In Belgien hat die Aufdeckung eines Kindersklaverei-Rings zu einer Massenbewegung gegen juristische und polizeiliche Vertuschung des Geschäfts mit Kinderprositution geführt. Für uns Anlaß, das Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder in den Mittelpunkt zu stellen: Skandal oder Normalität? Und wer sind die Täter? Was ist von der Bewegung in Belgien zu halten? (Red.)
In einem soeben neu erschienenen Buch zu sexueller Ausbeutung und zur sexuellen Gewalt gegen Kinder, üblicherweise beschönigend „sexueller Mißbrauch“ genannt, schreibt die renommierte feministische und antirassistische Wissenschaftlerin Birgit Rommelspacher gleich zum Einstieg:
„Die Diskussion um den sexuellen Mißbrauch hat inzwischen eine wechselvolle Geschichte. Sie liest sich wie eine Reise durch verschiedene Mythen, bei der sich die Wirklichkeit ständig verwandelt. Als Frauen in den 60er und 70er Jahren den sexuellen Mißbrauch zum öffentlichen Thema machten, herrschten noch völlig andere Bilder vor als heute. Es dominierte damals der Mythos vom Triebverbrecher und vom fremden Mann, der hinter dem Busch dem kleinen Mädchen auflauert. (…) Diese Mythen wurden durch die Diskussion der Frauenbewegung entschieden in Frage gestellt. Sexueller Mißbrauch wurde jetzt als ein überall anzutreffendes und vor allem als ein völlig ’normales‘, wenn nicht gar konstitutives Phänomen der patriarchalen Familie verstanden. Durch diese Debatte wurde die Aufmerksamkeit auf das innerfamiliale Geschehen gelenkt.“ (1)
Skandal oder Alltag?
An den jüngsten Diskussionen um den Kinderporno- und Kindermörderring in Belgien und nach dem Mord an der 7jährigen Natalie in der Nähe von Augsburg zeigt sich, daß Rommelspacher die Lage leider viel zu optimistisch einschätzt. Weder hier wie dort wurde aktuell und öffentlichkeitswirksam darauf hingewiesen, daß der typische „Triebtäter“, noch dazu gerade und in jedem Fall zu früh aus dem Gefängnis entsprungen, keineswegs der typische Täter ist. Bei einer vielzitierten kriminalistischen Untersuchung über verurteilte Fälle in den Westländern plus Westberlin in den 80er Jahren (2) ergab sich folgende Täterverteilung bei sexueller Gewalt gegen Kinder:
„6,2 % völlig Fremde, 23,1 % Sprech- oder Sehbekanntschaft, 16,3 % Nachbarn u.ä., 17,8 % Lehrer, Familienbekannter, 11.4 % Verwandtschaft (Onkel, Großvater), 25,4 % Familie (Vater, Stief-, Adoptivvater). Das heißt daß Kinder dort, wo sie sicher und geborgen sein sollten, am meisten gefährdet sind.“ (3)
In Wirklichkeit ist der Anteil der Väter wahrscheinlich noch höher: die Dunkelziffer realer, aber nicht angezeigter oder verurteilter Fälle ist hoch. Schätzungen gehen von bis zu 20 mal sovielen Fällen realer sexueller Gewalt gegen Kinder aus wie diejenigen, die angezeigt werden (geschätzt werden heute bei 16 000 Anzeigen ca. 300 000 Fälle pro Jahr in der Gesamt-BRD). Das Tabu im gesellschaftlichen Nahbereich, das Kinder eigentlich gegen Väterherrschaft und -gewalt schützen sollte, wirkt sich hier zugunsten der Täter aus: Ehefrauen und Verwandte schützen, verdrängen oder entschuldigen aus verzweifelter Abhängigkeit heraus die Täter.
