. Doch dagegen regt sich Widerstand. (Red.)
Es überrascht viele, daß die Arbeit an Atomenergie in Indien viel früher begann als in vielen westlichen Ländern. Tatsächlich hat schon 1944, noch bevor Indien unabhängig wurde und vor dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, Dr. Homi J Bhabha (der später Kopf der Atomenergiekommission wurde) die Schaffung eines Instituts für die Ausbildung von WissenschaftlerInnen und IngenieurInnen für Atomenergie ins Auge gefaßt. Die Atomenergiekommission wurde 1948 gebildet; die erste Forschungsanstalt, das Tata Institute of Fundamental Research (Tata Institut für Grundlagenforschung) in Bombay wurde 1954 eingerichtet; der erste Forschungsreaktor nahm 1956 den Betrieb auf und bis 1962 hatte Indien bereits das Atomenergiegesetz erlassen, das die Enthüllung von Informationen zu Atomfragen durch nicht- authorisierte Personen untersagte. Ein Programm großangelegter Nuklearisierung wurde 1962 vorgestellt, mit einer großen Zahl von Schwerwasserreaktoren, die ursprünglich mit kanadischer Hilfe gebaut werden sollten, gefolgt von Brutreaktoren, um Plutonium zu produzieren, das später genutzt werden sollte, um aus Thorium, das an der indischen Westküste reichlich vorkommt, Uran 233 herzustellen. Es wurde projektiert, daß Indien innerhalb von 25 Jahren (also 1987) eine Nuklearkapazität von 25 000 Megawatt elektrischer Energie haben würde. Der Bau des ersten Leistungsreaktors (ein Siedewasserreaktor, zu anfänglich niedrigen Kosten von General Electric gebaut) begann 1963 und die ersten beiden Blöcke waren am 1. April 1969 fertiggestellt und in Betrieb. Indien führte im Mai 1974 in der Wüste von Rajasthan eine nukleare Explosion durch, die als „friedliche Nuklearexplosion“ bezeichnet wird. Seitdem befindet sich Indien gegenüber westlichen Nuklearstaaten in der Isolation, und es gab wenig fremde Hilfe für Indiens Atomprogramm.
Atomtechnologie als Symbol der Macht
Die Gründe für diese Faszination der Atomtechnolgie liegen tief in der Geschichte Indiens. Zwei Jahrhunderten britischer Herrschaft, denen mehr als tausend Jahre mit Invasionen aus dem Nordwesten vorausgingen, haben viele in Indien von der Notwendigkeit einer starken militärischen Präsenz überzeugt. Die Atomexplosionen in Hiroshima und Nagasaki haben diese Überzeugung bestärkt, und ebenso die Vorstellung, daß nur die Beherrschung moderner Wissenschaft und Technologie es dem unabhängigen Indien erlauben würde, seinen rechtmäßigen Platz in der Weltgemeinschaft einzunehmen. Deshalb hat der indische Staat trotz der Schwierigkeiten beim Aufbau der Nation von Beginn an der Atomenergie eine große Bedeutung beigemessen. So sehr, daß für viele Jahre der Forschungshaushalt für Atomenergie die Haushalte für alle anderen Forschungsaktivitäten zusammengenommen übertraf. Daneben mußten AtomwissenschaftlerInnen nicht die gleichen bürokratischen Prozeduren durchlaufen wie andere WissenschaftlerInnen an den Universitäten.
Das Ergebnis dieser Anstrengungen ist, daß Indien in allen Bereichen der nuklearen Brennstoffspirale Selbstversorger ist. Es hat seine eigenen Uranminen, eine eigene Brennstabproduktion, plant und erstellt die eigenen Leistungsreaktoren, hat eine Wiederaufarbeitungsanlage und ist genauso ratlos in Sachen Abfallagerung wie alle anderen Nuklearstaaten.
