transnationales / antimilitarismus

Ein Brief von Ossi…

| Ossi

Im Zelt von Mamak, 31. Oktober 1996

Freundinnen und Freunde,

die Geschichte ist voll mit ungezählten Wanderungsbewegungen. Aber neben der größten, immer da gewesenen Bewegung, die unaufhaltsam voranschreitet und sich zur Freiheit, zu sich selbst und zum Morgen erstreckt, neben der Begeisterung und Freiwilligkeit dieser nicht räumlichen Bewegung werden die anderen stets orientierungslose Produkte des Leids und des Zwangs bleiben.

Wir sind aufgebrochen. Ohne diesen für Wanderungen so fruchtbaren Boden zu verlassen, schreiten wir voran, das Morgen jetzt zum Heute machend, die Mauern und Sackgassen des Heute im Gestern vergrabend. Wer ist nicht alles bei diesem Aufbruch dabei: Die Frauen, die verstanden haben, daß die Schläge des Ehemanns nicht schicksalsbestimmt sind; die Arbeiterinnen und Arbeiter, die es nicht hinnehmen, in der Enge der Fabrik zu Maschinen geformt zu werden; die Kinder, die es nicht erlauben, sich durch Strammstehen in Reih und Glied vereinheitlichen zu lassen und viele andere mehr.

Es ist Zeit, Etienne de la Boeties „Über die freiwillige Knechtschaft“ herauszuschreien. Es ist Zeit, dem Gehorsam, wem gegenüber und zu welchem Zweck auch immer, den eigenen Willen entgegenzusetzen und ihn zu verwirklichen.

In dieser an keinen Raum gebundenen Karawane sind wir eng verbunden. Uns in den Armen liegend werfen wir den Mauern einen spöttischen Blick zu, schlagen an diesem Punkt des Weges unser Zelt auf und vertiefen unser Gespräch. Wir stellen uns vor, wie wir diejenigen, die sich mit blechernden Verkehrsschildern vor uns aufbauen, behutsam an den Wegesrand schieben oder – wenn sie wollen – in die Karawane aufnehmen. Wir reden darüber, daß sich andere Karawanen mit uns vereinigen und wir gemeinsam Feste feiern, reden über die Oasen, die wir gründen werden.

Die Nacht ist lang, aber es gibt keine vollkommene Dunkelheit. In der schimmernden Dunkelheit des Sternenhimmels erleuchtet das Lagerfeuer, das wir errichtet haben, unsere Gesichter; und mit Staunen und Freude bemerken wir, wie von neuem die Liebe in unseren Augen erstrahlt, unsere Brust erfrischt. In diesen Momenten begreifen wir, wie angesichts unseres Mutes die Kälte zum Schmelzen verurteilt ist, wir die Decken in unserem Inneren tragen. Unsere Sorge, wir seien wenige, wir verstünden uns nicht, die Wüste sei zu groß, ist sinnlos. Mit dem Selbstbewußtsein, diejenigen, die uns begegnet sind, zu uns aufgenommen zu haben, und mit unserer Offenherzigkeit können wir sie überzeugen, und falls uns das nicht gelingt, so können wir sie wirkungslos machen.

Was sind schon diese Mauern, die mich umgeben? ‚Das sind ein paar Meter Lebensraum, die wir dir zugestehen, so hoch ist dein Wert, nicht einen Schritt kommst du nach draußen.‘ Unbeholfene Worte und Mittel derer, die damit beschäftigt sind, von innen zu verfaulen! So wie Henry David Thoreau und andere sagen: „In dieser Welt ist das Gefängnis der Ort für die anständigen Menschen.“ Diese Zellen werden sich noch weiter füllen, werden die Last nicht aushalten. Die Menschlichkeit derer, die die Zellen besetzen, werden die Mauern überwinden, werden das Verfaulen beschleunigen. Jede Zelle wird zu einem Garten werden und schließlich werden sich die Mauern verkleinern. „Drinnen“ und „Draußen“ werden eins werden, und wir werden gemeinsam mit Stolz und zur Mahnung auf die zurückliegende Wüste blicken. Freiheiten werden den Weg schmücken, und wir werden unsere rastlose Wanderung fortsetzen.

Das sind keine Träumereien. Ihr wißt es, sonst wärt Ihr nicht aufgebrochen. Ich weiß, Ihr habt es schwerer als ich. Die ständigen Bombardements der übrigen Welt und die Zweifel, die wir empfinden, ob unsere Schritte ausreichend und unsere Richtung richtig seien, sind ermüdend und bringen den Menschen oft zum Zögern. Erinnert Euch der Wanderungen der Vorigen und der Strecke, die Ihr bisland zurückgelegt habt. Erinnert Euch, daß alle Absolutheit voller Verzweiflung ist und sich selbst auffrißt. Größere Wanderungen als die bisherigen warten auf uns.

Ich umarme Euch alle ganz fest und habe Euch jeden Tag zu Gast in meiner Zelle. Ich danke allen, die mich mit Briefen und Telegrammen erreicht haben. Denen, deren Adresse ich habe, werde ich auch schreiben. Euch allen mit dem Wunsch nach Kraft und einer bunten Reise,