Schon länger ist in der einschlägigen Diskussion klar, daß nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen sexuelle Gewalt erleiden (Schätzungen gehen bis hin zu jedem vierten Mädchen und jedem zwölften Jungen). Neu ist hingegen die übereinstimmende Einschätzung von AktivistInnen, daß bis zu 10 % der TäterInnen Frauen sind (4). Trotzdem bleiben diese gegenüber den 90 % Männern weit in der Minderheit.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder gehört zum Alltag, zur Normalität. Der Fremde, der anormale und „asoziale“ „Triebtäter“ ist die Ausnahme, nicht die Regel. Beim ersten „Weltkongreß gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern“, der in der letzten Augustwoche diesen Jahres in Stockholm stattfand, kritisierten die nichtstaatlichen Hilfsorganisationen einen von 130 Staaten verabschiedeten Aktionsplan, in welchem der „Kindesmißbrauch innerhalb von Familien oder der Mißbrauch von Hausangestellten“ nicht auftaucht. Einigkeit herrschte dort lediglich in der Forderung nach härteren Strafen. Insbesondere wurde die Verfolgung von auch im Ausland begangenen Gewalttaten gefordert, womit Kindersklaverei im Sextourismus getroffen werden soll. (5)
Auch die medienwirksamen Einzelfallskandale in Belgien und Bayern führten zum populistischen Nachplappern der Reden erzürnter Stammtischväter, die „sowas“ als Regelfall in den eigenen vier Wänden vehement abstreiten würden. Allen voran forderten Justizminister Schmidt-Jortzig und die unsägliche Ministerin Nolte höhere Strafen für vorbestrafte „Triebtäter“, Nolte forderte gar lebenslängliche „Sicherungsverwahrung“ und die chemische Kastration (6) – ein Einfall, der sich vom zivilisatorischen Niveau des Handabschlagens für Diebstahl kaum unterscheidet, einmal ganz abgesehen davon, daß sich die Rückfallquote von Sexualstraftätern überhaupt nicht von derjenigen anderer Krimineller unterscheidet. Lediglich der Kinderschutzbund behielt hier überraschenderweise die Nerven und wehrte sich öffentlich gegen eine Verschärfung von Haftstrafen, die sowieso nichts bringe.
Ich selbst bin in den Dörfern um Augsburg aufgewachsen und habe die Dorfgespräche nach der sexuellen Gewalttat gegen Natalie hautnah mitbekommen. Typische Lehre aus dem Fall ist, daß Kinder von den Eltern selbst zum Spielen nicht mehr alleine aus dem Haus gelassen werden sollten – ein Quasi-Einsperren also im gesellschaftlichen Nahbereich, dort wo die meisten Täter lauern! Mit am schlimmsten war bei der Diskussion um den Fall Natalie wieder einmal die Zeitung „Die Woche“, die – ohne die Väter als Täter auch nur zu erwähnen – folgendes Täterprofil des „Mißbrauchers“ publizierte:
„Die meisten (Täter, d.Verf.) aber verfügen nur über eine geringe Intelligenz, oft sind sie geistig zurückgeblieben, stammen aus asozialen Verhältnissen.“ (7)
Die Herrschaftsposition des Familienpatriarchen gegenüber seinen Kindern, das patriarchale Denken, Familienmitglieder als ureigensten „Besitz“ zu betrachten, das um so intensiver ist, je höher das Geschlechtergefälle zwischen Mann und Frau in der Familie ist, und das zum sexualisierten, lustvollen Auskosten und Befriedigen dieser Machtposition quer durch alle Schichten führt, wird in der Diskussion systematisch ausgeblendet.
„Selbst die mediale Aufmerksamkeit, die dem Thema punktuell zuteil wird, sorgt nicht für mehr, sondern für weniger Aufklärung. Denn die Medien interessieren sich in der Regel nur für das Thema ‚Mißbrauch‘, wenn sexuelle Übergriffe bekannt werden, die in ihrer Monströsität die Vorstellungskraft des einzelnen sprengen. (…) Daß dieses Forum kontraproduktiv wirken muß, liegt auf der Hand. Denn wer das Einmalige, Unglaubliche, Ungeheuerliche fokussiert, negiert zugleich die Alltäglichkeit sexuellen Mißbrauchs und die Bedeutung sexuellen Mißbrauchs im Alltag.“ (8)
Warum brennt Belgien und Bayern nicht?