Bezüglich Atomwaffen war die indische Politik immer zweideutig. Auf der einen Seite ist Indien stolz, das Land von ahimsa (Gewaltlosigkeit) zu sein, und es gibt eine starke Strömung, die gegen jede Art von Nuklearwaffen ist. Und das Land hat in den Vereinten Nationen und anderswo konsequent gegen die Herstellung und die Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen durch welches Land auch immer opponiert. Es sollte erwähnt werden, daß Indien 1971, während des Krieges mit Pakistan und der „Geburt“ von Bangladesh, glaubwürdige nukleare Drohungen durch die Nixon-Administration erleiden mußte, die mit Nuklearwaffen bestückte Flug- zeugträger in den indischen Ozean entsandte, um Indien zu warnen, sich innerhalb der von den USA gesteckten Grenzen zu verhalten. Auf der anderen Seite hat es in Indien immer eine Lobby gegeben, die argumentierte, daß Atomwaffen ein internationales Symbol für Macht sind, und in einer Welt, die nur die Mächtigen respektiert, solle Indien stärkere Antrengungen unternehmen, eine Atomwaffenmacht zu werden.
Der indische Staat folgte einem Kurs zwischen diesen beiden Positionen. Während er konsequent gegen die Entwicklung von Nuklearwaffen eintrat, scheute er sich jedoch nicht, die Zweideutigkeit, die sich aus den Anforderungen der Technologie ergab, auszunutzen. Während Nuklearwaffen tabu waren, waren es friedliche Nuklearexplosionen, die sich von Nuklearwaffen nicht unterscheiden lassen, nicht. Es ist klar, daß das nichts spezifisch indisches ist, sondern daß auch andere Nuklearstaaten, in der Vergangenheit und auch heute, versucht haben die Dinge in einer Zweideutigkeit zu halten, aus deren Verschwommenheit und aus Ideen wie „friedlicher Nuklearexplosionen“ sie jeden möglichen „Vorteil“ ableiteten.
Erfahrungen mit Atomenergie sind in Indien kaum verbreitet. Während die ursprünglichen Pläne eine Atomenergiekapazität von 20 000 bis 25 000 MW für 1987 anstrebten, beträgt die aktuelle Reaktorkapazität selbst heute nur 1 700 MW. Die meisten Reaktoren arbeiten mit etwa 40 % ihrer möglichen Leistung, und es gab zahlreiche Störfälle und Zwischenfälle in diesen Kraftwerken, und einige von ihnen werden mit Recht als die „dreckigsten in der Welt“ bezeichnet.
Entwicklung einer Anti-AKW-Bewegung
Eine Einstellung gegen Atomenergie hat sich in Indien nur langsam gebildet. Während der 50er Jahre wurde – obwohl es Abscheu vor der Bombe gab – „Nuklearenergie für friedliche Ziele“ von nahezu jeder/m als eine gute Idee angesehen. In den frühen Tagen war man im Land stolz darauf, daß indische WissenschaftlerInnen solch komplexe Anlagen bauen und betreiben konnten, und die Menschen dachten, daß sich die Früchte all dieser Aktivitäten sehr bald verbreiten würden und sich der traurige Zustand des alltäglichen Lebens wirklich verändern würde. Die Geschichte des Atomkraftwerks Rajasthan (Rajasthan Atomic Power Station – RAPS) ist dafür beispielhaft.
RAPS war der erste indische Reaktor, der mit kanadischer Hilfe als Schwerwasserreaktor kanadischen Typs gebaut wurde. Der erste Block wurde 1973 fertiggestellt, und die Arbeit am zweiten Block war im Gange, als Indien 1974 eine Nuklearexplosion durchführte. Kanada stoppte jede Unterstützung, der zweite Block wurde trotzdem bis 1980 fertiggestellt und nahm den Betrieb auf.
Das Kraftwerk wurde am Ostufer des Rana Pratap Reservoirs, am Fluß Chambal, errichtet. Während der 50er Jahre wurden an diesem Fluß in einem Bereich von 100 km vier Staudämme gebaut. Viele der dort lebenden Menschen wurden vertrieben. Als der Reaktor gebaut wurde, und den Menschen Arbeit versprochen wurde, dachten diese, sie würden nun „entwickelt“ werden und ihre Kinder würden ein gutes Leben führen können. Doch als die zivilen Bauarbeiten beendet waren, gab es keine Arbeit für unausgebildete und analphabetische DorfbewohnerInnen, außer als GelegenheitsarbeiterInnen für Reinigungsarbeiten in den Zeiten, in denen der Reaktor abgeschaltet war. Der Strom, der vom Reaktor produziert wurde, wurde in die Industriestadt Kota, 50 km vom Reaktor entfernt, transportiert, und selbst 17 Jahre nach Inbetriebnahme des Reaktors hatten die Dörfer, auf deren Land der Reaktor erbaut wurde, keine Elektrizität. Eine Studie, die 1991 erstellt wurde, kam zu dem Ergebnis, daß nur fünf Menschen aus einer Bevölkerung von 2 860 aus fünf Dörfern in 10 km Umkreis um den Reaktor dort einen Arbeitsplatz bekommen hatten, und nur 19 % der Haushalte über Elektrizität verfügten. Die Verhältnisse in vergleichbaren Dörfern, mehr als 50 km vom Reaktor entfernt, waren sehr viel besser. Dort waren mehr als 52 % der Haushalte elektrifiziert.
