Die Zurkenntnisnahme, Rekonstruktion und (Wieder-)Aneignung libertärer Theorie und Geschichte ist notwendiger denn je. Dennoch scheint dieses Angebot trotz einer im deutschsprachigen Anarchismus nach 1945 noch nie dagewesenen ‚Flut‘ libertärer Publikationen an der Mehrheit der anarchistischen AktivistInnen – von Ausnahmen abgesehen – nahezu unbeachtet vorbeizugehen. Ein Bewußtsein mangelhafter Kenntnisse der anarchistischen Theorie und Geschichte besteht anscheinend nur bei wenigen Libertären. Die weitgehende Unfähigkeit eines Großteils der AnarchistInnen, sich die durchaus zahlreichen libertären Theorien anzueignen und die reichhaltigen Erfahrungsschätze libertärer Praxisansätze zumindest zu berücksichtigen (wenngleich bestimmte aktuelle Erfahrungen natürlich immer auch selber gemacht werden müssen), hat zur Folge, daß in den aktuellen sozialen Auseinandersetzungen anarchistische Inhalte weniger denn je vertreten sind.
Immerhin sind in den letzten Jahren Werke von und über Emma Goldman, Michael Bakunin, Peter Kropotkin, Max Nettlau, Erich Mühsam, Gustav Landauer, Murray Bookchin und Noam Chomsky erschienen. Jüngst zeichnet sich nun eine Renaissance Johann Caspar Schmidts alias Max Stirners (1806-1856) ab. Besonders an seinem Hauptwerk ,Der Einzige und sein Eigentum“ (1844) scheiden sich die libertären Geister. Gilt er den einen aufgrund seiner Betonung von Individualität und Egoismus als der radikalste Philosoph schlechthin, so lehnen es andere ebenso vehement ab, ihn für den Anarchismus zu reklamieren. Ähnliches gilt für den Philosophen und Wissenschaftskritiker Paul Feyerabend (1924-1994).
Stirner
Um es vorweg zu sagen: Auch wenn sich beide, Stirner und Feyerabend, selbst nicht als Anarchisten bezeichneten, so gehören sie doch zweifelsohne in die libertäre Tradition. Gustav Landauer und Max Nettlau etwa schätzten Stirners „radikale Rückbesinnung auf das Ich und seine Bedürfnisse“ (Stephan Krall, S.113). Keineswegs vergeblich bemühen sich die Autoren des vorliegenden Stirner-Bandes (Markus Henning, Werner Petschko, Alfred Schaefer, George Woodcock, Gerhard Senft, Herbert Scheit, Stephan Krall, Halil Ibrahim Türkdogan und Uwe Timm) darum, die hartnäckigen Mißverständnisse und Fehldeutungen von Stirners Philosophie aufzubrechen. Herausgekommen ist ein Buch, das dem Werk Stirners Gerechtigkeit widerfahren läßt.
