„Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als habe die deutschsprachige feministische politische Theorie, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, in den vergangenen Jahren die staatstheoretische Debatte übersehen, vergessen, übergangen oder vielleicht gar verschlafen.“ (Barbara Holland-Cunz) So beginnt das Vorwort zu Birgit Seemanns Grundlagenstudie zu feministischer Staatstheorie. Damit ist auch schon der inhaltliche Ausgangspunkt ihrer Arbeit benannt: das Defizit an ausgearbeiteten Strukturanalysen des Verhältnisses von ‚Staat‘ und ‚Geschlecht‘.
Der ‚Geschlechtsblindheit‘ bundesdeutscher Politikwissenschaft steht die ‚Staatsblindheit‘ feministischer Forschung gegenüber. Der staatstheoretische ‚male-stream‘ hält es im allgemeinen nicht für nötig, die Kategorie ‚Geschlecht‘ konzeptionell miteinzubeziehen. Auf feministischer Seite scheint dagegen die Scheu zu bestehen, ausgehend von der Analyse und Politisierung ‚privater‘ Verhältnisse theoretisch auch auf die gesamtgesellschaftliche und staatliche Ebene vorzudringen.
Birgit Seemann wirft Fragestellungen auf, die zur Klärung feministischer Positionen und Strategien nicht länger umgangen werden sollten:
„Welches Beziehungsgefüge besteht zwischen ‚Staat‘ und ‚Geschlecht‘? Inwieweit reproduziert der aus männerdominierten Gesellschaften geformte Staat geschlechtsspezifische Herrschaftsverhältnisse? Wie wirken historisch entwickelte und daher wandelbare Geschlechterbeziehungen auf staatliche Institutionalisierungs- und Transformationsprozesse?“ (zit. nach einem Vorabausdruck)
Für die Vorbereitung möglicher Antworten leistet sie erstmal Grundlagenarbeit und durchforstet das umfangreiche Material der bundesdeutschen Frauen- und Patriarchatsforschung unter dem Kriterium, in welcher Weise der Staat charakterisiert wird. In dieser Bestandsaufnahme findet sie v.a. zwei Extreme: Wird der Staat von der einen Seite funktionalistisch als weitgehend interessenneutrales Instrument betrachtet, das es von einer starken Frauenlobby in Dienst zu nehmen gilt, stempelt ihn die andere Seite dämonisierend zum ‚Gesamtpatriarchen‘. Was es aber im Konkreten heißt, den Staat als patriarchalen Herrschaftsapparat zu identifizieren, müßte eine bisher ausgebliebene dezidierte feministische Institutionenanalyse aufzeigen. Allzu genau hat sich feministische Politologie nicht mit dem Staat befassen wollen und damit zu ihrer eigenen Marginalisierung beigetragen. Beliebter ist es, die Probleme der politisch Machtlosen in den ‚traditionellen Frauenbereichen‘ wie Soziales, Kultur, Erziehung und Bildung, sowie Psychologie zu beschreiben, als sich analytisch mit den politischen Machtzentren, den sogenannten ‚Männerdomänen‘ (z.B. Industrie-, Finanz-, Außen- und Sicherheitspolitik) zuzuwenden.
Birgit Seemanns Literaturdurchsicht erläutert verschiedene Ansätze zum Strukturverhältnis ‚Staat‘ und ‚Geschlecht‘ und weist auf theoretische Defizite hin. So laufen beispielsweise antistaatliche Konzepte, die dezentrale frauenbestimmte Netzwerke und (Selbst-)Versorgungsgemeinschaften propagieren, Gefahr, sich unbeabsichtigt neokonservativen Privatisierungsstrategien v.a. im Sozialbereich anzunähern und darüber hinaus den Zentralstaat zu monolithisch als ‚männlich‘ zu identifizieren, so als ob politische Herrschaftsausübung reine Männersache sei, die Frauen qua Geschlecht fernliege.
