Im Spiegel Nr. 45 vom 4.11.96 erschien unter der Überschrift "Hau weg den Scheiß" ein Artikel zur Anti-AKW-Bewegung, den wir hiermit dokumentieren. Eine ausführliche Stellungnahme erfolgt in der nächsten Ausgabe der GWR. (Red.)
„Hau weg den Scheiß“ (Spiegel Nr. 45/1996, S. 62)
Die einst gewaltfreie Anti-Atom-Szene kämpft wie eine Geisterarmee gegen die Bahn. Verfassungsschützer fürchten eine Eskalation des Terrors.
Sie stehen auf Straßenbrücken oder Tunnelportalen und schleudern Hakenkrallen in Oberleitungen. Sie deponieren Bombenattrappen unter Eisenbahnbrücken oder sägen meterlange Stücke aus den Schienen. Sie unterhöhlen Gleiskörper und kappen Signalkabel. Eine Geisterarmee aus Anarchos und Autonomen bringt die Bahn aus dem Takt.
Auf der Schnellfahrstrecke Hannover-Kassel schaffte es ein Lokführer gerade noch, seinen ICE manuell zu bremsen; ein Kollege erlitt dagegen schwere Schnittverletzungen, als in der Nordheide Teile der Oberleitung die Frontscheibe seines Zuges durchschlugen. Im Mindener Bahnhof raste ein Güterzug in einen Betonklotz und spaltete das Schienenhindernis glatt.
Fast 250 Anschläge auf Bahnstrecken zählten die Betriebe seit Herbst 1994 – und das ist nach Einschätzung des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) erst der Anfang.
In einem 31seitigen vertraulichen Dossier („Linksextremistische/militante Bestrebungen im Rahmen der Anti- Castor- Kampagne“) prohpezeien die Geheimen eine „räumliche Ausweitung und Intensivierung“ der Anschläge. Bahnchef Heinz Dürr hat schon jetzt von den „Polit-Terroristen“ genug: „Das Leben völlig Unbeteiligter wird aufs Spiel gesetzt.“
Der Kampf um Gorleben hatte 1977 friedlich begonnen. Seitdem aber die Kernkraftgegner versuchen, den Transport der Castor-Behälter ins niedersächsische Zwischenlager zu verhindern, eskaliert die Situation.
Selbst bei der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, traditionelles Sammelbecken der bürgerlichen Gorleben-Gegner, will das BfV eine zunehmende Radikalisierung ausgemacht haben. Zwar propagierten die Wendländer immer noch „Gewaltlosigkeit“, hielten aber das „Herausschrauben von Bolzen oder Zersägen der Schienen“ als „Zivilen Ungehorsam“ für zulässig.
Die Radikalisierung sei auch eine Folge der Veränderungen in der Szene, glauben die Verfassungsschützer. Zunehmend ziehe es Anarchos und Autonome aus allen Teilen der Republik ins Wendland. Auch die Allianz der politischen Unterstützer sei gewachsen, sie reiche inzwischen von der KPD über die pazifistische Graswurzelbewegung bis hin zur PDS.
So ist zwar immer noch Hannover – und damit das Nadelöhr für die Nord-Süd-Intercity- Verbindungen wie auch für die Trasse zwischen Berlin und dem Rhein-Ruhr-Gebiet – das Zentrum der Sabotageakte. Aber auch rund um Frankfurt und Berlin bremsten die Autonomen die Bahn aus.
Die 40.000 Bahnkilometer erweisen sich als ideales Ziel für die Spontis. Trotz Sonderkommissionen, Hundestreifen und patrouillierender Hubschrauber mit besonderen Wärmebildkameras wurde bisher nicht ein einziger Bahn- Attentäter gefaßt.
Jede gelungene Aktion fördert offenbar die Gewaltbereitschaft. Inzwischen, so das BfV, rufe sogar die „Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen“ zur Demontage von Bahneinrichtungen auf: „Das gesamte Streckennetz der Bahn AG bietet sich an.“ Selbst pazifistische Blätter wie die Graswurzelrevolution haben nichts gegen derlei Taten, „solange die Gefährdung von Menschenleben“ ausgeschlossen sei.
Aber auch diese Prämisse gilt in der Euphorie immer weniger. „Die Orientierung auf die Bahn hat sich als ein Element bewährt“, jubelten Autonome in der Juli-Ausgabe des Szeneblattes Interim. Seit August erscheint eigens eine Zeitung für die Bahnblockierer. Der Wurfanker gibt allerlei Lesetips für den militanten Alltag („Brauchbares für Sabotage und Co“) wie etwa Anleitungen zum Bau von Sprengsätzen für Masten und zur Zerstörung der Gleise.
Eine Gruppe „Hau weg den Scheiß“ legte unlängst im Brandenburgischen Strommasten um. Per Szeneschrift übermittelten sie ihr Tatbekenntnis: „1000 Schrauben werden knallen, 100 Masten werden fallen.“
Der Trend zur Gewalt mobilisierte die Geheimdienstler. Penibel führen sie in ihrem Dossier alle Szeneobjekte im Wendland auf, fotografieren die Häuser und überprüften die Bewohner. Auf einem Hofgeländer verteilt stellten die Verfassungsschützer „sechs Bauwagen und einen Campingwagen, die bewohnt sind“, fest. Auch ein Transparent „Stopp Castor“ wurde registriert. Fazit der Geheimdienstler: „Das Haus dient Kernkraftgegnern als Anlaufstelle.“
Was wie die Beschreibung ländlicher Idylle anmutet, ist den Geheimen unheimlich. Sie vermuten dort Keimzellen ungezügelter Gewalt: Aktionen gegen Kernkraftwerke, Zwischenlager und Atomforschungseinrichtungen seien nicht mehr auszuschließen.
Interim plädierte jüngst für eine „Zerschlagen wir Siemens“-Kampagne. Die Verfassungsschützer fürchten jetzt, daß die gesamte „Struktur des Atomprogramms“ zum „Angriffspunkt“ gemacht wird.