Nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme in Osteuropa haben sich weltweit neue Nationalstaaten, zum Teil in blutigen Kriegen, herausgebildet. Und nicht nur in Deutschland ist es zu einer vorher kaum absehbaren Renaissance von Nationalismen, Rassismen und nationalstaatlichen Ambitionen gekommen. Wie kann diesem Trend entgegengewirkt werden? Läßt sich eine Überwindung des weltweiten Systems souveräner Nationalstaaten überhaupt vorstellen? Und welche sozialen Gruppen sollen denn die Nationalstaaten auf ihrem Vormarsch aufhalten? Der Beitrag versucht eine Weiterentwicklung der in unserer Sondernummer "75 Jahre War Resisters' International" aufgeworfenen Diskussion zu den Perspektiven transnationalen Kampfes. (Red.)
Vor dem Hintergrund der Entkolonialisierungsbewegungen und internationaler Diskussionen im Rahmen der War Resisters‘ International nach 1968 hat der britische gewaltfreie Anarchist Nigel Young 1983 im Zusammenhang mit den Selbstverwaltungskonzepten der gandhianischen Bewegung in Indien einen grundlegenden Aufsatz „Transnationalismus und Kommunalismus“ geschrieben. Dieser Aufsatz wurde für das Jahrbuch I für gewaltfreie & libertäre Aktion, Politik und Kultur 1984 übersetzt und Mitte der 80er Jahre auf Bundestreffen der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen diskutiert. Daß in der „Graswurzelrevolution“ Berichte über gewaltfreie Aktionen aus anderen Ländern unter der Rubrik „Transnationales“ stehen, hat in diesen Diskussionen seinen Ursprung. Während der Internationalismus aufgrund des Strukturmodells der klassischen sozialdemokratischen und kommunistischen Internationalen und ihren „nationalen Sektionen“ traditionelle Nationalismen in der Regel nur reproduziert oder gar verstärkt hat, stellt der Transnationalismus ein grundsätzlich anderes Strukturmodell und eine neue Zielvorstellung in den Vordergrund: die Zerstörung/Überwindung und positive Aufhebung der Nationalstaaten. Youngs Transnationalismus-Konzept ist eng mit seiner Kritik an bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen und seiner Befürwortung gewaltfreier Revolution verbunden. Wie ist sein Konzept nach der Renaissance der Nationalstaaten in Osteuropa heute zu bewerten? Wo gab und gibt es Gegentendenzen? Wo finden sich Ansätze zur Verwirklichung? Im Anschluß an eine Erinnerung an die Inhalte des Konzepts soll versucht werden, diesen Fragen auf den Grund zu gehen.
Das Konzept des Transnationalismus
Der Begriff „Transnationalismus“ stellt nach Young „eine Kombination von Bedrohungen für die staatliche Struktur (dar), einerseits auf der Ebene von Gemeinschaft, andererseits über Staatsgrenzen hinweg und außerhalb von ihnen. Durch die Betonung grenzüberschreitender Solidarität überwindet er (der Transnationalismus, d. Verf.) die nationale Einheit und staatliche Struktur. (…) Nationalistische Ideen entwickeln sich sowohl auf Kosten der lokalen als auch der kosmopolitischen Orientierung. (…) Transnationalismus und Kommunalismus, die Kosmopoliten und die lokal Ausgerichteten, verloren in Europa und Indien Boden zugunsten der staatlich Orientierten und der Nationalisten.“ Hier wird gleich deutlich, daß der von Young benutzte Entsprechungsbegriff zum grenzüberschreitenden Transnationalismus, der regional- lokal, kommunitär oder gemeinschaftlich verankerte „Kommunalismus“ positiv besetzt ist und auch diametral anderes meint als der heute aus Indien bekannte Begriff der „communal riots“ (kommunalistische Aufstände, meist religiös-fundamentalistischer Art).
