Ich hab geträumt der Winter wär vorbei du warst hier und wir warn frei und die Morgensonne schien es gab keine Angst und nichts zu verliern es war Friede bei den Menschen und unter den Tiern das war das Paradies (1)
Aus der Traum. Rio Reiser ist tot. Als ich die Nachricht in der Zeitung las, habe ich sie zunächst einfach nur zur Kenntnis genommen. Erst in den Tagen danach wurde mir klar, wieviel mir die Musik und die Texte von Rio Reiser und den „Scherben“ bedeuteten.
Entdeckt habe ich Ton Steine Scherben erst spät, zu Anfang der 80er Jahre, während der Zeit meiner Ausbildung in einem großen Industriebetrieb. Die große Zeit der Scherben war damals schon lange vorbei, und dennoch waren es gerade die Texte der frühen Scherben, die genau meinen Nerv trafen.
Guten Morgen! Wenn ich mich dann aufrapple Guten Morgen! und ab zur Arbeit geh Guten Morgen! und schon aus der Ferne Guten Morgen! meine Firma seh den freundlichen Kasten aus Klinkerstein da sag' ich mir: mannometer wird das wieder fein (2)
Das Gefühl, vom Wecker in aller Frühe aus dem Schlaf gerissen zu werden und sich zu einer Arbeit aufmachen zu müssen, die einem nichts bedeutet – nie habe ich das so gut beschrieben gehört wie bei Ton Steine Scherben. Lieder wie diese, oder auch „Feierabend“, „Wir müssen hier raus, das ist die Hölle…“ trafen eine Stimmung, die für mich zu Anfang der 80er ähnlich gewesen sein muß wie für viele andere zu Beginn der 70er. Sie trafen den Nerv einer in den großen Industriebetrieben um jede Selbstbestimmung betrogenen Jugend, die in diesem Leben keine erstrebenswerte Zukunft entdecken konnte.
Doch die Scherben waren und sind mehr als ein Ventil für den Frust. Mit Liedern wie „Schritt für Schritt ins Paradies“, mehr aber noch mit „Der Traum ist aus“ laden sie auch zum Träumen ein, geben Kraft und Mut für den Kampf um Veränderung. Kein Wunder also, daß die Scherben gerade zu Beginn der 70er Jahre fast schon so etwas wie „die Kult-Band“ der Lehrlings- und Jugendzentrumsbewegung waren. Nicht selten kam es vor, daß nach Konzerten der Scherben leerstehende Häuser besetzt und selbstverwaltete Jugendzentren proklamiert wurden.
Der Traum ist aus der Traum ist aus aber ich werde alles geben daß er Wirklichkeit wird. Der Traum ist ein Traum zu dieser Zeit doch nicht mehr lange mach dich bereit für den Kampf ums Paradies wir haben nichts zu verlieren außer unsrer Angst es ist unsre Zukunft es ist unser Land gib mir deine Liebe gib mir deine Hand. (3)
Auch wenn dieses Lied noch heute für mich so etwas wie eine Hymne ist, eine Hymne an die Utopie, an die gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft (auch wenn die Scherben mit Sicherheit nicht gewaltfrei waren), so lassen sich die Scherben nicht auf ihre frühen Jahre reduzieren (wie es leider so häufig getan wird). Aber mit dem Abflauen der Jugendproteste zur Mitte der 70er Jahre wich auch aus den Texten der Scherben die revolutionäre Ungeduld. Auch wenn sie noch so oft „Keine Macht für Niemand“ und „Macht kaputt was euch kaputt macht!“ sangen, die Revolution stellte sich nicht ein, und resignativ und trotzig sangen die Scherben dagegen an:
Und wir werden diesen Weg zu Ende gehn und ich weiß wir werden die Sonne sehn Wenn die Nacht am tiefsten ist ist der Tag am nächsten (4)
Doch die „Linke“ verflüchtigte sich – auf der einen Seite in die dogmatischen K-Gruppen, die bei ihrer Anbiederung an die „proletarische Masse“ mit dem Undogmatischen der Scherben nichts mehr anfangen konnten, auf der anderen Seite entstand auch etwas neues: alternative Projekte, die Ökologiebewegung, die Frauenbewegung, etc. Auch an den Scherben ging das nicht spurlos vorbei, und sie zogen von der linken „Metropole“ Berlin aufs Land, auf einen Bauernhof nach Fresenhagen, wo sie sozusagen ein alternatives Lebensprojekt bildeten.