Demgegenüber versäumen diejenigen Ansätze v.a. feministischer Sozial- und Rechtsstaatskritik, die den Staat frauenpolitisch in die Pflicht nehmen wollen, genauer zu präzisieren, worin denn eigentlich die vermuteten ungenutzten Handlungsspielräume für Frauen in einem sehr wohl als patriarchal-repressiv gekennzeichneten Apparat bestehen. Die in Aussicht gestellte Feminisierung des Staates widerspricht der Erkenntis, daß staatliche Politik über die Zuweisung von Zuständigkeitsbereichen, ökonomische Verteilungsmechanismen und auch durch die Kontrolle des weiblichen Gebärvermögens fortwährend die gesellschaftliche Geschlechterasymmetrie selbst reproduziert.
Daß der Staat sich aus der Dominanz des Öffentlichen über das Private, des ‚männlichen‘ Prinzips über das ‚weibliche‘, der Vernunft über die Natur legitimierte und auf der strukturellen Unterdrückung der Frau aufbaut, belegen Arbeiten zum staatlichen Gewaltmonopol und Männerbundcharakter des Staates, die Birgit Seemann auch in ihren „Streifzügen“ durch die – männliche – politologische Staatsforschung in der BRD sichtet. Auf der Basis ihrer umfangreichen Bestandsaufnahmen entwickelt die Autorin Forschungsperspektiven, die an der Frage ansetzen, wie Institutionen und Organisationen die ursprünglich von Männern gemachten Regeln, Gesetze und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung schon in ihrer Binnenstruktur im Schein objektiv-rationaler Ordnung umsetzen und immer wieder neu bestätigen. Birgit Seemann fragt weiter, inwieweit hierarchisch vorgeformte Strukturen gleichsam nur vorgeformte Rollen in einer männlichen Inszenierung anbieten, mit denen Frauen sich zu arrangieren haben.
Doch die Autorin lenkt den Blick auf einen unschönen Punkt, der einfachen Freund-Feind-Schemata den Boden entzieht: Geschlechtshierarchie wird ja nicht nur in staatstragenden Institutionen organisiert, sondern verästelt sich auch in den informellen Strukturen einer antiinstitutionellen Szene, in alternativen und linksradikalen Gruppen etc. Staat kann nicht ohne seine Verwurzelung in der patriarchalen Grundstruktur der Gesellschaft betrachtet werden. Nicht genug damit, daß ein solch patriarchal verankerter Staat oppositionelle Frauenbewegungen spaltet, reproduzieren die Frauen mehrheitlich selbst patriarchale Strukturen.
So bedarf es eher einer kulturellen Revolution als formaler Geschlechtergleichheit, denn sonst „wird weibliche ‚Selbstbestimmung‘ womöglich zu einer begrenzten ‚Selbststeuerung‘ nach männlich vorgegebenen Richtlinien deformiert. Trifft diese Hypothese zu, hat ‚Frauenemanzipation‘ innerhalb des ‚Patriarchats‘ nicht subversiven, sondern innovativen Bedeutungsgehalt.“
In Birgit Seemanns Arbeit wird deutlich, daß radikal klingende Schlagworte vom patriarchalen Staat keine theoretisch fundierte Staats- und Gesellschaftsanalyse ersetzen, aus der erst eine fruchtbare feministische Auseinandersetzung über politische Strategien hervorgehen kann. Dabei sollte m.E. nicht vernachlässigt werden, den Sexismus im Zusammenwirken mit anderen Ausgrenzungs- und Unterdrückungsformen zu reflektieren.
Trotz ihres wissenschaftlichen Stils, der einige LeserInnen ermüden oder abschrecken mag, hat Birgit Seemann mit ihrer Arbeit einen Grundstein gelegt, auf dem sich anarchistisch-feministische Positionen überhaupt ernstnehmen und weiterentwickeln können.
Birgit Seemann: Feministische Staatstheorie. Der Staat in der deutschen Frauen- und Patriarchatsforschung. Leske & Budrich, Leverkusen 1996, ca. 250 S., ca. 50 DM.