Wieder einmal sind Sektkorken durch die Luft geflogen. Am 23.10.96 war der neuerliche kleine Erfolg der Castor- GegnerInnen amtlich: der für Anfang November vorgesehene dritte Castor-Atomtransport nach Gorleben wird durch eine Einigung zwischen Niedersachsens Innenminister Glogowski und der Gesellschaft für Nuklearservice (GNS) vorläufig verschoben – wahrscheinlich auf Frühjahr nächsten Jahres und dann vielleicht mit einer Bündelung von sechs Behältern.
Am nächsten Tag begann bereits der Druck vom Bundesministerium Merkels, den Transport nicht beliebig zu verschieben, doch am Platzen des November-Termins war nicht mehr zu rütteln. Die Begründung des niedersächsischen Innenministeriums war eindeutig: man/frau sei „zu dem Ergebnis gekommen, daß der polizeiliche Schutz für einen solchen Transport in diesem Jahr nicht mehr gewährleistet werden“ könne. Kurz: der notwendige Polizeieinsatz ist zu aufwendig und zu teuer.
Obwohl sich die KommentatorInnen in der bürgerlichen Presse eifrigst bemühten, in der Verschiebung mehr ein Faustpfand Niedersachsens für die nächste Runde der Verhandlungen um den Energiekonsens zu sehen und allgemein Verständnis für den Unwillen Niedersachsens geheuchelt wurde, alleinig auf dem Atommüll sitzen zu bleiben, muß doch klar gesagt werden, daß diese Verschiebung fast vollständig auf den anhaltenden Castor-Widerstand und die hohen Kosten zurückzuführen ist, die die beiden ersten Transporte mit sich brachten. Woche für Woche haben in den letzten Monaten irgendwo in der BRD direkte Aktionen oder Demos gegen Castor stattgefunden, die BI Lüchow-Dannenberg hat das NIX HOCH 3- Widerstandskonzept erarbeitet, seit dem 15. September finden im Rahmen der gewaltfreien Kampagne „Keine Bahn zum Castorkran“ jeden Sonntag Aktionen zivilen Ungehorsams am letzten Schienenstück zum Verladekran in Dannenberg statt (vom Betreten der Gleise, Entfernen des Schotters, Herausschrauben der Bolzen bis zum Zersägen der Schienen), ebenfalls seit September wurde durch Selbstverpflichtungen für „X-tausendmal quer“ versucht, die Zahl der am Transporttag Aktiven zu erhöhen und besser zu organisieren.
Alle AktivistInnen und alle im Vorfeld dieses geplanten dritten Transportes durchgeführten Aktionsformen, auch die Wurfankeraktionen, haben ihren Anteil am Erfolg. Ungetrübt ist die Freude auch deshalb, weil nahezu bei allen Aktionen und allen auch diesmal nicht unterbliebenen Kontroversen um die Aktionsformen Gewalt gegen Menschen ausgeschlossen blieb. Dabei hatte die staatliche Diffamierungskampagne gerade – wie üblich – wieder begonnen, in der Bewegung Angst vor harter Repression zu verbreiten und bei einem eventuellen Transport den praktischen Widerstand mit sattsam bekannten Taktiken in die militante Ecke zu schieben und ihn somit diskreditieren zu wollen. Zu dieser Strategie gehörte insbesondere die Verlautbarung der Bundesanwaltschaft nach den 13 koordinierten Wurfankeraktionen und dem bei AP und ddp Magdeburg eingegangenen „Kommuniqué autonomer Gruppen“ vom 7./8.10., es bestehe bei den Ermittlungen ein „Anfangsverdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“.