Auch wenn die Sympathien für Stirners Philosophie überwiegen, erfolgt deren Rezeption keineswegs unkritisch. Während Markus Henning die durch den Marxismus entstellte Rezeptionsgeschichte entflechtet, Werner Petschko dessen Sprach- und Herrschaftskritik nachzeichnet, Gerhard Senft Stirners wissenschaftskritische Ansätze beleuchtet, George Woodcock einen komprimierten Überblick über Leben und Wirken Stirners bietet, Uwe Timm anhand der libertären Rezeption dessen nachhaltige Wirkung beschreibt, Ibrahim Türkdogan Parallelen zwischen dem Existentialismus Jean-Paul Sartres und Stirners Denken entdeckt, bemüht sich Stephan Krall um eine Aktualisierung der Stirnerschen Philosophie. Anhand seiner persönlichen Auseinandersetzung mit diesem Philosophen gelingt es ihm, die bei Stirner sozialdarwinistisch mißverstandenen Zentralbegriffe „Individualität“ und „Egoismus“ vom Kopf zurück auf die Füße zu stellen und sie von einer rücksichtslosen Durchsetzung partikularer Interessen abzugrenzen:
„Was ist das Besondere, das seine Ideen noch heute als Lebensphilosophie interessant macht? Es ist das Freimachen von allen inneren Zwängen und, darauf aufbauend, von allen äußeren, soweit das in dieser Gesellschaft möglich ist. In allererster Linie ist es die Erkenntnis, ich lebe für mich und nur mit, aber nicht für die anderen.“ (S.114)
Stirners Philosophie vermittle, so Krall, eine Einstellung zum Leben und die Erkenntnis, daß Veränderungen nur bei sich selbst beginnen können. Zugleich rät Stephan Krall zu einem behutsamen Umgang mit Stirners ichbezogener, keineswegs narzistischer Philosophie, „will man nicht alles und jedes rechtfertigen und gutheißen, wenn es nur freiwillig zustande kommt“ (S.115; etwa jüngst bei der Debatte Sadomasochismus und Anarchie) – und vergißt nicht, auf die patriarchale Ausrichtung von Stirners Philsophie hinzuweisen.
Feyerabend
Deutlicher als Max Stirner grenzte sich der „denkende Vagabund“ und Wissenschaftskritiker Paul Feyerabend (Th. Hinz, S.8) vom politischen Anarchismus ab. So schreibt Thorsten Hinz im Vorwort zu Feyerabends Thesen zum Anarchismus:
„Feyerabends Anarchismus speist sich nicht aus einem gesellschaftskritischen Empfinden oder Denken, sondern aus einer eher salonradikalen Ablehnung starrer Ordnungen und Regeln und einem Wohlwollen für Rebellentum, für Andersartigkeit, für suchendes Selbstbewußtsein.“ (S.14)
An alltäglichen sozialen Auseinandersetzungen teilzunehmen, lehnte Feyerabend ab – Massenbewegungen waren ihm stets ein Greuel. Wie gefährlich sein Denken ohne gesellschaftsanalytische Grundlage allerdings sein kann, zeigt sein salopper Vorschlag, auch dem Faschismus „eine Lebensmöglichkeit zu geben“ (zit. aus dem Vorwort von Thorsten Hinz, S. 14) – ein zwar konsequent aus seinem Wissenschaftsverständnis abgeleiteter, gleichwohl fataler Fallstrick liberaler Toleranz. In der vom Kramer Verlag in den 70er Jahren herausgegebenen Heftreihe „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ blieb dies auch nicht unwidersprochen – die Gegenposition vertrat damals Hans-Peter Dürr. Feyerabends falschverstandener Anarchiebegriff als Chaos und Ordnungslosigkeit und eines „anything goes“ steht einem libertären Verständnis von Ordnung ohne Herrschaft entgegen. Und dennoch zielt sein Plädoyer für direkte, allumfassende Demokratie, die lokal ihren Anfang nehmen soll, um schrittweise auch die Herrschaft der neuzeitlichen, europäischen Wissenschaft zu untergraben, letztlich auf eine Art spiritueller Anarchie und Subversion. Damit verband sich seine Aufforderung, ‚gegen den Strom‘ zu denken und zu leben. Eine ‚freie Gesellschaft‘ sollte, so Feyerabend, in BürgerInneninitiativen und diversen Interessenvereinigungen – lokal und dezentral – organisiert sein.