Doch wenn auch eine minderheitliche, so ist der Tätertypus des „Fremden“ bzw. des „Sexualstraftäters“ trotzdem ebenfalls eine Realität und es kann nicht darum gehen, sie gegen die TäterInnen in der Familie oder im gesellschaftlichen Nahbereich auszuspielen. Das würde diese Realität schlicht negieren und wäre damit falsch.
Es ist hier nicht der Platz, auf libertäre Fragestellungen sowohl der Knastkritik, als auch des eventuellen libertären Verständnisses für Forderungen nach Haftstrafen für untherapierbare Sexualverbrecher, so lange es keine wirklichkeitsmächtigen männerpolitischen und libertären Alternativen gibt, als auch nach möglichen alternativen libertären Ansätzen in Richtung zum Beispiel des Konzepts von „sozialer Ächtung“ usw. einzugehen. (9) Mich interessiert aktuell vielmehr, ob die Realität des Skandals, des Außerordentlichen, unter bestimmten libertären Dynamiken nicht doch wieder in produktivem Sinne auf die sexuellen Gewalt im Alltag zurück führen kann. Denn, so Birgit Rommelspacher:
„Die Betonung der Normalität birgt in sich das Paradoxon, einen Skandal anzuprangern und ihn gleichzeitig zu normalisieren. Der Skandal wird Alltag, die Empörung Routine. Der sexuelle Mißbrauch ist normal, indem sich in ihm die Machtverhältnisse unserer Gesellschaft ausdrücken; er ist ein Extremfall, in dem sich die Machtverhältnisse zugespitzt äußern und für ihren Ausdruck der besonderen Problemkonstellation bedürfen. Dies müssen Analysen berücksichtigen. Insofern ist es auch nicht hilfreich, wenn die Extremsituation so in die Normalität hineinprojiziert wird, daß sexueller Mißbrauch zum festen Bestandteil weiblicher Sozialisation deklariert wird.“ (10)
Vor diesem Hintergrund erscheint mir die unterschiedliche Dynamik, die sich in den öffentlich diskutierten Fällen um Natalie und einigen in der Presse danach breitgetretenen Entführungsfällen in der BRD einerseits und dem Kindersklaverei-Skandal Dutroux in Belgien andererseits entwickelt hat, doch äußerst bedenkenswert. Die bayrische CSU- Landesregierung Stoiber hat sich in Stellungnahmen nach dem Fall Natalie sofort hinter die Parolen um härtere Verfolgung von sogenannten „Triebtätern“ gestellt. Typisch für das politische Management des Falles war nicht nur die Negierung der „Väter-Täter“, sondern vor allem die nie bezweifelte Glaubwürdigkeit – die „Sauberkeit“ – der regierungsamtlichen Empörung. Hier tun sich Abgründe auf zur politischen Dynamik, die der Dutroux-Skandal in Belgien entwickelte, und zwar in mehrfacher Hinsicht: zunächst einmal konnte dort der Skandal nicht auf Einzelfälle mit klarer Täteridentifikation reduziert werden. Es wurde schnell aufgedeckt, daß Dutroux zwar genau dem medial propagierten Typus des entlassenen Sträflings, der rückfällig wird, entspricht, daß jedoch sein mutmaßlicher Kompagnon, der Brüsseler Geschäftsmann Michel Nihoul, gute Kontakte in Kreise der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes besaß. Die Nachforschungen hartnäckiger belgischer Eltern, nicht nur der von vier brutal in einem Keller monatelang von Dutroux gefolterten Mädchen, sondern auch der von weiteren 13 in den letzten Jahren