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Freiheit für Ossi!

Türkischer Kriegsdienstverweigerer im Militärgefängnis im Hungerstreik / Prozeß am 19. November

| Andreas Speck

Am 7. Oktober wurde der türkische Kriegsdienstverweigerer und Vorsitzende des Izmir Savas Karsitlari Dernegi (Vereins der KriegsgegnerInnen Izmir), Osman Murat Ülke ('Ossi'), in Izmir verhaftet. Derzeit befindet er sich im Mamak Militärgefängnis in Ankara in einer Einzelzelle im Hungerstreik. Damit spitzt sich die Auseinandersetzung zwischen den türkischen AntimilitaristInnen und dem Staat zu. (Red.)

Verhaftet wurde Ossi wegen Artikel 155 des türkischen Strafgesetzbuches, der die ‚Distanzierung des Volkes vom Militär‘ unter Strafe stellt. Anlaß dafür ist seine öffentliche Wehrpaßverbrennung vom 1. September des letzten Jahres. Nach der Verhaftung wurde Ossi zunächst im Zivilgefängnis in Izmir festgehalten, in der Abteilung für ’normale‘ Gefangene, Mit einem Hungerstreik forderte er seine Verlegung in die Abteilung der politischen Gefangenen. Am 10. Oktober wurde er schließlich nach Ankara verlegt und dort zunächt in der politischen Abteilung des Zivilgefängnisses inhaftiert.

Am Montag, den 14. Oktober, wurde er dem Staatsanwalt des Militärgerichts beim Großen Generalstab vorgeführt. Dieser hatte bereits am 5. September 1995 (!) den Haftbefehl ausstellen lassen, der aber angeblich erst am 1. Oktober 1996 (!) – nach mehr als einem Jahr – bei der Polizei in Izmir eintraf. Nach der Vernehmung wurde Ossi ins Mamak Militärgefängnis verlegt, da für Straftaten gegen den Artikel 155 die Militärjustiz und damit auch das Militärgefängnis zuständig ist.

Die Inhaftierung in einem Militärgefängnis bedeutet automatisch, daß man für diese Zeit Soldat ist – auch als Zivilist – und damit den militärischen Regelungen unterworfen. Ossi weigerte sich jedoch, die Gefängnisuniform zu tragen und den militärischen Regelungen Folge zu leisten. Ergebnis: Am 15. Oktober wurde er für zunächst 5 Tage in einer Dunkelzelle von 1 x 2 Metern Größe, ohne Bett und Toilette, dafür aber verdreckt und mit Mäusen verseucht, inhaftiert.

Ossi trat am 15. Oktober erneut in den Hungerstreik. Seine Forderungen: Keine Uniform, keine Befolgung militärischer Regelungen, Inhaftierungen zusammen mit den anderen Gefangenen. Auch wenn die Haft in der Dunkelzelle am 21. Oktober zunächst endete und Ossi in eine Einzelzelle (mit Licht, Bett und Toilette) verlegt wurde, so geht sein Hungerstreik derzeit weiter, bis alle Forderungen erfüllt sind.

Die Vorgeschichte: 17. Mai 1994

Am 17. Mai 1994 führte der Istanbuler Verein der KriegsgegnerInnen eine Pressekonferenz gegen die Wehrpflicht durch. Auf dieser Pressekonferenz berichteten drei deutsche Teilnehmer über die rechtlichen Regelungen zur Kriegsdienstverweigerung in anderen europäischen Staaten. Anschließend erklärten zwei türkische Teilnehmer öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung, und es wurde eine Petition mit über hundert Unterschriften für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung verlesen. Nach der Pressekonferenz wurden die drei deutschen und die vier türkischen Teilnehmer, unter ihnen auch Ossi, verhaftet. Die Deutschen wurden nach einer Nacht auf der Polizeistation freigelassen, konnten aber erst nach einem Gerichtstermin am 6. Juni ausreisen.

