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„Der Staat braucht Gruppen wie die RAF“

Zur Verurteilung von Birgit Hogefeld und ihrer RAF-Kritik

| Lou Marin

Am Dienstag, 5.11., ging am Oberlandesgericht Frankfurt/M. ein weiteres Kapitel in der anscheinend unendlichen Geschichte Staat versus RAF (Rote Armee Fraktion) zu Ende. Das ehemalige RAF-Mitglied Birgit Hogefeld, Aktivistin in den 80er Jahren oder der sogenannten "dritten Generation", wurde wegen angeblich dreifachen Mordes, vierfachen Mordversuchs, RAF-Mitgliedschaft, des Sprengstoffanschlags auf den Knast Weiterstadt, Freiheitsberaubung und Waffenbesitzes zu lebenslanger Haft verurteilt. Für uns Anlaß, den Prozeß und insbesondere Birgit Hogefelds heutige Selbstkritik zu betrachten. (Red.)

Das Gerichtsverfahren hatte 2 Jahre gedauert, die Richter attestierten Hogefeld „eine besondere Schwere der Schuld“, was eine vorzeitige Haftentlassung stark erschwert. Angeklagt war Hogefeld neben Weiterstadt wegen der Ermordnung des einfachen US-Soldaten Pimental und dem darauffolgenden Anschlag auf die US-Air Base (2 Tote) 1985, dem Anschlag auf Staatssekretär Tietmeyer 1988 und dem Tod des BGS-Polizisten Newrzella bei ihrer Festnahme in Bad Kleinen im Juni 1993, bei der ihr Freund Wolfgang Grams durch den BGS erschossen wurde – was durch ungeheuerliche Ermittlungsfehler zu verdunkeln versucht wurde.

Der Prozeß – eine Farce

Es war ein Prozeß unter Vorsitz des Richters Schieferstein, der sich nahtlos in die Prozeßgeschichte gegen die RAF einreihen läßt. Hogefeld fühlte sich vom ersten Tag an vorverurteilt, bei der Beweisführung wurden Fakten hingebogen. Um aus der Fülle von Beispielen nur zwei herauszugreifen:

  1. Als ein Indiz für Hogefelds Beteiligung am Pimental-Mord diente eine Unterschrift für den Kauf eines Autos, das bei der Tat benutzt wurde. Hogefeld soll diesen Kaufvertrag unterschrieben haben. Doch selbst die Schriftgutachter des Bundeskriminalamts konnten die Unterschrift nicht mit Sicherheit Hogefeld zuordnen. Die Unterschrift stammte aber von einer Frau. Was macht die Bundesanwaltschaft? Sie will den Beweis durch Negativausschlußverfahren führen: zur Tatzeit seien nach Erkenntnissen des Staates fünf Frauen RAF- Mitglieder gewesen, vier könnten es nicht gewesen sein, es bleibe also nur Hogefeld (Hogefeld hatte zwar ihre RAF- Mitgliedschaft zugegeben, nicht aber ab wann sie Mitglied war). (1) Noch am Tag der Urteilsverkündung versuchte Hogefeld-Verteidigerin Ursula Seifert neue Beweisanträge einzubringen, weil sich gerade öffentlich herausgestellt hatte, daß der jahrelang von der Bundesanwaltschaft als RAF-Mitglied gesuchte Christoph Seidler nie Mitglied war, wodurch die Fragwürdigkeit des Ausschlußverfahrens noch einmal offensichtlich geworden sei. Doch wie nahezu alle Beweisanträge vorher wurde auch dieser abgeschmettert.

  2. Als ein weiterer Beweis für den Kauf des Pimental-Tatautos wurde die Aussage der Autoverkäuferin gewertet, die Käuferin sei starke Raucherin gewesen und habe daher verfärbte Zähne gehabt, sogar erkennbare Zahnlücken. Nun hat Birgit Hogefeld in ihrem Leben weder geraucht noch verfärbte oder lückenhafte Zähne gehabt. Was macht die Bundesanwaltschaft? Sie modelt eine Aussage von Hogefelds heutigem Zahnarzt, sie habe leichte, kaum sichtbare Karies gehabt, dahingehend um, das sei mit „Verfärbung“ gemeint gewesen und die Zahnlücken, da nicht vorhanden, seien eben angemalt gewesen. (2) Ernsthaft, das ist kein Witz – und das in einem Mordprozeß!