Die Gesundheitsbedingungen der Menschen, die in der Nähe des Reaktors lebten, wurden schlechter und schlechter. Die oben genannte Studie zeigte, daß bezüglich chronischer Gesundheitsprobleme Menschen in der Nähe des Reaktors dreimal häufiger betroffen waren als vergleichbare Menschen in größerer Entfernung. Alterskrankheiten, wie z.B. grauer Star, kamen früher zum Ausbruch, die Häufigkeit massiver Tumore war siebenmal so hoch. Der lästigste Aspekt waren die Auswirkungen auf Kinder. Unnormale Schwangerschaftsverläufe, wie Fehlgeburten, Totgeburten, angeborene Fehlbildungen und Ein-Tags-Tode traten in den Dörfern in der Umgebung des Reaktors statistisch signifikant höher auf als weiter entfernt, und die Häufigkeit stieg mit der Zeit an.
Der Unfall in der Pestizidfabrik von Union Carbide in Bophal 1984 alarmierte in Indien viele Menschen über die Gefahren, die von großen, mit toxischen Materialien hantierenden Industrien ausgingen. Zur Zeit des Tschernobyl-Unfalls 1986 gab es viele kleine Anti-Atomkraft-Gruppen, die gegen die Atomkraftwerke in Indien arbeiteten. Im August desselben Jahres gab es massive Proteste gegen das Atomkraftwerk Kakrapar im Staat Gujarat im Westen Indiens. Von Seiten der Regierung gab es massive Repression, bei Schüssen wurde ein Mensch getötet, und Tränengasgranaten wurden sehr freizügig eingesetzt. Es gab zahlreiche Verhaftungen, und die Regierung versuchte, die Verhafteten nach den drakonischen Gesetzen, die zur Abwehr von Terrorismus erlassen worden waren, zu inhaftieren. 1987 und 1988 gab es im südindischen Staat Karnataka Proteste gegen ein im Bau befindliches Atomkraftwerk, durch das die letzten verbliebenden Spuren des tropischen Regenwaldes zerstört werden.
Der Widerstand organisiert sich
Im August 1986 trafen sich die verschiedenen Anti-AKW-Gruppen aus dem ganzen Land zum ersten Mal und beschlossen, sich gegenseitig zu unterstützen. Es wurde beschlossen, einen Rundbrief herauszugeben, und ein Jahr später, im August 1987, erschien die erste Ausgabe des zweimonatlichen englischsprachigen Magazins Anumukti (frei übersetzt: Befreiung vom Atom), das bis heute regelmäßig erscheint.
Die AktivistInnen in Karnataka zwangen die Regierung, eine Debatte zwischen den Anti-Nuklear- und Pro-Nuklear-Kräften im Land abzuhalten. Diese fand im Dezember 1988 statt und markierte einen Einschnitt in dem Sinne, daß sie zeigte, daß die antinukleare Position wissenschaftlich begründet war. Seitdem hat sich das nukleare Establishment geweigert, irgendo im Land öffentlich mit nuklearkritischen WissenschaftlerInnen zu diskutieren.
Die AktivistInnen von Karnataka haben außerdem die Atomenergiebehörde zur Frage der Entscheidungskriterien für die Standortwahl des Reaktors Kaiga (in einem tropischen Regenwaldgebiet) vor das Verfassungsgericht gebracht. Das Gericht forderte die Regierung auf, die Vorbehalte zu berücksichtigen, und erlaubte den AktivistInnen, bis dahin geheime Berichte einzusehen, doch das Verfahren führte nicht zu einem Baustopp.
