Obwohl seit dem "Ersten internationalen Treffen für eine menschliche Gesellschaft und gegen den Neoliberalismus" in Chiapas, mitten in den Bergen des Südostens Mexicos, schon einige Zeit vergangen ist, bringen wir dennoch den folgenden Artikel einer Teilnehmerin, da wir ihn für wichtig halten. Etwa 3 000 Menschen aus über 40 Ländern diskutierten eine Woche lang über Politikverständnis, Ökonomie, Kultur, Zivilgesellschaft, Minderheiten und anderes. Was dieses Treffen für eine Bedeutung hat, ob dadurch Diskussionen weitergekommen sind - das steht zur Debatte. (Red.)
27.7.1996, Oventic, Chiapas. Nebel. 3 000 Menschen gemeinsam auf dem inzwischen dunklen Versammlungsplatz dieses Aguascalientes II harren gespannt der Dinge, die da kommen werden – für die Eröffnung des ersten Interkontinentalen Treffens werden sich die Inszenierer der EZLN wohl etwas Besonderes ausgedacht haben, entsprechend wird die Spannung aufgebaut. Was wird es sein? Marcos auf weißem Schimmel vor aufgehender Sonne, wie ein Gemälde in Öl zeigt? Heldenkult, ick hör dir trapsen.
Von den Bergen nähert sich leise Musik, kleine Lichter sind zu sehen. Und plötzlich, wie abgesprochen, lichtet sich der Nebel. Vom Berg nähern sich die „kleinen Lichter“ mit ihrer Kapelle, die „Bases de apoyo“, d.h. die zivile Unterstützungsbasis der EZLN aus den umliegenden Dörfern: Männer, Frauen, Kinder, Alte, ohne die in Chiapas kein Aufstand hätte stattfinden können und denen ihr Stolz noch unter den Tüchern auf den vermummten Gesichtern anzusehen ist.
„Ich weiß, es klingt paradox, daß eine bewaffnete, anonyme und illegale Kraft zur Stärkung einer zivilen, friedlichen und legalen Bewegung aufruft, um die endgültige Öffnung eines demokratischen, freien und gerechten Raums in unserem Land zu erreichen. Ich weiß, daß es absurd erscheinen mag, aber Sie werden mit mir übereinstimmen, daß, wenn es eins gibt, was dieses Land, seine Geschichte und seine Leute unterscheidet, es dieses absurde Paradoxon von Gegensätzen ist, die sich begegnen (die zwar zusammenstoßen, aber sich begegnen): Vergangenheit und Zukunft, Tradition und Moderne, Gewalt und Pazifismus, Militärs und Zivile. Anstatt zu versuchen, diesen Widerspruch zu negieren oder zu rechtfertigen, haben wir ihn einfach aufgenommen und anerkannt und versuchen unseren Gang seinem nicht ganz so willkürlichen Diktat unterzuordnen.“
(Marcos: Die EZLN lädt zur Teilnahme am Nationalen Demokratischen Konvent ein)
Die EZLN, das „Ejercito Zapatista de Liberacion Nacional“ (Zapatistisches Heer der Nationalen Befreiung), trat mit ihrem Aufstand am 1.1.1994, zeitgleich mit dem Inkrafttreten des NAFTA – Vertrages, kurz in das Interesse der Weltöffentlichkeit.
Diese Guerilla ist die erste, die nach eigenen Angaben nicht darauf aus ist, die Macht zu erobern, sondern einen demokratischen Freiraum im Mexico der Staatspartei zu erkämpfen. Ihre Waffen sollen dem Frieden dienen, ihre Vermummung ihnen Gesicht geben. Ihre stärkste Waffe ist das Wort, sie kämpfen für die Würde, für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit – für uns abgelutschte, bürgerliche Vokabeln, die in dem dortigen Zusammenhang eine neue Wirkung erzielen.