Paul Feyerabends letztlich liberalistisches Menschenbild gründet sich auf den Überlegungen des englischen Philosophen und Nationalökonomen John Stuart Mill (1806-1873) und dessen Schrift „Über die Freiheit“. Ausgehend von Mills Maxime, daß nur diejenigen Handlungen angemessen erscheinen, die das umfassende Glück der höchsten Anzahl von Menschen befördern, spricht Feyerabend dem Individuum ein weitreichendes Recht auf Selbstbestimmung zu. Der Wert freier Individualität wird so zum höchsten Gut. Staatliches Eingreifen sei allein dann gerechtfertigt, wenn Individuen die berechtigten Interessen anderer gefährden. Seine ersehnte freie Gesellschaft soll – und dies gehört sicherlich zu den Schwachpunkten seines ansonsten originellen Modells – vor allem durch eine neutrale Schutzmacht gewahrt werden, nämlich durch die Polizei. Deren Aufgabe besteht darin, den Plural gegen das Monopol einer einzigen Tradition sicherzustellen und allen Menschen gleichen Zugang zu den Zentren der Erziehung und anderen Knotenpunkten gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen. Die staatliche Polizeiexekutive soll durchaus parteiisch agieren und die schwächere Tradition jeweils vor der stärkeren schützen.
Spätestens hier beginnt das eigentliche Dilemma von Feyerabends Erkenntnissen für freie Menschen. Abgesehen davon, daß er die ökonomischen Zwänge vernachlässigt, die auch für sein Gesellschaftsmodell Voraussetzung sind, kann er das Problem der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen nicht lösen. Hier erweist sich Paul Feyerabend als klassischer Liberaler. So problematisiert er nicht, daß ein freier Zugang zu den Machtzentren für alle Traditionen sowie ein ungehinderter Austausch von Ideen und Waren letztendlich allein unter der Voraussetzung ökonomischer Unabhängigkeit möglich ist. Doch diese Überlegungen bleiben in Feyerabends Gesellschaftsverständnis weitgehend ausgespart.
Als gleichermaßen problematisch erweist sich seine durchaus sympathische Fürsprache zugunsten eines gesellschaftlichen Pluralismus aller erkenntnistheoretischen Überlieferungen. Unerwähnt bleibt bei ihm die Tatsache, daß die verschiedenen Traditionen die Welt nicht nur erkenntnistheoretisch unterschiedlich bewerten, sondern daß zu diesen Tradierungen auch Lebenspraktiken gehören, die unterschiedliche Macht- und Gewaltstrategien miteinschließen.
Warum sollten sich Libertäre eigentlich mit dem Querdenker Paul Feyerabend auseinandersetzen? Hierzu noch einmal der Herausgeber Thorsten Hinz:
„Die Beschäftigung mit seinem Denken bedeutet eine Herausforderung und einen Gewinn für jeden, der den kapitalistischen Vernebelungstaktiken unserer Tage die Stirn bieten will. Sein Mut, seine Vielschichtigkeit und vor allem seine Offenheit laden zu einer der besten Aufforderungen des abendländischen Philosophierens ein – zum denke selbst!“ (S.18)
Nur gegen die in ihrer Zeit jeweils verbindlichen Regeln und Konzepte lassen sich, so Feyerabend, epochemachende Gedanken formulieren. Wissenschaftliches Denken sollte pluralistisch sein, sich nicht allein auf die bestehenden wissenschaftlichen Methoden beschränken, sondern alle Wissenschaftstraditionen, zu denen er etwa auch die Hexenkünste, Voodoo-Praktiken, Astrologie, die Mythen der Hopi-Indianer usw. zählte, gleichberechtigt nebeneinander stehen:
„Anything goes – mach, was du willst: Es gibt keine Garantie, daß die gekannten Lebensformen uns das geben, was wir wollen, und daß die bekannten Formen des Irrationalen daran scheitern werden.“ (Paul Feyerabend, S.12)
Jochen Knoblauch, Peter Peterson (Hrsg.): Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt. Texte zur Aktualität von Max Stirner. Karin Kramer Verlag, Berlin 1996, 144 S., 24 DM.
Thorsten Hinz (Hrsg.): Paul Feyerabend. Thesen zum Anarchismus. Artikel aus der Reihe "Unter dem Pflaster liegt der Strand", Karin Kramer Verlag, Berlin 1996, 240 S., 29,80 DM.