ökonomie

Sozialer Sturm im Herbst?

Oder laues DGB-Lüftchen als Widerstandsplacebo?

| Lou Marin

"Wir stehen auf französisch, statt auf ein Bündnis für Arbeit", skandierten Beschäftigte vor dem Bochumer Opelwerk kurz vor der parlamentarischen Verabschiedung des sagenumwobenen "Bonner Sparpakets" Ende Juni 96. 100 000 Menschen seien am Tag der Abstimmung auf die Straße gegangen, jubelte der DGB. Hat's im Sommerloch jemand bemerkt? Im Herbst jedenfalls soll's noch doller kommen, versprechen uns die FunktionärInnen. Die Botschaft hör'n wir wohl... (Red.)

Und wie sie wieder ihrer nur mit dem Rinderwahnsinn zu erklärenden Verbalradikalphraseologie freien Lauf ließen! In dem Chemiebetrieb, in dem ich arbeite, stand groß „Sozialterroristen!“ auf dem Gewerkschaftsbrett – doch das war von der rechten IG Chemie: sowieso nicht ernstzunehmen, die bringt es fertig, mit diesen „Terroristen“ schon am nächsten Tag wieder an einem Tisch zu sitzen und dann über Prozentpunkte hinter dem Komma zu jubeln. Aber IG-Metall-Chef Zwickel war doch nicht von schlechten Eltern, oder? Ein „Unrechtsprogramm mit Vollkaskoschutz für Reiche“ nannte er das Bonner Sparpaket. Geht’s denn noch radikaler?

Was dann kam, ist sattsam bekannt: ungeheuer beeindruckt von den gewerkschaftlichen Drohungen stimmte die Bundestagsmehrheit anderntags dem Sparpaket gelangweilt zu. Da das Gesetz nicht zustimmungspflichtig ist, darf die SPD im Bundesrat brav ablehnen (obwohl gerade die SPD-geführten Länder ständig Sparprogramme fordern!), bevor jetzt im September der Bundestag die Gesetze erneut und dann endgültig durchsetzen will. Auch für Anfang September sind wieder entschlossene Massenkundgebungen der Gewerkschaften angekündigt. Doch können wir das ernst nehmen? Wann wird aus dem DGB-Lüftchen ein Sturm des Widerstands? Wann wird’s hierzulande tatsächlich mal „französisch“?

Der Anlaß dazu bestünde seit langem. Nicht erst seit den Spargesetzen wird klar, daß die neoliberalistische Standortpolitik die Globalisierungstendenz des Kapitalismus systemimmanent nicht aufhalten wird, daß auch hierzulande beständig mit einem Sockel von vier Millionen Arbeitslosen und mehr zu rechnen ist. Das Sparpaket ist nur ein weiteres Scheibchen der Salamitaktik. Es beinhaltet, daß in nicht tariflich geregelten Branchen nur noch 80 % Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gewährt wird, daß nur in Betrieben mit über 10 Beschäftigten Kündigungsschutz besteht (vorher: 5), daß bei Massenentlassungen in Großunternehmen kein Rechtsanspruch auf Abfindungszahlungen mehr geltend gemacht werden kann, daß befristete Arbeitsverträge nun bis zu 2 Jahren möglich sind (vorher: 18 Monate), daß die Krankenversicherung nach 6 Wochen Krankheit nur noch 70 % (vorher: 80 %) des Bruttolohns bezahlt, daß Privatbeiträge bei Arzneimittelpreisen und Zahnarztbehandlungen steigen, daß das Renteneintrittsalter ab dem Jahr 2 000 bei Frauen von 60 auf 65 und bei Männern von 63 auf 65 Jahre erhöht wird, daß die Arbeitslosenunterstützung ab 1997 eingefroren wird und daß geprüft werden soll, ob die Wiedereingliederung von Behinderten ins Berufsleben „zweckmäßig“ sei. Hinzu kommt zum Beispiel die Einsparung von ABM-Geldern im Osten auf Westniveau bis zum Jahr 2 000, was nach Engelen-Kefer zusätzliche 300 000 Arbeitslose bringt, sowie die Kürzung der Bundeszuschüsse für Arbeitsmarktmaßnahmen des Arbeitsamtes (Umschulungen usw.), was nach Engelen-Kefer wiederum nochmal 200 000 Arbeitslose zusätzlich ergibt. Derweil wird der Beitragssatz zur Rentenversicherung 1997 wahrscheinlich von 19,2 auf 19,7 % des Bruttolohnes steigen. Wer will da noch in Konsumräusche verfallen, jetzt, wo die Ladenöffnungszeiten gelockert werden?