Im Zuge der Entkolonialisierung wurde zwar oftmals die Kolonialmacht aus den Kolonien verdrängt. Das Modell des modernen Nationalstaats, das sich in Europa durchgesetzt hatte, wurde dabei aber gerade übernommen, mit verheerenden Folgen für die kommunalen Gemeinschaften, die nur selten deckungsgleich mit den postkolonialen Territorien waren. Nigel Young meinte nun, daß dieser historische Prozeß der Bildung neuer Nationalstaaten durch die Betonung sowohl transnationaler Solidarität als auch kommunalistischer Orientierung aufgehalten und auch wieder umgekehrt werden kann. Er benannte zunächst weltweit diejenigen sozialen Gruppen, die in ihren praktischen Aktionen, Widerstands- oder Organisationsformen am ehesten den nationalstaatlichen Rahmen überschreiten bzw. deren lebenspraktische Loyalität sich nicht auf einen Nationalstaat festlegen läßt. So hat etwa ein Bauer aus einem „Stammesvolk“ in Kenya nur wenig Bezug zum kenyanischen Nationalstaat. Gleichermaßen hat eine politisch verfolgte Migrantin weder Loyalität ihrem Herkunftsland noch ihrem oft mit repressiven Asylgesetzen auftretenden Exilland gegenüber. Auf diese Weise bestimmte Nigel Young mit aller gebotenen Vorsicht Gruppen, die eine kommunalistische (lokale) oder transnationalistische (grenzüberschreitende) Ausrichtung entwickelt haben oder entwickeln könnten:
- Bauern / Bäuerinnen oder „Stammesvölker“ außerhalb staatlicher Strukturen in der „Dritten Welt“ (dörflich)
- Nomaden und Wandervölker
- ImmigrantInnen, EmigrantInnen
- AnarchistInnen
- Religiöse Sekten und Gruppen außerhalb etablierter Orthodoxien (KetzerInnen)
- Nicht eingegliederte ArbeiterInnen (verstädterte Bauern/Bäuerinnen, WanderarbeiterInnen, isolierte Industriezweige, Projekte von Berufsgruppen usw.)
- PazifistInnen und Kriegsdienstverweigerer (vor allem aus Kommune- oder Kleingruppenzusammenhängen)
- Internationale SozialistInnen (nonkonforme MarxistInnen, SyndikalistInnen und andere)
Die Tendenz dieser Gruppen, Nationalstaaten als etwas Relatives zu betrachten, das normalerweise kaum etwas mit dem eigenen kommunalen Alltagsleben zu tun hat oder – wenn überhaupt – als Bedrohung lokaler Lebensformen auftritt, hat Nigel Young dann mit den transnationalen Orientierungen in Verbindung gebracht, die nach 1968 im Zuge der weltweiten Kriegsdienstverweigerungs-, Antivietnamkriegs- und StudentInnenbewegungen aufgetreten sind:
- bestehende oder entstehende „ethnische“ Minderheiten hatten eine ländliche oder städtische kommunale Basis, aber auch Verbindungen zum Ausland (Beispiel: Native Americans, Chican@s)
- politisierte StudentInnen entwickelten lokale universitäre Subkulturen und gleichzeitig grenzüberschreitende politische Solidarität zu StudentInnenbewegungen in anderen Ländern
- Schwarze („Black is beautiful“ und „Black Power“) bezogen sich auf die lokale/städtische „Black Community“, entwickelten gleichzeitig eine grenzübergreifende Solidarität mit weltweiten Kämpfen gegen Rassismus oder den Kämpfen anderer Schwarzer (z.B. in Südafrika)
- Feministische Bewegungen organisierten sich lokal in Weiberräten, Frauenkommunen oder -projekten und versuchten gleichzeitig, einen transnationalen Feminismus aufzubauen
- Verarmte Weiße organisierten sich in Stadtteilprojekten, Obdachlosen- oder Selbsthilfegruppen und zeigten gleichzeitig in vielen Ländern wenig Interesse am Militärdienst (unbewußte Kriegsdienstverweigerung)
- Jugendliche experimentierten mit verschiedenen subkulturellen Lebensformen in Kommunen oder lokalen Gemeinschaften, und verschafften sich neue Lebenserfahrungen durch den Austausch mit Jugendlichen anderer Länder
Der beständige Kampf um transnationale Orientierungen