Solchen Versuchen der Kriminalisierung und der Diskreditierung, die als Voraustaktik polizeilicher Repression für die ganze Bewegung relevant ist, muß von allen Spektren der Bewegung einmütig entgegengetreten werden. In solchen Fällen weisen wir üblicherweise öffentlich darauf hin, daß Sabotage oder Sachbeschädigung gerade keine Gewalt gegen Menschen ist, daß sie gewaltfrei begründet werden kann und sollte, und daß sogar bei den Bauanleitungen für Wurfanker „Von Haus zu Haus – Atommüllzüge voraus“ explizit als Ziele der Aktion angegeben wird, „wie immer ohne Menschenleben zu gefährden und mit wenig Aufwand und Risiko viel an(zu)richten.“ In diesem Sinne befürworte auch ich solche Aktionen, denn sicher sind hohe Kosten für die Bahn ein Faktor, der vielleicht einmal auch die Bahn AG zum Einlenken bewegen wird.
Nicht übersehen werden darf aber, daß der jetzige Transport nicht auf Drängen der Bahn, sondern von der Landesregierung aufgrund des hohen Aufwands an Polizeikosten und aufgrund der erwarteten massenhaften Beteiligung am Widerstand entlang der ganzen Strecke verschoben werden mußte. Wenn sich viele Menschen an Widerstandsaktionen beteiligen, werden nicht nur die Polizeikosten exorbitant, sondern steigt auch die Legitimation des Widerstands. Beides, der materielle wie der politische Preis ist wichtig. Insofern hat Wolfgang Ehmke, der Sprecher der BI, recht, wenn er sagt: „Wenn jemand glaubt, mit Bahnanschlägen einen Atomtransport aufzuhalten, so ist das naiv.“ (aaa 71/2, S.76)
Nicht übersehen werden darf auch, daß es Teil der staatlichen und medialen Diffamierungswelle ist, die Wurfankeraktionen als Gewaltaktionen darzustellen. Was läge also näher, als besonders bei diesen Aktionen auf die Nichtgefährdung von Menschen zu achten und auch in den Begründungen diese staatliche Taktik zu unterlaufen.
Praktisch machten die autonomen Gruppen vom 8./9. Oktober und auch die Gruppen, deren Wurfankeraktionen vom 23.10. zur veröffentlichten angeblichen Verletzung eines Lokführers führten, genau das Gegenteil dessen, was notwendig wäre. Anstatt bei der Begründung der Aktionen im Kommuniqué deren Gewaltfreiheit hervorzuheben, wurden die Aktionen gerade benutzt, um mehr Militanz im Widerstand zu fordern. Der Anti-Atom- Bewegung wurde vorgeworfen, nur auf die Atommafia zu „reagieren“, die Bahn wurde als „Achillesferse der Atommafia“ ausgemacht und zu einer Aktionskampagne gegen die Bahn aufgerufen (nach Junge Welt, 9.10.). Und auch die Verletzung des Lokführers bei Hamburg am 23.10. wäre den DiffamierungsstrategInnen des Staates gerade recht gekommen, wenn der Transport nicht schon abgesagt worden wäre. Wenn auch die Schwere der Verletzungen durch Glassplitter der durch die herabhängende Oberleitung zerstörten Frontscheibe des Zuges zweckpolitisch übertrieben zu sein scheinen, so kamen mir die in der bürgerlichen Presse veröffentlichten Fotos von der zerstörten Scheibe gleichwohl nicht gestellt vor. Die Gefahr für den in diesem Fall wirklich am Atomtransport unschuldigen Lokführer war real: entgegen der Anleitung, in der steht, die Sicherheit des Lokführers sei dadurch gewährleistet, „daß der Haken erst hinter ihm am Stromabnehmer einhakt“, ist die Wurfankeraktion für Menschen doch wohl gefährlicher als bisher angenommen. Jedenfalls sollte sie nicht ohne sorgfältigste Vorbereitung und mit dem unbedingten Willen, Menschen nicht zu gefährden, durchgeführt werden. Die AktivistInnen vom 23.10. müssen sich fragen lassen, ob das bei ihnen der Fall war.