Diese anderen Scherben spiegelten eine Veränderung in der „Linken“ wieder, die den Menschen nicht mehr auf den revolutionären Kampf reduzierte und alles andere zum „Nebenwiderspruch“ degradierte. Somit kamen auch persönliche Enttäuschungen, Hoffnungen, Orientierungslosigkeit und Verzweiflung wie selbstverständlich und getreu dem Selbstverständnis, daß eben auch oder gerade das „private“ politisch ist, neben „politischen“ Themen in den Texten der Scherben vor, was ihnen von den alten linken KämpferInnen oft als Entpolitisierung vorgeworfen wurde. Sicher, Parolen ließen sich aus den Texten der „neuen“ Scherben nicht entleihen, dennoch mochte ich gerade auch „diese“ Scherben.
All die Lügen geben dir den Rest Halt dich an deiner Liebe fest Wenn der Novemberwind deine Hoffnung verweht und du bist so müde weil du nicht mehr weist wie's weitergeht wenn dein kaltes Bett dich nicht schlafen läßt Halt dich an deiner Liebe fest (5)
Mit „Der Turm stürzt ein“ zeigen sich die Scherben Jahre später scheinbar optimistischer, wenn auch längst nicht mehr so positiv utopisch wie in „Schritt für Schritt ins Paradies“. Lediglich die Hoffnung auf den Zusammenbruch des „glänzenden doch von Rost zerfressenen“ Kapitalismus wird ausgedrückt, doch nichts tritt an seine Stelle. In anderen Texten kommen dagegen noch viel stärker Melancholie und Selbstzweifel zum Ausdruck:
Warum die menschlichen Schwächen wecken Warum gut und böse im Bett verstecken Warum wurde ich in die Welt gejagt Warum wird mir immer nur das eine gesagt Zukunft ist wichtig Zustand egal Alles ist richtig Alles normal (6)
Und so gehörten die Scherben nie zu den musikalischen VertreterInnen der Friedensbewegung, dazu paßten viel besser die „Bots“ (die heute nienamd mehr kennt) oder andere, die entsprechend dem fehlenden inhaltlichen Tiefgang dieser Bewegung die passende „Friede-Freude-Eierkuchen“-Musik lieferten. Damit konnten die Scherben gerade zu dieser Zeit überhaupt nicht dienen, viel zu nachdenklich waren ihre Texte, viel zu wenig an der Tagespolitik dieser Friedensbewegung ausgerichtet.
Trotzdem spielten die Scherben auch zu dieser Zeit in der Regel für die Sozialen Bewegungen: Konzert für Nicaragua, die Menschenkette der Friedensbewegung von Ulm nach Stuttgart, usw. Gefragt waren hier aber vor allem die „alten“ Scherben. Doch es gab auch noch andere Scherben, weder resignativ noch den „alten“ Parolen verhaftet, und ich weiß nicht wie oft meine diversen WGs das folgende Lied ertragen mußten. Mit „Laß uns’n Wunder sein“ hatten die Scherben auch ein Liebeslied vorgelegt, das nicht vor Kitsch trieft und das Glück der Zweisamkeit besingt, sondern versucht, eine andere Art von Liebe und Beziehung musikalisch und textlich umzusetzen:
Ich will nicht Daß du mir gehörst Mich bedienst oder verehrst Daß du immer an mich denkst Wie'n Schmuckstück an mir hängst Und die Mäuse für mich fängst Mir dein ganzes Leben schenkst Laß uns'n Wunder sein N wunderbares Wunder sein Nicht nur du und ich allein Könnte das nicht schön sein Könnte das nicht wunderbar sein (7)
Nach „Rio I“, der ersten Solo-LP von Rio Reiser, habe ich ihn so langsam aus den Augen (oder besser: den Ohren) verloren, doch deswegen sind Rio’s Musik und Texte für mich nicht weniger wichtig geworden. Und auch wenn zwischen „Der Traum ist aus“ und „König von Deutschland“ Welten liegen, so finden sich selbst auf „Rio I“ Lieder und Texte, in denen deutlich die alten Ton Steine Scherben durchscheinen.