Der Istanbuler Verein der KriegsgegnerInnen wurde als Folge der Pressekonferenz verboten, und die vier türkischen Antimilitaristen wegen Artikel 155 des türkischen Strafgesetzbuches (TCK) (‚Distanzierung des Volkes vom Militär) vor dem Militärgericht beim Großen Generalstab in Ankara angeklagt. Drei der Angeklagten wurden nach etwa drei Wochen aus der Haft entlassen, Arif Hikmet Iyidogan, Vorsitzender des verbotenen Istanbuler Vereins der KriegsgegnerInnen, befand sich allerdings für fast drei Monate im Mamak Militärgefängnis in Ankara, wurde dann aber auch entlassen.

Das Verfahren in Ankara zog sich mehr als ein Jahr hin. Am 29. August erfolgte schließlich die Urteilsverkündung: Haftstrafen zwischen 2 und 6 Monaten für die anderen 3 Angeklagten, Freispruch für Ossi, da er nur als Übersetzer an der Pressekonferenz teilgenommen hatte.

Damit war die Sache jedoch nicht zu Ende. Vor der Urteilsverkündung frage der Richter Mehmet Sefa Fersal und Ossi, ob sie ihren Militärdienst abgeleistet hätten. Beide verneinten diese Frage. Mehmet Sefa Fersal setzte sich in der Prozeßpause vor der Urteilsverkündung ab und wurde einen Tag später in Eskisehir auf dem Weg nach Istanbul verhaftet und ins Militärgefängnis nach Ankara gebracht.

Ossi wurde direkt vom Gericht aus zum Rekrutierungsbüro im Bezirk Cankaya gebracht und dort als Rekrut registriert. Aufgrund der Bemühungen seiner Anwältinnen konnte er aber noch einmal nach Hause fahren – mit dem Einberufungsbefehl für den 31. August 1995 in der Tasche.

1. September 1995: Die erste Wehrpaßverbrennung der Türkei

Ossi erschien nie bei ’seiner‘ Einheit, dem 9. Feldjägerausbildungsregiment in Bilecik (Provinz Bursa). Stattdessen verbrannte er am 1. September – dem Antikriegstag – im Rahmen einer Pressekonferenz öffentlich seinen Wehrpaß (vgl. GWR 201) und erklärte dazu: „Laut den Papieren, die mir vom Rekrutierungsbüro gegeben wurden, soll ich ab sofort Soldat sein und mich am 31. August – also gestern – … gemeldet haben. Wie sie sehen, habe ich mich nicht gemeldet und bin hier. Auch wenn ich kein Wehrflüchtiger bin, sehe ich keinen Sinn darin, mich von mir aus in der Kaserne zu melden. Im Gegenteil: Ich werde jetzt hier vor ihren Augen den Wehrpaß verbrennen, den ich nicht als den meinen ansehen kann. (…)

Ich bin kein Soldat und werde keiner werden. Natürlich bin ich mir im klaren darüber, daß ich festgenommen werde. Bis es jedoch soweit kommt – solange es eben dauern mag – wird sich an meiner Lebensweise nichts ändern. … Doch ich unterstreiche noch einmal, daß ich in der Kaserne bis zum letzten Widerstand leisten und mich auf keine Art und Weise zum Soldat machen lassen werde.“

Die Strategie des Staates: Totschweigen?

Eine Reaktion des Staates und des Militärs gab es darauf zunächst nicht – zumindest keine sichtbare. Scheinbar schreckte der Staat vor einer Verhaftung zurück, da damit die kleine antimilitaristische Bewegung eine starke Öffentlichkeit erhalten hätte – sowohl in der Türkei selbst, mehr noch aber international. Das konnte nicht im Interesse des türkischen Staates sein, der gerade im Hinblick auf das EU-Assoziierungsabkommen schon genug Probleme mit der Menschenrechtssituation im eigenen Land hatte. Eine Verhaftung und Überstellung von Ossi zum Militär hätte die Gefahr beinhaltet, sich zusätzlich das Problem ‚Kriegsdienstverweigerung‘ als Menschenrecht aufzuhalsen. Eine Strategie des Totschweigens schien daher eher im Interesse des türkischen Staates zu sein, war damit doch die Hoffnung verbunden, daß das internationale Interesse für die türkischen KriegsgegnerInnen abnehmen und im Land selbst die kleine antimilitaristische Bewegung sich schließlich verlaufen würde.

Doch warum dann jetzt? Warum wurde Ossi am 7. Oktober verhaftet, während er im Juli noch problemlos aus der Türkei ausreisen konnte, um am Internationalen KDV-Treffen (ICOM) im Tschad teilzunehmen?