Da überrascht es dann sogar noch, daß Hogefeld vom Bad-Kleinen-Mordvorwurf freigesprochen wurde (schon die Anklage war absurd – Hogefeld war längst festgenommen, als die Schüsse fielen), was allerdings keine Auswirkung auf die Höhe der Haftstrafe mehr hatte. Gisela Wiese (Pax Christi) und Pfarrer Hubertus Janssen, die im Auftrag des „Komitees für Grundrechte und Demokratie“ den Prozeß durchgängig beobachteten, erklärten nach dem Urteil:

„Das Gericht wäre gehalten gewesen, nicht nur der Verteidigung zureichende Einsichtschancen zu geben, sondern den von exekutivischen Geheimhaltungen überschatteten Prozeß abzubrechen; in jedem Fall auf diesbezüglichen Anklagen und deren Weiterbehandlung zu verzichten. Der 5. Strafsenat tat mitnichten so. Er verhandelte und urteilte nun im Zeichen der eindeutigen Dominanz der Anklage und ihres politisch innenministeriellen Bezugsfeldes.“

Peinlich allerdings, wenn die vom demokratischen Ideal durchdrungenen ProzeßbeobachterInnen abschließend konstatieren: „Gerichte sollen Recht sprechen. Sie sollen dies tun, auch wenn die möglichen Urteile für die Betroffenen im Rahmen geltenden Rechts hart ausfallen mögen. Indes: (…) Solche Gerichte hat die Bundesrepublik, soweit sie sich zu Recht als demokratischen Rechtsstaat bezeichnet, nicht verdient.“

Sie glauben an den guten Rechtsstaat und müssen wider ihr eigenes Erleben den Hogefeld-Prozeß als Ausnahme, nicht als Regel interpretieren. Es bräuchte in heutiger Zeit einmal einen radikalen Kritiker politischer Justiz wie Emil Julius Gumbel in den 20er Jahren, der statistisch einwandfrei und von den Fakten her unwiderlegbar die Anklagepunkte und Strafbemessungen, und auch noch die Haftbedingungen von linken GesetzesübertreterInnen mit denen von rechtsextremen „Einzeltätern“ und ihren Gesetzesübertretungen vergleicht und auflistet. Eine Riesendiskrepanz würde sich offenbaren. Die ungeheuren, in manchen Fällen schon weit über 20 Jahre gehenden Haftstrafen für RAF-Mitglieder suchen in der Rechtsgeschichte der BRD, inclusive der Verurteilungen für Nazi-Verbrechen, Vergleichbares. Es gibt die politische Justiz, und sie ist konstitutiv für den bürgerlichen Rechtsstaat! Also ist da schon eher der Berliner UnterstützerInnengruppe „Prozeßbüro Hogefeld“ zuzustimmen, die nach dem Urteil zu dem Schluß kommt:

„Der Strafsenat handelte in seiner Abhängigkeit von der Bundesanwaltschaft nicht anders als vor zwanzig Jahren. Damit ist alles Gerede von den angeblichen Widersprüchen im Repressionsapparat konterkariert.“ (3)

Birgit Hogefelds kritische Auseinandersetzung mit der RAF-Geschichte

Konterkariert wird durch die Prozeßführung allerdings auch eine vielgeliebte These von UnterstützerInnengruppen der RAF, nach welcher Kritik an der Gewaltförmigeit des RAF-Kampfes von staatlicher Seite honoriert würde, woraus dann immer wieder die Systemsprengkraft des bewaffneten Kampfes und die angebliche Systemimmanenz gewaltfreien Kampfes gefolgert wurde. Honoriert wird eben nicht, das zeigt der Hogefeld- Prozeß, die radikale Selbstkritik der Gewalt (von den UnterstützerInnen geradezu denunziatorisch „Abschwören“ genannt), honoriert wird etwas ganz anderes: die Denunziation anderer, die Vernutzung als „Kronzeuge“ und das Sich-Einfügen in den Rechtsstaat. So haben viele ehemalige RAF-Mitglieder, vor allem infolge ihrer Entdeckung in der DDR nach 1989 gehandelt – Birgit Hogefeld und manch andere heutige RAF-KritikerIn aber nicht. Hogefeld hat niemanden denunziert, sie hat sich der Kronzeugenregelung widersetzt – und sie hat sich trotzdem während des Prozesses kritisch mit ihrer eigenen RAF-Geschichte auseinandergesetzt. Das verdient ungeheuren Respekt, denn sie hat darauf verzichtet, sich im Knast auf die RAF-Identität des bewaffneten Kampfes zurückzuziehen, die für viele das einzige war, womit sie sich gegen die tägliche Repression wehren und dem ständigen Druck standhalten konnten.