spurlos verschwundenen Kindern, brachten einen organisierten Verbrechensring sexueller Ausbeutung und ein Justiz- und Polizeisystem ans Licht, das die Kindersklaverei systematisch gedeckt hat. Was auf dem Stockholmer Kongreß im Sommer noch vorwiegend an den Beispielen von „Drittweltländern“ wie Thailand, Brasilien oder Indien angeprangert worden war, systematische sexuelle Ausbeutung von Kindern, kommt als Problem nun heim nach Europa: Dutroux, der entlassene Sträfling, war durch die Kindesentführungen reich geworden, er befriedigte im Keller nicht nur seine pädophilen Herrschaftsgelüste und vergewaltigte die Kinder, sondern ließ diese Vergewaltigungen gleichzeitig von seiner Frau filmen. Kinderpornoproduktion und Kinderprostitution gingen Hand in Hand. Produkte der Firma Dutroux wurden bis nach Tschechien oder in die Slowakei verkauft. Mit Drogen vollgepumte entführte KindersklavInnen sind vor allem über Nihouls Kontakte, so haben die Aufdeckungen ergeben, auf den sogenannten „rosa Ballettes“ der gehobenen belgischen Gesellschaft angeboten worden, auf denen sich Ärzte, Advokaten, Politiker, Staatsschützer und hohe Justizbeamte vergnügten. Diese Sexorgien sind Anfang der 80er Jahre gerichtskundig geworden, als eine Frau auf mysteriöse Weise umgekommen war, die die Beteiligung von Minderjährigen bezeugen wollte. Heute ist klar, daß sämtliche Ermittlungen über die „ballets roses“ gedeckt wurden: einem Richter, der Einblick in die Akten verlangte, wurde vom damaligen Justizminister das Verfahren entzogen. Die Polizei ist Hinweisen auf die Fälle der entführten Mädchen nur halbherzig nachgegangen. Selbst eine Hausdurchsuchung bei Dutroux war abgebrochen worden, als Dutroux auf Kinderstimmen aus dem Keller hin sagte, das seien seine eigenen Kinder. Am Montag, 14.10.96, war schließlich als letztes Glied in dieser Kette der als engagiert geltende, von der BürgerInnenbewegung bereits als Ausnahme angesehene Ermittlungsrichter Jean-Marc Connerotte vom Fall Dutroux suspendiert worden – eben jener Connerotte, der schon im undurchsichtigen Korruptionsmord am wallonischen Sozialisten Cools 1991 ermitteln wollte und dem auch damals schon die Zuständigkeit entzogen wurde. (11)
Insbesondere im wallonischen Süden Belgiens offenbarte sich am Fall Dutroux das ganze Ausmaß institutioneller Deckung verdächtiger Politiker, der Korruption und des Ämter-Nepotismus. Am 20.10.96 gab es in Brüssel mit 275 000 Menschen die größte Demonstration in der Geschichte Belgiens, tage- und nächtelang harrten Mahnwachen aus Protest vor dem Justizpalast aus, die Suche nach den verschwundenen Kindern erinnert an die Mütter der Verschwundenen von der „Plaza del Mayo“ in Argentinien, ArbeiterInnen aus Industriebetrieben streikten aus Solidarität. Der in diesen Tagen am meisten zitierte Satz hieß: „Ich bin nicht stolz, Belgier zu sein!“ Belgien brennt – wenn auch kein Rauch aufsteigt! So grundsätzlich hat noch kein Skandal das Vertrauen der BürgerInnen in alle staatlichen Institutionen, insbesondere Polizei, Justiz und Parteien, erschüttert. Die wallonische sozialistische Partei ist so erledigt wie zuletzt nur Craxis SP in Italien.