Oh der Mond scheint langsam und golden über den Wolken schaut durch die Bäume auf schlafende Blumen Rehe und Hasen Berge und Täler Wiesen und Wälder Oh es is 'n schönes Land Bei Nacht Bei Nacht - Wenn die Sonne auf der anderen Seite der Erde ihre Strahlen in die Straßen und Hütten von Rio und Sao Paulo senkt Bei Nacht - Wenn die Sonne weit weit weg im Osten in Bombay und Kalkutta und Neu Delhi den Kindern in den Augen brennt Bei Nacht Und nicht mal dann weil die tiefsten Wunden selbst in der Nacht noch grell erleuchtet sind Bei Nacht Und nicht mal dann weil in der Nacht die überwachen Augen zehnmal schärfer sehn Nicht mal dann (8)
Die Zäune von Wackersdorf kamen mir dabei gleich in den Sinn, oder auch andere Großprojekte der Zeit – Volkszählung und neuer Personalausweis. „Bei Nacht“ oder auch „Junimond“, beides eher stillere, melancholischere Texte, die nicht den Bruch zu den „Scherben“ sondern im Gegenteil die Kontinuität beweisen. Rio war zwar nicht mehr der jugendliche Rebell, der glaubhaft „Keine Macht für Niemand“ singen konnte, aber deswegen immer noch politischer und tiefsinniger als alle sogenannten PolitrockerInnen von Grönemeyer bis Wolf Mahn.
Und immer wieder entdecke ich beim Durchhören der alten Platten neue Texte, die für mich in meiner aktuellen Situation von Bedeutung sind, die mich packen und meine derzeitige Stimmung gut wiederspiegeln:
Ich stell mir meine Arbeit vor und früher, in der Schule montags die normalen Köpckes und die mit ihrer Manneskraft Mein Gott, was sind die liberal die lästern so ganz nebenbei mal wieder über die warmen Brüder Ich grins' sie an und sag ganz cool: wißt ihr, ich bin selber schwul (9)
Rio ist tot. Er war für mich zu den verschiedenen Zeiten von ganz unterschiedlicher Bedeutung: als Rebell, Anarchist, selbstbewußter Schwuler (wenn auch das schwule Coming Out in den Texten erst sehr spät auftaucht). Rio ist tot. Der Traum ist aus. Nun ist es an uns: –
aber ich werde alles geben daß er Wirklichkeit wird!
(1) Der Traum ist aus; LP Keine Macht für Niemand, 1972
(2) Guten Morgen; LP Wenn die Nacht am tiefsten..., 1975
(3) Der Traum ist aus
(4) Wenn die Nacht am tiefsten..., gleichnamige LP, 1975
(5) Halt dich an deiner Liebe fest, LP Wenn die Nacht am tiefsten..., 1975
(6) Alles ist richtig; LP Ton Steine Scherben IV, 1981
(7) Laß uns 'n Wunder sein; LP Scherben, 1983
(8) Bei Nacht; LP Rio I, 1986
(9) Raus (aus dem Ghetto); LP Ton Steine Scherben in Berlin, 1984