In den letzten Jahren haben einige Anti-Atom-Gruppen wissenschaftliche Studien zur Gesundheitssituation und zum ökonomischen Status um die Atomanlagen herum durchgeführt. Die erste solche Studie wurde 1991 im Gebiet um den Reaktor Rajasthan durchgeführt, und seitdem gab es solche Studien um die Reaktoren Kakrapar und Kaiga. Kürzlich hat eine Gruppe mit einer Studie zur Uranmine in Jadugura im nördlichen Staat Bihar begonnen. Der wichtige Punkt bei diesen Studien ist, daß die gesammelten Informationen nicht nur genutzt werden, um wissenschaftliche Papiere für technische Fachzeitschriften zu schreiben, sondern daß sie an die Menschen in einer Form zurückgegeben werden, die sie verstehen können. Manchmal ist es bei einer überwiegend analphabetischen Bevökerung notwendig, die Informationen über Lieder und Straßentheater zu verbreiten.
Eine der Auswirkungen der Globalisierung und der von der Regierung in den letzten fünf Jahren angestrebten marktwirtschaftlichen Politik ist, daß die Undurchführbarkeit der Atomenergie öffentlicher geworden ist. Regierungssubventionen wurden reduziert, und NukleokratInnen, die es gewohnt waren, sehr ver- schwenderisch zu sein, ohne Fragen gestellt zu bekommen, finden sich in dem neuen Klima sehr schwer zurecht. Zur gleichen Zeit ist das Bewußtsein über die gesundheitlichen Auswirkungen von Atomkraftwerken in deren Nachbarschaft in weiten Teilen durchgesickert, und heute ist es für das Establishment schwierig, ein Atomkraftwerk an einem neuen Standort zu beginnen. Einige solcher Versuche, wie in Peringome in Kerala, Nargajunasagar in Andra Pradesh und Kudankulam in Tamil Nadu wurden von den Autoritäten aufgrund des Widerstandes der Bevölkerung entweder aufgegeben oder zeitweise auf Eis gelegt.
Derzeit sind die beiden Blöcke in Rajasthan wegen Sicherheitsgründen abgeschaltet und die beiden Blöcke in Tarapur und die zwei Blöcke in Madras arbeiten mit reduzierter Leistung. Die neuen Blöcke in Narora und Kakrapar arbeiten, doch ihre Leistungsfaktoren in den ersten drei Betriebsjahren lagen bei etwa 25 %. Sechs 220 MW Blöcke vom Typ des Schwerwasserreaktors befinden sich im Bau (zwei in Rawatbhata in Rajasthan und vier in Kaiga/Karnataka). Teile des Daches des Containments des im Bau befindlichen Reaktors Kaiga-1 sind bei einem bizarren Störfall vor mehr als einem Jahr von allein zusammen-gefallen, und ein Kommittee wurde gebildet, das innerhalb von drei Monaten einen Bericht über die Ursachen dieses Unfalls vorlegen sollte. Dieser Bericht muß jetzt veröffentlicht werden. Der Bau des Containments wurde unterbrochen, da auf den Bericht gewartet wird.
Die Atombehörde ist außerdem stark daran interessiert, zwei 500 MW-Blöcke in Tarapur zu errichten, doch die Genehmigung dafür und die finanziellen Garantien wurden von der Regierung bisher nicht erteilt, obwohl in Erwartung dessen die zuständige Abteilung bereits Ausrüstungen im Wert mehreren Millionen geordert hat.
Da die Nuklearindustrie im Westen immer mehr die Härte des Marktes verspürt, wird die Undurchführbarkeit der Atomenergie ohne massive staatliche Subventionen und Verkäufe ins Ausland immer offensichtlicher. In einem solchen Klima ist es für PolitikerInnen eine große Versuchung, „Arbeit zu Hause“ durch die Förderung des Verkaufs solcher Technologien in die „Dritte Welt“ zu sichern. Glücklicherweise schützt Indiens Status als Nichtunterzeichner des Atomwaffensperrvertrages vor solchen Anstrengungen. Doch es ist für die NukleokratInnen im Westen und in Indien nicht schwierig, einen Deal auszuarbeiten, der unter verschiedenen Deckmänteln wie Sicherheitsfragen, die als Feigenbaum dienen können, die Öffentlichkeit in beiden Gebieten so zu beeinflussen, daß der Verkauf der gesamten Technologie möglich wird. Auf diesem Gebiet können Freiwilligengruppen im Westen und Indien effektiv zusammenarbeiten, um dagegen vorzugehen.