Zweimal, am 21. Juli 1995 und in ihrer Schlußerklärung am 29.10.96 (4), hat sich Hogefeld ausführlich mit ihrer RAF-Vergangenheit auseinandergesetzt. Daß sie das im Gerichtssaal getan hat, kann ihr angesichts der Kontaktsperre und der Unmöglichkeit, im Knast eine wirkliche Diskussion mit der kritischen Öffentlichkeit zu führen, niemand verübeln.

Beide Selbstkritiken sind bemerkenswert: Birgit Hogefeld sah und sieht ihren Aufbruch und den „Kampf für eine andere Welt zu jeder Zeit begründet und gerechtfertigt“ und auch, daß ein solcher Kampf konfrontativ geführt werden muß (95er-Erklärung). Allerdings hat die Erschießung des US-Soldaten Pimental, die ihr im Prozeß persönlich nicht nachgewiesen werden konnte (trotz Urteil), für die sie sich aber politisch mitverantwortlich fühlt, zur revolutionären Selbstkritik geführt:

„Eine solche Aktion: 1985 hier einen einfachen GI der US-Armee zu erschießen, um an dessen Ausweis zu kommen, ist mit revolutionärer Moral und revolutionären Zielen nicht vereinbar. Ich denke, es ist falsch und ignorant, diese Aktion sozusagen als ‚politischen Unfall‘ abzutun, wie wir das damals gemacht haben, denn in Wirklichkeit spiegelt sich in ihr die Denklogik wider, die unserem Politikverständnis und unseren Bestimmungen Mitte der 80er Jahre entsprach. (…) Wie konnte es dazu kommen, daß Menschen, die aufgestanden waren, um für eine gerechte und menschliche Welt zu kämpfen, sich so weit von ihren ursprünglichen Idealen entfernten?“ (95er- Erklärung)

Die Geschichte der RAF sieht Hogefeld heute als eine zunehmende Abkopplung der RAF von der sozialen Realität der BRD, bedingt auch durch die Theorie von der Einkreisung der Metropolen durch die Befreiungsbewegungen im Trikont, die zu mythischer Stärke aufgeblasen wurden. Hogefeld bestätigt in ihrem selbstkritischen Rückblick als eine derjenigen, die dabeigewesen ist, die Schwierigkeiten, vor die sich eine entschieden kritische Solidarität, wie sie u.a. von gewaltfreien AnarchistInnen in den 70er und 80er Jahren geleistet werden wollte, gestellt sah: „Solidarisches Handeln an der Frage der Haftbedingungen bei gleichzeitiger Kritik oder Infragestellung unserer politischen Konzeption war nicht erwünscht.“ (95er-Erklärung)

Als Hogefeld von den sozialen Bewegungen zunehmend ausstieg und sich Ende der 70er Jahre auf die Unterstützung für die Inhaftierten konzentrierte, hatte eine ungeheure Repressions- und Einschüchterungskampagne des Staates und der Medien eben diese UnterstützerInnen zu einer eingeschränkten Realitätssicht getrieben:

„Ich wußte Bescheid über Nato-Strategien und -Manöver, las jede Meldung über … brutale Bulleneinsätze gegen Anti-AKW-Demonstrationen. Dagegen wußte ich reichlich wenig über inhaltliche Auseinandersetzungen und Fragen in diesen Bewegungen. Unsere auf einen bestimmten Ausschnitt reduzierte Wahrnehmung der Welt, einen Ausschnitt, der zwar real existiert hat und auch heute existiert, aber eben nur einen Teil der Realität ausmacht, führte zwangsläufig zu einem falschen, weil eingeengten Bild, in dem alles zu einem Schwarzweißschema zusammengepreßt wurde.“ (95er-Erklärung)

Hogefeld bewegte sich in einer zunehmend abgeschotteten Subkultur. Neben der Repression findet sie damit einen zweiten Grund für die Welle von KronzeugInnenaussagen nach 1989:

„Gruppenstrukturen, die keine Differenzen geschweige denn Widersprüche aushalten, müssen nicht, aber können leicht verhindern, daß Menschen wachsen und an innerer Stärke gewinnen. Ich will damit den Verrat unserer ehemaligen Mitglieder, mit dem sie auf dem Rücken von GenossInnen ihre eigene Haut gerettet haben, nicht entschuldigen, aber ich denke auch, daß es dabei einen hausgemachten Anteil gibt.“ (95er- Erklärung)