Doch was machen die Gewerkschaften in einer Zeit, in denen ihnen Staat und Kapital mit unverhüllter Fratze entgegentreten? Sie diskutieren bis zum Gewerkschaftstag im November einen neuen DGB-Grundsatzprogrammentwurf, in dem so illustre Sätze drinstehen, wie zum Beispiel daß ,die soziale Marktwirtschaft besser als andere Wirtschaftsordnungen geeignet ist, die Ziele der Gewerkschaften zu erreichen.“ Wir wußten gar nicht, daß Massenarbeitslosigkeit zu den Zielen des DGB gehörte! Die radikale IG Metall will das natürlich abändern. Da heißt’s dann radikalauernd: „Die sozialregulierte Marktwirtschaft bedeutet gegenüber einem ungebändigten Kapitalismus einen großen historischen Fortschritt.“ (nach taz, 19.8., S.3) Anstatt schlicht zu verstehen, daß der eine Kapitalismus in Zeiten der Krise halt kein Geld für soziale Almosen ausgeben mag, und daß er gerade dann, das heißt jetzt – heute (!) – „ungebändigt“ auftritt, wird von Seiten der Gewerkschaften der Mythos von den zwei „Kapitalismen“ aufgetischt, der eine furchtbar und unsozial, der andere (wer hat ihn gesehen?) nett, sozialreguliert – dazwischen ein Fortschritt, „groß“ (!) und „historisch“ (!). Der eine Kapitalismus hat praktisch gar nichts mit dem andern zu tun, ist quasi wie vom andern Stern auf uns herniedergekommen! Unter diesen Umständen ist der gewerkschaftliche Weg zu sozialen Auseinandersetzungsformen à la française wie der Weg zu einer anderen Galaxis!

Wie könnte das anscheinend Unmögliche doch möglich werden? Wie könnte die Gewerkschaftsbewegung zur direkten Aktion, gar zu Streik und massenhaftem Widerstand kommen. Im Vergleich zu Frankreich ist die monolithische Gestalt der Einheitsgewerkschaften in der BRD ein großes Hindernis für die Entfachung sozialer Auseinandersetzungen. Die zersplitterte, oft branchenspezifisch unterschiedlich radikale, basisnähere und entschlossenere Gewerkschaftsszene in Frankreich hatte den Vorteil, daß kleine oder branchenspezifische Streiks eine Bewegung entfachen konnten, der sich andere dann anschlossen. Außerdem konnten die FunktionärInnen der großen Gewerkschaften besser daran gehindert werden, den Protest auf Symbolik zu beschränken. Der Beginn der französischen Streikbewegung im letzten Jahr war die Kritik und die Ausweitung des von den FührerInnen der großen Gewerkschaften auf einen einzigen Tag angesetzten symbolischen Protests.

Aufgrund der Struktur der Einheitsgewerkschaften in der BRD können basisnähere Kritiken und Proteste weniger schnell durchkommen und bestimmend werden. Bisherige Erfahrungen zeigen, daß erst nach bürokratischer Ingangsetzung symbolischer und politisch gemäßigter Protest- und Streikformen mittels Warnstreik, Verhandlungspoker, Urabstimmung und Schlichtungsgesprächen eine Radikalisierung möglich scheint. Das hat vor allem der letzte große Streik, derjenige der ÖTV aus dem Jahre 1991, deutlich gemacht: je länger der Streik dauerte, desto deutlicher wurde die Kritik an den VerhandlungsfunktionärInnen. Die kritische Phase der Radikalisierung war mit dem entschlossenen Streik der MüllarbeiterInnen erreicht, die mit dem letzten Verhandlungsergebnis nach den gesammelten Erfahrungen mit selbstbestimmter Aktion und Diskussion sehr unzufrieden waren und nur sehr mühsam durch den Druck der FunktionärInnen auf festgesetzten Urabstimmungsmehrheiten der Gesamt-ÖTV im Zaum gehalten werden konnten.

Selbst symbolische Proteste, ursprünglich nur konzipiert, um die eigentliche Klientel ruhigzuhalten, können also unter bestimmten Umständen eine Dynamik entfalten, die den Interessen der Gewerkschaftsbürokratie zuwiderläuft. Solange jedoch kein sozialer Sturm von den ArbeiterInnen selbst entfacht wird, bleibt den Initiativen aus den sozialen Bewegungen nur die oft von ArbeiterInnen mißverstandene und mit dem Arbeitsplatzargument bekämpfte Kritik von außen. Doch in Wirklichkeit kommen die Kämpfe sozialer Bewegungen gerade auch den durch die offizielle Gewerkschaftspolitik domestizierten ArbeiterInnen zugute: ohne die Kritik kritischer AktionärInnen an Landminen- und Rüstungsproduktion wie zum Beispiel bei Daimler-Benz keine gewerkschaftlichen Initiativen zur Konversion, ohne den durch gewaltfreie Initiativen mitorganisierten Boykott von Firmen mit ungeschützten Lohn- und Beschäftigungsverhältnissen wie etwa bei „Schlecker“ keine Erringung sozialer Mindeststandards (Betriebsräte, Organisations- und überhaupt erst Streikfähigkeit), ohne die Castor-GegnerInnen keine sich um die Strahlenbelastung der ArbeiterInnen bei Atomtransporten sorgende EisenbahnerInnengewerkschaft, ohne die Frauenbewegung keine gewerkschaftliche Thematisierung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, ohne die Ökologiebewegung keine erhöhten Sicherheitsstandards für ArbeiterInnen in Chemieunternehmen und AKWs.