Nigel Young erhoffte sich nun, daß nach 1968 eine teilweise bewußte, teilweise unbewußte Zusammenarbeit zwischen den sozialen Gruppen mit transnationalen Orientierungen und den transnational/kommunalistischen Gruppen der Neuen Linken zustande käme. Diese Hoffnung ist bis heute in mancherlei Hinsicht bitter enttäuscht worden: viele frühere Intellektuelle und StudentInnenführerInnen der Neuen Linken haben inzwischen ihren Frieden mit dem Nationalstaat gemacht oder sind gar zu deren VertreterInnen geworden (Cohn-Bendit et al), in der „Dritten Welt“ haben Führer von nationalen Befreiungsbewegungen dazu beigetragen, daß antikolonialer Widerstand zur Verteidigung kommunalistischen Lebensraums gerade zur Bildung neuer Nationalstaaten führte. Aber auch religiös/ethnische Nationalismen ohne Staat, die eine kommunalistische oder grenzenüberschreitende Basis hatten, haben diese nicht zur Relativierung, sondern zur Forderung und Organisierung neuer staatsbezogener Nationalismen genutzt. So hat der fundamentalistische Islamismus zwar grenzübergreifende Mobilisierungsfähigkeiten entwickelt, sie aber nicht in Gegensatz zu islamistischen Staatskonzepten wie etwa im Iran gebracht und ein hohes Maß an terroristischer Gewalt entwickelt. Und es kann auch nicht Sinn eines transnationalistisch/kommunalistischen Ansatzes sein, daß sich Vielvölkerstaaten wie etwa Jugoslawien in miteinander konkurrierende Einzelstaaten von Volksgruppen mit je eigenen Armeen auflösen. Das hat nicht zur Abschaffung von Gewalt, sondern zu deren Potenzierung geführt.
Es ist ein beständiger Kampf bei denjenigen Gruppen auszumachen, die Young als potentiell transnational benannte, wohin sich ihre kommunalistische Basis orientiert. Ist etwa der „schwarze Nationalismus“ oder „schwarze Identität“ nur ein geistiges Band der Solidarität, der Selbstachtung und Bewußtwerdung im Kampf gegen Rassismus, wie es sich ursprünglich im Slogan „Black is beautiful“ ausdrückte, den Martin Luther King aufgegriffen hat, oder orientiert „schwarzer Nationalismus“ auf die „totale Separierung der Rassen“, wie es Malcolm X in seinen schlimmsten Black-Muslim-Reden formulierte? Was sich in diesen Diskussionen durchsetzt, ist höchst entscheidend für die Qualität und das Vertrauen in eine transnational/kommunalistische Emanzipation im Sinne des Konzepts von Nigel Young. Auf der Basis des Verständnisses von Martin Luther King zum Beispiel war eine gleichberechtigte Zusammenarbeit von US-amerikanischen Schwarzen, Native Americans, US-amerikanischen Juden/Jüdinnen, marginalisierten Weißen, antirassistischen Weißen und anderen unterdrückten Minderheiten im Kampf gegen rassistische Segregation und den Vietnamkrieg möglich, die schwarznationalistische Separierung der Black Muslims verhinderte solch transnationale Koalitionen eher.
Aktuelle Tendenzen, die eine transnationale Orientierung stärken könnten
Trübe Aussichten also? Nicht unbedingt. Folgende aktuelle politische Tendenzen könnten eine zukünftige Arbeit von AnarchistInnen in Basisinitiativen, internationalen Vernetzungszusammenhängen, lokalen BürgerInneninitiativen und Menschenrechtsgruppen im Sinne von Nigel Youngs Transnationalismus-Konzept begünstigen:
Erstens ist angesichts fortschreitender Kriege und Menschenrechtsverletzungen in den meisten Staaten der Welt das nach 1945 von der UN sanktionierte Prinzip der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ eines Nationalstaates diskreditiert. Das ist zunächst einmal ein historischer Fortschritt. Viele Staaten sind heute darauf angewiesen, Folter, offensichtliche Ungerechtigkeiten oder Verfolgung entweder offenzulegen, zuzugeben, zu relativieren oder gar zurückzudrängen, um nicht Gefahr zu laufen, ökonomisch Schaden zu nehmen, ob nun durch Boykott von Wirtschaftshilfen oder Konsumboykott (Beispiel Südafrika). Daß immer mehr Menschen in anderen Ländern nationalstaatlich souveräne Menschenrechtsverletzungen nicht mehr akzeptieren, macht Hoffnung. Das Problem ist nur, daß diese Relativierung nationalstaatlicher Souveränität heute nicht kriegsgegnerischer Solidarität oder transnationaler Unterstützung von Menschenrechtsgruppen zugute kommt, sondern – vermittelt über die Medien – den Regierungen der westlichen Industriestaaten. Sie steuern die Aufmerksamkeit und „lösen“ den Souveränitätsverlust anderer Staaten gegebenenfalls mittels interessegeleiteter militärischer Intervention. Auf diese Weise wurde es möglich, daß etwa beim Überfall des Irak