Es sollte vielleicht berücksichtigt werden, daß gut koordinierte Notbremseaktionen, wie sie gewaltfreie Aktionsgruppen im Vorfeld der ersten beiden Transporte mehrfach praktizierten, einen ähnlichen verkehrschaotisierenden Effekt wie Wurfanker haben und der Bahn ebenfalls erheblich schaden können. Meine Kritik richtet sich jedoch nicht grundsätzlich gegen Wurfankeraktionen, vielmehr gegen die konkrete Begründung dieser Aktionen. Die Anti-AKW-Bewegung über diese Aktionen kritisieren und militarisieren zu wollen – von Radikalisierung mag ich hier nicht sprechen -, kann zum Bumerang werden: die im Kommuniqué ausgemachte „Achillesferse“ Bahn hatte die Bewegung schon vor Jahren entdeckt, und der Widerstand gegen Atomtransporte war keineswegs nur „reaktiv“, sondern ein Ansatz an der „Achillesferse“ der ganzen Atomindustrie, deren Gefährlichkeit und Offensivkraft die Atommafia lange nicht gesehen hat, als in Neckarwestheim 1988/89 die jüngere Welle von Aktionen gegen Atomtransporte begann. Damals titelten wir im Januar 1989: „Das Jahr der Transporte“ – der anfangs von gewaltfreien Aktionsgruppen initiierte Widerstand gegen Transporte hat sich heute zu einem zentralen Ansatzpunkt des AKW-Widerstands entwickelt. Jetzt von Seiten einiger autonomer Gruppen auf den fahrenden Zug der Bewegung aufzuspringen und sie belehren zu wollen, ist arrogant.
So gesehen ist es auch nicht mehr ganz so lustig, sondern eher bezeichnend, wenn bei der Auswertung des zweiten Castor- Transports in anti-atom-aktuell 71/2, S.75f. ein „Beitrag zur Militanz-Debatte“ mit „Die Besser Wisser Innen“ unterzeichnet war und dort die BI und insbesondere Wolfgang Ehmke aufgrund des oben zitierten Satzes angegriffen wurden:
„Daß die BI ihre Tätigkeit gewaltfrei definiert, ist allen wohlbekannt. Es ist aber nicht nötig, daß sie alle anderen Aktionsformen kommentiert oder bewertet. Erst recht keine Distanzierung. (Die BI hatte erklärt, wer bei Sabotageaktionen Menschen in Gefahr bringe, gehöre nicht zum Widerstand, d. Verf.). (…) Von dieser Standortbestimmung leitet sie das Recht ab, zu bestimmen, wie der Widerstand auszusehen hat und wie nicht. Es muß allerdings zur Kenntnis genommen werden, daß es einen Teil der Bewegung gibt, in dem Leute die Erfahrungsprozesse bereits einige Male hinter sich haben, wie ihn hier zur Zeit viele Leute gerade durchmachen.“ (S.76)
So hätten es „Die Besser Wisser Innen“ gern: Gewaltfreie als AnfängerInnen, die noch keine „Erfahrungsprozesse“ durchgemacht haben, wonach anscheinend mit Sicherheit Militanz befürwortet werde. Besonders amüsiert hat mich bei den „Besser Wisser Innen“ die Tatsache, daß sie ganz bestimmt noch nicht soviel „Erfahrungsprozesse“ hinter sich haben wie der von ihnen angegriffene Wolfgang Ehmke, der nämlich einer der ältesten AktivistInnen der Anti-AKW-Bewegung überhaupt ist und ursprünglich expliziter Befürworter von Militanz und Gegner gewaltfreier Aktion war. Daß gerade er aufgrund seiner praktisch gemachten, langjährigen Erfahrung in den letzten Jahren in Stellungnahmen immer mehr zur Militanzkritik und einer Neueinschätzung der Qualität gewaltfreier Aktionsformen gelangte, daß gerade er in jüngster Zeit auch vor harter Kritik menschengefährdener Aktionen nicht mehr zurückschreckte, setzt der Ahnungslosigkeit der „BesserwisserInnen“ noch die Krone auf.