Dieser Kongreß, zu dem die EZLN im Frühjahr diesen Jahres durch ein konfuses Einladungsschreiben im typischen Marcos-Stil aufgerufen hatte, sollte einer weltweiten Diskussion um den Neoliberalismus und einer Vernetzung der unterschiedlichen Kämpfe dienen. Nachdem schon seit 1994 häufig unterschiedliche Treffen zur Formierung der „Zivilgesellschaft“ in Mexico stattfanden, sollte nun die ganze Welt an der Diskussion beteiligt werden. Größenwahnsinnig? Vielleicht. Aber immerhin kamen 3 000 Menschen in den Lakandonischen Urwald.
An fünf verschiedenen Orten wurde nach der gemeinsamen Auftaktveranstaltung drei Tage lang diskutiert, dann trafen sich alle wieder in La Realidad zum gemeinsamen Abschluß. Jeder kam also in 2- 3 zapatistische Dörfer, die relativ weit auseinanderliegen und gerade in der Regenzeit schwer zu erreichen sind. Immer wieder blieben die Busse unterwegs im Schlamm stecken, was uns ausreichend Möglichkeit bot, die Gegend wahrzunehmen.
Was allerdings die Diskussionen angeht – da gibt es einiges zu kritisieren. Ist denn die Vorstellung eines weltweiten Austausches nicht vielleicht etwas zu viel verlangt, wenn zumeist die Diskussionen in den einzelnen Ländern schon nicht vernünftig laufen? Ist es überhaupt machbar, „den“ Neoliberalismus ausdiskutieren zu wollen? Ist er wirklich der böse, gemeinsame Feind?
„Den“ Neoliberalismus gibt es so nicht. Man mag über den Kapitalismus in seiner neoliberalen Ausprägung reden, doch ist diese nicht weltweit dieselbe. Globalisierung der Märkte schön und gut – daraus auf eine Einheitlichkeit zu schließen, trifft nicht. Neben der Globalisierung des Kapitals und neuen Möglichkeiten der interkontinentalen Arbeitsteilung findet auch eine Berufung auf „Standorte“ statt, die durchaus Sinn macht, da nicht jede Firma sich überall gleichermaßen ansiedeln kann, zu unterschiedlich sind die strukturellen Gegebenheiten der verschiedenen Länder.
Antikapitalistische Bewegungen weltweit ähnlich globalisieren zu wollen und gleichzeitig den Begriff der „nationalen Befreiung“ unhinterfragt zu lassen, erscheint mir zumindest nicht ganz ausgegoren, zumindest nicht auf uns übertragbar.
Ein internationaler Austausch jedoch, der aus den neuen Bekanntschaften vom Treffen entstehen könnte – ja, bitte. Solange die Unterschiedlichkeit anerkannt wird, können ihm interessante Anregungen entspringen – verschiedene Kämpfe zu einem zusammenfassen zu wollen, was einigen KongreßteilnehmerInnen im Kopf herumzuschwirren schien, dürfte jedoch eine grobe Mißachtung der politischen Differenzen und verschiedenen Lebensumständen bedeuten.
Es ist nicht erstaunlich, daß nur wenig in Frage gestellt wurde – die Möglichkeiten dafür waren eingeschränkt. Eine allzu starre Organisation der Diskussionen hat viel von dem proklamierten freien Austausch verhindert. Vorher nicht zugängliche Redebeiträge, die häufig dasselbe wiederholten und sehr verkürzte Diskussionsmöglichkeiten, lange Fahrzeiten zwecks Präsenz der InternationalistInnen an möglichst vielen Orten auf Kosten der Zeit für inhaltliche Arbeit (wobei die Diskussionen in den Bussen auf einer anderen Ebene auch nicht zu unterschätzen sind), wenig Rücksicht auf notwendige Übersetzungen – der wirkliche Austausch fand am Rande und findet im Nachhinein statt. Dies ist jedoch kein Vorwurf, den man der EZLN machen kann, verantwortlich ist hier die mexikanische Vorbereitung und auch die TeilnehmerInnen, die nur selten aus den vorgegebenen Strukturen ausgebrochen sind.
