Bereits von Mai bis Juli fand ein sogenanntes "Todesfasten" von ca. 300 politischen Gefangenen verschiedener linker Gruppierungen statt, das mit dem Tod von 12 Hungerstreikenden und einer Vereinbarung mit dem türkischen Staat endete. Die "erhungerte" Vereinbarung wird allerdings nicht eingehalten. Am 28. September, nach der Ermordung von 10 Gefangenen im Gefängnis von Diyarbakir, traten erneut 11 000 Gefangene - überwiegend aus den Reihen der PKK - in den Hungerstreik. Dieser Hungerstreik endere am 9. Oktober, wobei unklar ist, ob es konkrete Ergebnisse gab. (Red.)
Kein Zweifel, die Verhältnisse in den Gefängnissen in der Türkei sind untragbar. Auch wenn es aus anarchistischer Sicht keinen „humanen“ Strafvollzug geben kann und somit Gefängnisse an sich abzuschaffen sind, so hilft diese eher langfristige Perspektive den derzeitigen Gefangenen wenig. Anstrengungen, die Haftbedingungen erträglicher zu gestalten, sind daher durchaus notwendig und sollten auch von gewaltfreien AnarchistInnen unterstützt werden. Es geht also nicht darum, die Berechtigung und die Notwendigkeit der Kämpfe der Gefangenen in den türkischen Gefängnissen in Frage zu stellen.
Dennoch können und müssen die hinter den Hungerstreiks stehenden politischen Konzepte kritisch hinterfragt werden. Diese Konzepte kommen nur wenig in den konkreten Forderungen der Hungerstreikenden zum Ausdruck, wohl aber in ihrer Rhetorik und den Begründungen ihres Kampfes – oder der Einschätzung der Ergebnisse.
Die Forderungen
Das „Todesfasten“ war im wesentlichen mit drei Forderungen verbunden: Schließung des Isolationsgefängnisses Eskisehir, von den Gefangenen als „der Sarg“ bezeichnet; sofortige Beendigung der Mißhandlung von Gefangenen bei Transporten und der Angehörigen bei Besuchen; Inhaftierung der Gefangenen zusammen in der Nähe des Gerichtsortes, um eine gemeinsame Vorbereitung auf das Verfahren zu ermöglichen. Diese Forderungen basieren auf den Mindestanforderungen für einen den Menschenrechten entsprechendem Strafvollzug, stellen also eigentlich Selbstverständlichkeiten dar.
Die Forderungen im „Hungerstreik der 11 000“ gingen teilweise weiter: zu den obigen Forderungen kamen vor allem solche hinzu, die eine unabhängige Untersuchung der Ereignisse im Gefängnis Diyarbarkýr betrafen sowie eine ungehinderte Kommunikation und Besuche unter den Gefangenen. (1)
Ich will mich nicht in den Einzelheiten der Forderungen verlieren. Über einige ließe sich – ausgehend von einem bürgerlichen Menschenrechtsverständnis oder den entsprechenden UN-Konventionen – sicherlich streiten, doch darum geht es hier nicht.
Das „Todesfasten“ endete am 27. Juli, nachdem 12 Hungerstreikende an den Folgen des Hungerstreiks gestorben waren, zahlreiche weitere werden bis an ihr Lebensende unter den Gesundheitsschäden des Streiks zu leiden haben. Zwar endete der Hungerstreik mit der formalen Erfüllung der Forderungen der Gefangenen durch die Regierung, tatsächlich hat sich jedoch nichts geändert (vgl. GWR 211). Kann vor diesem Hintergrund der Hungerstreik als erfolgreich angesehen werden?
„Die Ehre ist auf unserer Seite“
Von den Gefangenen selbst wird er jedenfalls als Erfolg gewertet. Bei einem Gespräch, das ich in Izmir mit Ercan Demir, Vorsitzender des Menschenrechtsvereins (IHD) Izmir, führte, erklärte dieser: „Nach dem Beginn des Hungerstreiks gerieten die konkreten Forderungen der Gefangenen schnell in den Hintergrund und der Kampf verwandelte sich in einen Kampf um die Ehre. (…) Die Gefangenen haben durch den Hungerstreik ihre Ehre zurückgewonnen. Sie haben der Öffentlichkeit gezeigt, daß sie keine Terroristen sind, sondern daß sie eine revolutionäre Ehre besitzen. Sie wußten, daß sich trotz der Vereinbarungen mit der Regierung, in denen sie die Erfüllung der Forderungen zusicherte, nichts ändern würde. Doch als sie dennoch den Vereinbarungen zustimmten, war die Ehre auf ihrer Seite.“ (2)
Die 12 Toten, „gefallen“ also für die „revolutionäre Ehre“? Ich halte diese Bewertung für fragwürdig, sie unterscheidet sich in nichts von Konzepten einer „nationalen Ehre“ oder was auch immer. Zwischen dem „ehrenhaften Tod auf dem Schlachtfeld“ und dem „ehrenhaften Tod“ im Hungerstreik besteht prinzipiell kein inhaltlicher Unterschied.
Der dahinterstehende Begriff von „Ehre“ ist grundsätzlich zu hinterfragen. „Ehre“ ist letztendlich ein patriarchal- männliches Konzept, dem auch im „revolutionären Kampf“ kein emanzipatorischer Inhalt untergeschoben werden kann. Das Konzept der „Ehre“ führt gerade dazu, Auseinandersetzungen zu einem „Alles oder Nichts“ zuzuspitzen, bei dem es dann nicht mehr um die Inhalte geht, sondern nur noch darum, den Anderen als „unehrenhaft“ erscheinen zu lassen und selbst das „Gesicht zu wahren“, die eigene „Ehre“ zu verteidigen.
Ein auf dem Begriff der „Ehre“ beruhender Kampf – auch wenn es um berechtigte Forderungen geht – ist somit tendenziell anti-emanzipatorisch. Er stärkt patriarchal-männliche Rollenzuschreibungen und fördert Hierarchien und Zwang unter den am Kampf beteiligten – denn wer sich aus welchen Gründen auch immer nicht am Hungerstreik beteiligt, ist „ehrlos“ und muß damit rechnen, von seinen/ihren KampfgenossInnen nicht mehr respektiert, ausgeschlossen zu werden.
Kritische Unterstützung
Eine Unterstützung der Gefangenen kann daher nicht vorbehaltlos erfolgen. Eine Instrumentalisierung für die weitergehenden politischen Konzepte ist unbedingt zu vermeiden. Notwendig ist aus meiner Sicht eine Positionsfindung, die zum einen die Auseinandersetzung mit den Gefangenen über die hinter ihrem Kampf stehenden Konzepte nicht scheut, die unbedingt notwendige Kritik auch artikuliert. Auf der anderen Seite müssen die praktischen Forderungen der Gefangenen sehr deutlich unterstützt werden. Es geht um eine kritische Solidarität auf menschenrechtlicher Grundlage.
vgl. auch den Artikel Samstagsmütter: Der Schrei der Verschwundenen in dieser Ausgabe