Die Auswirkungen der Proteste auf politischer Ebene sind noch unklar. KommentatorInnen befürchten entweder eine Vertiefung der nationalistischen Separatismen zwischen „Flamen“ und „Wallonen“ (in deren Landesteil der Skandal hauptsächlich verortet ist), oder aber gerade den staatsnationalistischen Ruf nach einem „sauberen Belgien“. Ich für meinen Teil halte den Slogan einer Massenbewegung, „Ich bin nicht stolz, Belgier zu sein!“, für wohltuend anders als die in den letzten Jahren zu oft gehörte Propaganda des „Ich bin stolz, Deutscher zu sein!“ Die grundlegende und, wie es scheint, dauerhafte Entlegitimierung der gesamten politischen Klasse in Belgien ist das bisherige Ergebnis dieser sozialen Bewegung – und das hatten auch die reaktionärsten Stammtischväter Belgiens weder beabsichtigt noch gewollt. Sie wurden von der Dynamik der Aufdeckung der Wahrheit, die immer auch eine libertäre Dynamik ist, überrollt.
Rückbindung des Offengelegten in die Normalität
Warum kann sich in der BRD bis heute niemand eine solch korrupte politische Klasse wie in Belgien vorstellen, nach Flick- und Lambsdorff-Skandal und vielfachen Diätendiskussionen. Wenn selbst in Stockholm moniert wurde, daß die deutschen Botschaftsbeamten in Thailand pädophilen Sextouristen, die mit Kinderprostituierten erwischt wurden, Amtshilfe leisteten und dafür sorgten, daß sie gegen Kaution freikamen und Pässe für die Ausreise ausstellten – warum soll das innerhalb der BRD so unwahrscheinlich sein? Ist Thailand tatsächlich so weit weg? Der Marktumsatz allein der Kinderpornos in der BRD wird derzeit auf rund 400 Millionen DM geschätzt.
„Im Fall Dutroux wurden Hunderte von Videokassetten beschlagnahmt. Marie-France Botte, eine Expertin zum Thema Kinderhandel, schätzt den Preis eines Kindes in solchen Fällen auf ein halbe bis eine Million belgischer Franc (25 000 bis 50 000 Mark). Eine klare Aussage über die Kaufkraft solcher Kunden.“ (12) Und ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die den Mythos veröffentlichen, die Konsumenten und Täter seien dumm, blöde und „asozial“.
Auch wenn manche/r in der belgischen Massenbewegung die Illusion vom „sauberen Staat“ noch hegen mag: der konkrete Staat ist jedenfalls als korrupt diskreditiert, und zwar für lange Zeit. Daß der moderne bürgerliche Staat notwendig korrupt ist, daß Korruption zum politischen Geschäft gehört und daß es den sauberen Staat, die ordungsgemäß, klassenneutral und geschlechtsspezifische sowie nationalistische Privilegien negierende Polizei oder Justiz nicht gibt und auch nie geben wird – diese Erkenntnis wird erst dann zur weit verbreiteten Einsicht, wenn der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach dem sauberen Staat und der immer wieder elebten Enttäuschung aufgrund der korrupten Realität so groß wird, daß er nicht mehr gekittet werden kann. Dann – und nur dann – könnten sich auch immer mehr Menschen überlegen: wollen wir uns nicht Gedanken über eine anders verfaßte Gesellschaft machen, muß es eine staatlich verfaßte sein, gibt es nicht auch Alternativen?