Die Binnenrealitätssicht der Gruppe führte schließlich auch zur praktischen Isolierung von den Massenbewegungen der Zeit:

„Einerseits fanden wir Kämpfe an den unterschiedlichen Fragen – ob gegen AKW’s, Startbahn West usw. – positiv, und sie waren uns oft aus unserer eigenen Geschichte nah, gleichzeitig standen sie aber bei uns auch immer im Verdacht, Kämpfe für weitere Metropolenprivilegien zu sein. Aber gerade die Kämpfe, die an den eigenen Erfahrungen und Lebenssituationen ansetzen, sind Wurzel und Basis für jeden Aufbruch, und daraus entsteht Bewußtsein – oder kann entstehen – das über den konkreten Ansatz hinausgeht. Aber selbst wenn das nicht so ist, sind Forderungen, die die eigenen Lebensgrundlagen verbessern oder sichern oder die Kriege verhindern sollen, für sich genommen legitim. Wir dagegen haben solche Kämpfe und ihre Inhalte lange Zeit nicht ernst genommen, sondern haben darin vielmehr nur den geringen Teil der Leute gesucht, die über den jeweiligen konkreten Anlaß hinaus zu systemsprengenden Perspektiven und Bestimmungen kommen wollten. Wenn wir mit solchen Leuten zusammengekommen sind, hieß das immer, daß sie sich dann von den Bewegungen aus denen sie kamen, getrennt haben, was ich im Nachhinein als große politische Dummheit sehe, weil das unsere Isolierung in den 80er Jahren … zementiert hat.“ (95er-Erklärung)

Hogefeld war auch schon an der 1992er-Verzichtserklärung der RAF auf Anschläge gegen Menschen beteiligt gewesen. In ihrer Prozeßschlußerklärung hat Hogefeld die noch bestehenden RAF-Gruppen zur Selbstauflösung aufgerufen. Dabei hat sie eine radikal realistische Sicht von der politischen Stärke der RAF, die viele ihrer Mitglieder lange und bis hin zur Mythologie einer militärischen Entscheidung 1977 geleugnet haben:

„Da kam es sehr schnell zu Verselbständigungen und einer Eskalation des Militärischen – Bomben-Autos, noch zusätzlich bestückt mit Metallteilen, die Menschen zerrissen haben und auch zerreißen sollten, Genickschüsse oder die Erschießung von Geiseln, wie schon bei der Botschaftsbesetzung in Stockholm. Wir waren denen, die wir bekämpfen wollten, in dieser Hinsicht sehr ähnlich und sind ihnen wohl immer ähnlicher geworden. (…) Wenn es Erfahrungen gibt, die aus den Kämpfen bewaffneter oder militanter Gruppen hier gezogen werden können, dann gehört dazu unbedingt die, daß aus solchen Kämpfen keine Massenmobilisierung und in der Regel sogar überhaupt keine Mobilisierung entsteht.“ (Schlußerklärung)

Wenn die RAF aber politisch so schwach war, warum dieser Aufwand von seiten des Staates? Warum diese Prozesse, Isolationshaft, Verhinderung einer Diskussion seit Ende der 80er Jahre? Der Staat hat sich einen „Popanz“ gehalten, mit dem er die repressive Weiterentwicklung des Rechtsstaats plausibel machen wollte, ohne sich weiter legitimieren zu müssen. Zu dieser bitteren Erkenntnis kommt nun auch Birgit Hogefeld:

„Ich habe mich lange gegen den Gedanken gesträubt, daß dieser Staat, zumindest der reaktionäre Teil seines Sicherheits- und Justizapparats, Gruppen wie die RAF braucht, um aus deren Bekämpfung für sich selber Sinn und Identität zu ziehen. Doch gerade aus dieser Blockierung einer gemeinsamen wie auch der öffentlichen Diskussion der RAF-Gefangenen Ende der 80er Jahre, aber auch aus den Erfahrungen, die ich seit meiner Verhaftung gemacht habe, bleibt eigentlich keine andere Interpretationsmöglichkeit.“ (Schlußerklärung)

(1) Gerd Rosenkranz: Konfrontation statt Entspannung, in: Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld. Edition psychosozial, Gießen 1996, S.11.

(2) Walter Kuhl, Ivo Bozic: Jederzeit verurteilungsbereit, Junge Welt, 5.11., S.11.

(3) nach Junge Welt, 6.11., S.6.

(4) Birgit Hogefeld: Zur Geschichte der RAF, in: Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen, a.a.O., S.19-57, Schlußerklärung in Auszügen: Junge Welt, 30.10., S.15.