schwerpunkt: türkei

Samstagsmütter: Der Schrei der Verschwundenen

Die Angehörigen der Verschwundenen werden laut

| Hülya Üçpinar Übersetzung: Andreas Speck

Das "Verschwindenlassen" wird in der Türkei zunehmend zu einem Instrument der Repression - trotz aller Beteuerungen über die Verbesserung der Menschenrechtssituation von Seiten der türkischen Regierung. Die Zahlen der Verschwundenen, die vom Menschenrechtsverein dokumentiert werden, steigen in den letzten Jahren kontinuierlich an. Doch nach Jahren ohnmächtigen Schweigens machen die Angehörigen der Verschwundenen das öffentliche Schweigen jetzt zu einer Waffe der Anklage. (Red.)

Am 27. Mai 1995 organisierte eine unabhängige Gruppe von Frauen und einigen Männern vor dem Galatasaray-Gymnasium – benannt nach der gleichnamigen türkischen Region – die erste Aktion. Es war der erste Schritt, und eine Reihe von weiteren Aktionen sollten folgen, um den Protest gegen die Praxis des „Verschwindenlassens“ öffentlich zu machen und neue Fälle von „Verschwundenen“ zu verhindern.

Der Aufruf machte deutlich, daß es sich um eine stille Aktion handeln sollte, unabhängig von den politischen Gruppen, so daß jede/r und insbesondere die Familien der Verschwundenen sich beteiligen konnte. Der Entschluß zu diesem ersten Schritt wurde gefaßt, nachdem am 19. Mai 1995 die Leiche von Hasan Ocak von seiner Familie gefunden wurde. Hasan Ocak verschwand am 21. März 1995, nachdem er von Leuten, die sich als Polizei ausgaben, mitgenommen worden war.

Hasan Ocak verschwand am 21. März, doch später wurde herausgefunden, daß seine Leiche bereits am 26. März entdeckt wurde und bis zum 28. März bei der Gerichtsmedizin aufbewahrt wurde. Am gleichen Tag wurde er auf einem Friedhof für Obdachlose begraben. Nachdem das Grab am 19. Mai geöffnet und eine Autopsie durchgeführt wurde, wurde er von seiner Familie mit einer Zeremonie erneut bestattet. Das Ergebnis der Autopsie zeigte deutlich, daß er durch einen Strick um den Hals ermordet wurde. Sein Körper wies Verbrennungen durch Strom und Schnitte im Gesicht auf.

Obwohl der Staat die Tatsachen bestritt gelang es Hasans Bruder mittels großer Anstrengungen, an die Dokumente der Gerichtsmedizin zu gelangen und die Wahrheit – daß Hasan Ocak ermordet worden war – zu beweisen.

Eine Woche nach der ersten Aktion wurde der Tod von Ridvan Karakoç bekannt. Er verschwand am 15. Februar 1995, nachdem er zur Polizei gebracht worden war, wurde bis zum 26. März in der Gerichtsmedizin aufbewahrt und dann ebenfalls auf dem Friedhof für Obdachlose bestattet. Sein Fall kam aufgrund eines Verdachts eines Staatsanwalts ans Licht. Nachdem er die Familie über seinen Verdacht informiert hatte ging diese den Hinweisen nach und konnte herausfinden, was geschehen war. Dabei sah sie sich Drohungen von Seiten der Polizei gegenüber. Am 2. Juli 1995 wurde das Grab geöffnet und die Autopsie ergab, daß auch er durch einen Strick um den Hals erdrosselt worden war und Verbrennungen aufwies (1).

Bis heute kann die Zahl der Verschwundenen mit Hunderten angegeben werden, doch die Tode von Hasan und Ridvan waren die ersten beiden, die in Erfahrung gebracht werden konnten. Obwohl diese Tatsachen die Menschen schockierten, konnten ihre Gefühle in eine konstruktive Richtung gebracht werden. Und das führte dazu, daß die halbstündigen samstäglichen Aktionen vor dem Galatasaray-Gymnasium sich stabilisierten und sich mehr und mehr Menschen daran beteiligten.

Doch in der zweiten oder dritten Woche griff die Polizei ein, nachdem Mitglieder einiger linker Gruppen sich an der Aktion beteiligt und die Slogans ihrer Organisationen gerufen hatten, um ihre Teilnahme deutlich zu machen. 36 TeilnehmerInnen wurden in Gewahrsam genommen. Die Prozesse dieser Personen dauern derzeit noch an.