Das ist eine libertäre Hoffnung, gewiß, doch das belgische Beispiel zeigt schon, daß sich diese libertäre Dynamik durchaus rückbinden läßt an Analysen antisexistischer Normalitätskritik. Das offensichtlich tiefsitzende Mißtrauen in die Unfähigkeit der Polizei, für den Schutz der Kinder zu sorgen, hat bereits jetzt in Belgien zu einer erhöhten Aufmerksamkeit von NachbarInnen und von Nicht-Verwandten geführt, wenn im Haus nebenan ein Kind schreit oder Verdächtiges geschieht. Dieses Phänomen ist sicher mindestens ambivalent – neben Motiven einer Überwachungsmentalität spiegelt sich darin aber auch das Bewußtsein, daß in der nachbarschaftlichen und familiären Idylle die Gewalt an Kindern zuhause sein kann. In gewisser Weise sind die Selbstrecherchen der belgischen BürgerInnen auch eine Alternative zur unfähigen oder unwilligen Polizei, so wie etwa auch der in Ansätzen praktizierte Schutz von Asylwohnheimen durch antirassistische Notruftelefone in den letzten Jahren in der BRD eine Alternative für die zum wirksamen Schutz vor Nazi-Überfällen unfähigen oder unwilligen Polizei aufbauen sollte. Außerdem hat in Belgien durch den Fall Dutroux und die dabei beobachtbare Verkettung von pädophiler Gewalt, Kinderpornos, Kinderprostitution, Vergewaltigung und Mord ein Bewußtsein davon gegriffen, daß es ganz normale Männer, Väter, sind, die sich solche Pornos kaufen, und daß sie keineswegs nur aus sozialen Problemschichten, gescheiterten Existenzen kommen, sondern daß die Produkte der modernen Kindersklaverei quer durch alle Schichten konsumiert werden, auch von dem bürgerlichen Familienvater von nebenan. Wenn dieser Rückschluß auf die gesellschaftliche Normalität, ohne deren patriarchale Herrschafts- und „Bedürfnis“-Konstellation eine Finanzierung des großangelegten Geschäfts mit sexueller Gewalt gegen Kinder nie möglich wäre, stattfindet, ist die Dynamik solcher Bewegungen wie in Belgien vielleicht doch eher progressiv als regressiv.
(1) Birgit Rommelspacher: Kontroverse Diskurse. Der sexuelle Mißbrauch und seine Ideologisierungen, in: Hentschel, Gitti (Hg.): Skandal und Alltag. Sexueller Mißbrauch und Gegenstrategien, Orlanda Frauenverlag, Berlin 1996, S.17.
((2) In der DDR gab es 1989 1 100 Straftatbestände gegenüber 10 100 in der BRD - die Aussagekraft dieser Zahlen ist umstritten, die geringe Zahl in der DDR kann auch auf geringeres Problembewußtsein zurückzuführen sein, vgl. dazu Ulrike Diedrich: Sexueller Mißbrauch in der DDR. Verdrängung eines Themas und die Folgen, in: Hentschel, a.a.O., S.53ff.
(3) Birgit Laudan: Sexueller Mißbrauch, Entwicklung und Arbeit des Selbsthilfeprojektes "Wildwasser", in: AK Sexuelle Gewalt beim Komitee für Grundrechte und Demokratie: Gewaltverhältnisse, Sensbachtal 1987, S.32.
(4) Barbara Kavemann: Täterinnen. Frauen, die Mädchen und Jungen sexuell mißbrauchen, in Hentschel, a.a.O., S.246ff.
(5) Dissenz in Stockholm. Hilfsorganisationen kritisieren den Aktionsplan gegen sexuelle Ausbeutung, taz 30.8., S.8. und 27.8., S.3.
(6) Claudia Nolte: "Die Kinder sind wichtiger", in Die Woche, 4.10.96, S.32. Die Woche führte gleich schon mal eine Umfrage durch, was denn so von chemischer Kastration zu halten wäre.
(7) Verstehen, nicht verzeihen, Zur Sache, in Die Woche, 4.10., S.32.
(8) Sabine Kirchhoff: Aufklärung wider die Erregung: Fiktionen und Fakten am Beispiel der Justiz, in Hentschel, a.a.O., S.312f.
(9) vgl. dazu den Aufsatz über Soziale Ächtung im Graswurzelkalender 1988, als Kopie bestellbar über GWR-Süd, Schillerstr. 28, 69115 HD.
(10) Rommelspacher: Kontroverse Diskurse, a.a.O., S.24.
(11) alle Angaben zum Fall Dutroux aus Spiegel-Ausgaben Nrn. 37/38/43/1996
(12) zit. nach: Wo die Linke nicht weiß, was die Rechte wäscht, in Le Monde diplomatique Okt. 96, S.3.