Scheinbar ist der türkische Staat zu der Einschätzung gekommen, daß seine Strategie nicht aufgeht. Der Verein der KriegsgegnerInnen Izmir tat den türkischen Militärs jedenfalls nicht den Gefallen, sich zu verlaufen, sondern trat gerade in diesem Jahr vermehrt an die Öffentlichkeit. Und Anfang des Jahres gründete sich auch in Istanbul eine radikal-antimilitaristische Gruppe, die Antimilitaristische Initiative Istanbul (AMI). Es gab also eher Tendenzen der Konsolidierung einer – wenn auch kleinen, so doch sehr aktiven – antimilitaristischen Bewegung.

Und auch die internationale Aufmerksamkeit für die türkischen AntimilitaristInnen nahm nicht ab. Im April fand ein deutsch-türkisches Training zu Gewaltfreiheit in Foca und Izmir statt (vgl. GWR 210), und im Oktober fanden in Zusammenarbeit mit der FöGA und GWR in Izmir Veranstaltungen zu Antimilitarismus und Gewaltfreiheit statt. Für den November plant der Izmirer Verein der KriegsgegnerInnen in Zusammenarbeit mit der baskischen Totalverweigererorganisation KEM-MOC eine Veranstaltungsreihe zu 60 Jahren spanischer Bürgerkrieg.

Bei allen diesen Projekten und auch anderen, alleine durchgeführten Veranstaltungen wurde das gewachsene Selbstbewußtsein der türkischen AntimilitaristInnen deutlich, die immer stärker mit ihren eigenen Inhalten – Kriegsdienstverweigerung und Antimilitarismus – an die Öffentlichkeit gingen. Bei etwa 400 000 Wehrflüchtigen in der Türkei liegt darin durchaus die Gefahr einer für das türkische Militär potentiell gefährlich werdenden Bewegung.

Hinter Ossi’s Verhaftung könnte also die Strategie stehen, zum einen durch die Drohung mit stärkerer Repression die AntimilitaristInnen einzuschüchtern, zum anderen die Arbeit der AntimilitaristInnen auf die Anti-Repressionsarbeit zu lenken und somit von den eigentlichen Inhalten abzulenken.

Doch auch diese Strategie scheint nicht aufzugehen. Zum einen führt Ossi’s Verhaftung eher zu einer Ausweitung der Bewegung. In Ankara, Istanbul und Antalya haben sich Solidaritätskomitees gebildet, die mit den AntimilitaristInnen in Izmir zusammenarbeiten.

Und in Izmir wird auf der einen Seite die bereits geplante Arbeit fortgesetzt, auf der anderen Seite aber an einer Kampagne gegen den Artikel 155 TCK gearbeitet, mit der die Militärjustiz und die Rolle des Militärs in der Türkei thematisiert werden soll. Ziel ist dabei, daß mindestens 155 Menschen öffentlich gegen den Art. 155 verstoßen, und zwar so, daß der türkische Staat auf jeden Fall reagieren muß. Wenn dies gelingt, dann war Ossi’s Verhaftung für die Bewegung eher eine Initialzündung, der Versuch der Einschüchterung wäre auf der ganzen Linie gescheitert.

Letzte Meldung: Nach Redaktionsschluß dieser GWR erhielten wir aus Izmir Ossi's Prozeßtermin: 19. November 1996 vor dem Militärgericht beim Großen Generalstab in Ankara.

Die türkischen KriegsgegnerInnen rufen zu Protestschreiben und -faxen gegen Ossi's Verhaftung auf an:

Basbakan Necmettin Erbakan (Premierminister)
Basbakanligi Konulu
Ankara, Türkei
Fax: 0090 312 4173954

Adalet Bakani Sevket Kazan (Justizminister)
Adalet Bakanligi
Ankara, Türkei
Fax: 0090 312 4173954

Verteidigungsminister:
Fax: 0090 312 3244627

Generalstab des Militärs:
Fax: 0090 312 4185341

Mamak Askeri Cezaevi (Militärgefängnis)
Ankara, Türkei

Briefe an Ossi (auf deutsch möglich):
Osman Murat Ülke
Mamak Askeri Cezaevi
Ankara, Türkei