auf Kuwait Menschenrechtsverletzungen des Irak die Rechtfertigung zur Intervention gaben, während sie dies beim Krieg der Türkei gegen die KurdInnen keineswegs tun. Die Verteidigung von Menschenrechten, die Eingriffe in die nationale Souveränität, wird auf diese Weise zur ideologischen Verschleierung von althergebrachter Interessenpolitik (Öl- und Rohstoffsicherung beim Kuwaitkrieg) durch die weltweit dominanten Nationalstaaten des Westens. Hier müßten die tatsächlich transnationalen, um unteilbare Menschenrechte weltweit bemühten Gruppen eingreifen und den ideologischen Schleier militaristischer Interventionspolitik lüften. Gleichzeitig hieße dies, den westlichen Nationalstaaten grundsätzlich jede Legitimation und Motivation abzusprechen, tatsächlich im Namen von Menschenrechten – und nicht nationaler oder wirtschaftlicher Interessen – zu agieren.
Zweitens haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten in den Ländern der „Dritten Welt“ ebenso wie in Europa/Nordamerika eine Unmenge unterschiedlichster Minderheiten-, Netzwerk- und Basisinitiativen gegründet. Zum Beispiel ist der Widerstand indigener Bevölkerungsgruppen in vielen Ländern deutlich stärker geworden. So haben in Mexiko sowohl die EZLN als auch graswurzelrevolutionäre Zusammenhänge (z.B. Barrio-Bewegungen in Mexiko-City) ihre Landrechte praktisch eingefordert und regionalistische, gemeinschaftliche Lebensweisen gegen den Nationalstaat durchgesetzt. Üblicherweise werden alle diese teils regionalistischen, teils transnational agierenden Initiativen als sogenannte „Nichtregierungsorganisationen“ (NGOs) bezeichnet. Der Begriff ist jedoch sehr irreführend und umfaßt höchst unterschiedliche Gruppen und Konzepte. Interessanterweise bezeichnen sich gerade diejenigen Gruppen selbst als NGOs, die eine große strukturelle oder inhaltliche Nähe zur staatlichen Politikebene und einen hohen Modernisierungs- und Professionalisierungsgrad aufweisen. Die bekannteste und aber auch umstrittenste dieser Organisationen ist sicherlich Greenpeace, viele weitere ließen sich nennen. Frauengruppen aus aller Welt haben sich in China bei der NGO-Frauenkonferenz dem organisatorischen Rahmen der UN, der Nationalstaatenorganisation also, untergeordnet. Zu den schärfsten KritikerInnen dieser Art von NGOs zählt der mexikanische Graswurzelrevolutionär Gustavo Esteva, der in den Slums von Mexiko- City viele Erfahrungen mit Subsistenzproduktion und Selbstorganisation und der diesbezüglich oft kontraproduktiven Arbeit von professionalisierten NGOs gemacht hat. Er setzt die heutzutage explodierende Zahl von NGOs kritisch in Bezug zum vom Norden verordneten Konzept des „Übergangs zur Demokratie“: „Da demokratische Formen von Herrschaft eine grundlegende Komponente des Kampfes der NGOs waren, neigen diese dazu, in der politischen Realität eine Verfestigung dieser Herrschaftsform zu bewirken.“ (Esteva)
Jenseits dieser professionalisierten Ebene gibt es jedoch eine Vielzahl tatsächlich regierungsunabhängiger Organisationen, in denen ein beständiger Kampf zwischen transnationalen Orientierungen nach Nigel Youngs Konzept und traditionellen Orientierungen auf die nationalstaatliche, parlamentarische Politikebene stattfindet. Aufgabe der Libertären und transnational orientierten Gruppen müßte es hier sein, gerade unter ständiger Miteinbeziehung dieser Kritik, und mit einer klaren Sicht auf die Unterschiedlichkeit von NGOs, die positiven Aspekte des vermehrten Auftretens von Nicht- Regierungs-Organisationen zu nutzen und transnationale Orientierungen in NGOs zu fördern und zu unterstützen. So sehr NGOs Gefahr laufen, Vermittler dessen zu werden, was staatliche Institutionen selbst nicht mehr vermitteln können (ExpertInnentum, Enteignung von Subsistenz- und Selbstverwaltungsfähigkeiten auf der Graswurzelebene), so sehr müssen sie doch darauf achten, daß sie auch wirklich regierungsunabhängig bleiben. Gerade diese Regierungsunabhängigkeit macht letztendlich die Glaubwürdigkeit ihrer Arbeit aus. Dieser Widerspruch wäre immer wieder zu suchen und zu vertiefen.