Doch trotz dieser unerwünschten Ereignisse gehen die Aktionen weiter und werden eine Gruppe von Frauen diskutiert jeweils die Form der Aktion der nächsten Woche. Die Aktion behielt ihren stillen Charakter, doch die Bilder von Verschwundenen werden auf Plakaten gezeigt. Und jede Woche werden, falls es welche gibt, neue Verschwundene öffentlich gemacht, oder auch Fälle von bereits früher Verschwundenen. Manchmal halten einige Angehörige von Verschwundenen eine Rede, manchmal kommen die Angehörigen nur zusammen und sitzen auf dem Boden. Diese sitzenden Angehörigen wurden von der Öffentlichkeit schnell wahrgenommen und sie werden die „Samstagsmütter“ genannt.

Nach dem großen öffentlichen Interesse kamen einige Vorsitzende der politischen Parteien, ParlamentatierInnen und GewerkschafterInnen, um die Gruppe zu besuchen und zu unterstützen, aber auch um gleichzeitig Propaganda für die eigenen Ziele zu machen. Aufgrund dieses großen Interesses und der Unterstützung gab es bis zum 8. Juni 1996 keinen weiteren Angriff von Seiten des Staates. Doch Anfang Juni begann die Habitat-Konferenz in Istanbul und in der Habitat-Region war jede Aktion verboten. Am 8. Juni wurde von einer Gewerkschaft für Angehörige des öffentlichen Dienstes (KESK) zur gleichen Zeit eine Aktion am Galatasaray-Gymnasium durchgeführt. Sowieso im wesentlichen ein zentrales Einkaufsgebiet, wurde Galatasaray durch die Aktion noch belebter. Als die Aktion der Samstagsmütter beginnen sollte, griff die Polizei beide Gruppen an, stieß und prügelte auf die Menschen ein und zog sie an den Haaren weg. Mehr als 1 000 Menschen wurden zur Polizeiwache gebracht, und gegen 638 von ihnen wurde ein Verfahren eingeleitet. Während der folgenden sechs Wochen – bis zum Ende von Habitat – wurde keine Aktion geduldet. Die Menschen, die kamen, wurden getreten und geschlagen und zur Polizeiwache gebracht. Nach dem Ende von Habitat kehrte man zu den Zuständen von vorher zurück.

Während des Hungerstreiks der politischen Gefangen, der im Mai in allen Gefängnissen begann und im Juli nach dem Tod von 12 Hungerstreikenden endete (vgl. GWR 211 und den Artikel „Erst muß der Mensch leben, dann kann seine Ehre geschützt werden“ in dieser Ausgabe), wuchsen die Aktionen an. Mehr als vorher wurden die Sitzdemonstrationen Teil der öffentlichen Tagesordnung und zur Stimme der Angehörigen der Hungerstreikenden.

Der Hungerstreik wurde durch die Vereinbarung des Staates mit den Gefangenen beendet. Doch einige Menschen innerhalb und außerhalb des Staatsapparates wollten das Ergebnis nicht akzeptieren, und mit dem Spruch „die Samstagsmütter sind die Mütter von Terroristen“ schufen sie die „Freitagsmütter“. Die Gruppe besteht aus Müttern von Soldaten, die am Krieg gegen die PKK beteiligt waren und als „Märtyrer“ starben. Der Freitag, nachdem die Gruppe benannt ist, ist in der muslimischen Religion ein heiliger Tag, und die Menschen besuchen an diesem Tag den Friedhof. Zunächst versuchten das staatliche Fernsehen und die Medien die Propaganda der Freitagsmütter zu betreiben und sie Angesicht zu Angesicht mit den Samstagsmüttern zu bringen.

Trotz all dieser Anstrengungen begannen einige Väter und Mütter beider Seiten, die gemeinsame Ansichten hatten, ihr jeweiliges Problem als gemeinsames Problem deutlich zu machen. Danach beendete der Staat seine Provokation und heute kann die Stimme der Freitagsmütter kaum noch gehört werden.

Seit Beginn der Aktionen gehen die Menschen zum Galatasaray-Gymnasium und verschaffen ihrer Stimme Gehör, trotz aller Ereignisse. Jede Woche sitzen sie dort und fordern ihre Kinder vom Staat zurück – tot oder lebend.

Es ist mittlerweise mehrfach gesichert, daß in den 10 Jahren nach dem Putsch von 1980 10 Menschen verschwanden. Danach stiegen die Zahlen an: 1991 verschwanden drei Menschen; 1992 acht Menschen; 1993 bereits 25 Menschen; 1994 52 Menschen und 1995 bis zum 12. September 10 Menschen. Insgesamt 108 Menschen wurden vom Staat entführt und ermordet. (2) Die Dunkelziffer liegt wesentlich höher, es gibt Hunderte von Fällen, doch in diesen Zahlen sind nur die Fälle enthalten, bei denen keine Zweifel bestehen. Für 1994 liegen die Verdachtsfälle bei 299 und für 1995 bei 25 „Verschwundenen“. Die Samstagsmütter sind der Schrei all dieser Menschen.

(1) Human Rights Foundation of Turkey: File of Torture, Ankara, März 1996

(2) ebenda