Drittens schließlich könnte die globale ökonomische Entwicklung zur Stärkung oder sogar Neuherausbildung derjenigen sozialen Gruppen führen, die Nigel Young als prädestiniert für transnationale/kommunalistische Orientierungen bezeichnet hat. Die Globalisierung des Kapitalismus im Anschluß an den Kalten Krieg führt zu deregulierten Arbeitsverhältnissen in den Metropolen ebenso wie zur immer weiteren Einbeziehung billiger Arbeitskräfte in den Peripherien des Kapitalismus (Auftreten der „verstädterten Bauern/Bäuerinnen“). Die unsichere Existenz deregulierter Arbeitsverhältnisse, die militärische Repression infolge von Aufständen und Bürgerkriegen in Europa (Ex-Jugoslawien, Rußland, Armenien/Aserbeidschan) und der „Dritten Welt“ scheint zu einer Zunahme von Migrationsbewegungen zu führen. Diese beinhalten die Gefahren eines Wohlstandsrassismus und einer nationalstaatlichen Abschottungspolitik ebenso wie die Möglichkeit, daß im Zuge der Wanderungsbewegungen immer mehr Menschen ihre nationalstaatlichen Loyalitäten verlieren oder aufgeben müssen. Die Deregulierung von Arbeitsverhältnissen in Europa könnte zudem den Graben zwischen einheimischen ArbeiterInnen und schon lange unter rassistischer Arbeitsteilung leidenden ImmigrantInnen überbrücken. Die Streiks gegen deregulierende Maßnahmen in Frankreich im November/Dezember 1995 haben zum Beispiel gezeigt, daß Kämpfe gegen Deregulierung auch eine neue Solidarität für ArbeitsmigrantInnen miteinschlossen, die bereits seit Jahren unter deregulierten Verhältnissen arbeiteten. Erstmals wurde durch diese Streiks in Frankreich der sozialrassistische Einfluß der rechtsextremen Front National unter Le Pen zurückgedrängt, weil algerische MigrantInnen und französische ArbeiterInnen Seite an Seite gekämpft haben.
Die Chance und die emanzipatorische Zukunft des Transnationalismus-Konzepts kann nur darin liegen, diese drei Tendenzen jeweils wahrzunehmen und die darin möglichen transnationalen Orientierungen zu stärken. Voraussetzung dieser Perspektive ist allerdings ein neuer Mut zur Utopie, ein Glaube an die Möglichkeit revolutionärer Gesellschaftstransformation, und eine Phantasie, die sich überhaupt vorstellen kann, daß das weltweite System souveräner Nationalstaaten sowohl unterwandert als auch überwunden werden kann.
Literatur
Gustavo Esteva: Fiesta - jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik, Frankfurt/M./Wien 1995.
George Lakey/Michael Randle: Gewaltfreie Revolution, Berlin 1988.
Nigel Young: Transnationalismus und Kommunalismus, in: Wege des Ungehorsams, Jahrbuch I für gewaltfreie & libertäre Aktion, Politik & Kultur, Kassel 1984, S.61-74.
Der Internationalismus ist tot! Es lebe der Transnationalismus! Zur Kritik antiimperialistischer und reformistischer Ansätze in der Dritte-Welt-Diskussion, in GWR 96, S.16f.