Allein die Organisation war es nämlich nicht, woran es gehangen hat – der Austausch mußte leben von dem, was die Einzelnen mitbringen, und wo Unfähigkeit herrscht, auf das Wort zu verzichten, wenn eben dasselbe schon einmal gesagt wurde, wenn Redebeiträge nur wiederkäuen und sich nur selten bemühen, neue Ansätze zu suchen, liegt das an den TeilnehmerInnen. Ob sich die Diskussion im Nachhinein verbessern wird, muß sich zeigen. Verstaubtes gab und gibt es genug, mehr als ein verzerrter Spiegel von aktuellen Diskussionen war das Treffen nicht und konnte es nicht sein.
Helle Begeisterungsstürme konnte dieses Spiegelbild nicht auslösen – all das, was einen hier in der „Szene“ stört, fand sich dort natürlich wieder und noch einiges dazu.
Die Diskussionen blieben fast durchweg auf einem relativ niedrigen Niveau stehen, kurze Skizzen, kurzes Einverständnis oder Widersprüche, die unterschiedlichen Ansätze und Voraussetzungen der verschiedenen Gruppen wurden nicht thematisiert.
So drehte sich die „mesa 5“ (mesa heißt Tisch), die als Arbeitsgruppe über das Thema „In diese Welt passen viele Welten“, fast ausschließlich um die Autonomie indigener Völker und indigene „Identität“ (bei der die Frage danach, was „Identität“ eigentlich ausmacht, völlig außen vor blieb). Eine submesa besprach das Thema Migration und Exil und zog damit vor allem eine große Gruppe EuropäerInnen an. Über schwammige Forderungen nach universalen Menschenrechten und dem Vorschlag, eine Stelle zu gründen, die Menschenrechtsverletzungen an Minderheiten dokumentiert (was zum Teufel macht denn amnesty international seit 35 Jahren?) kam diese jedoch nicht hinaus.
Über der einhelligen Solidarisierung mit allen Unterdrückten dieser Erde à la „Wir sind alle schwarze, indigene Arbeiterfrauen aus von den Imperialisten ausgebeuteten Ländern“ wurde jeder Ansatz von triple oppression ignoriert, reale Verhältnisse schlicht übersehen.
In anderen Arbeitsgruppen wurden teilweise bessere Erfahrungen gemacht, fast einhellig waren jedoch die Klagen über die Organisationsstruktur, die Oberflächlichkeit der Diskussion wurde relativ oft bemängelt.
Die bei der Abschlußveranstaltung verlesenen Ergebnisse, die auch noch als Buch veröffentlicht werden, sind damit eine aufgesetzte Zusammenfassung der Diskussionen, die oft nur unzulänglich die Widersprüche wiedergibt. Jeder Versuch, diese zum Konsens zu erklären, geht an ihrer Entstehungsgeschichte vorbei.
Wenn dies alles auch vorhersehbar war – was bleibt?
War es eine reine Öffentlichkeitsaktion der EZLN? Dies sicher nicht, auch wenn die Pressewirksamkeit einen großen Anteil an den Inszenierungen hatte. Es geht für Chiapas in hohem Maße um den Schutz, den die nationale und internationale „Zivilgesellschaft“ den Zapatistas bietet. Da dies ihre einzige Chance sein dürfte zu überleben, ist es verständlich und richtig, ihn in den Mittelpunkt zu stellen.
Der EZLN ist jedoch auch abzunehmen, daß sie an einem ernsthaften Austausch interessiert ist – ohne diesen könnte alles recht schnell wieder im Sand verlaufen.
Die Berufung auf die vielzitierte „Zivilgesellschaft“ jedoch sollten wir hier nicht unhinterfragt übernehmen. Wo bitteschön sollte man hier denn so etwas wie eine Zivilgesellschaft finden? „Das Volk“ mit seinen immanent rassistischen und patriarchalen Denkweisen, das beim Anblick eines metropoleanen pasamontana – Trägers nach Ordnung, Recht und Sauberkeit schreit? Die Arbeiterklasse, die vor Bier und Sportschau den Unternehmern in den Arsch kriecht? Den konservativen Mexiko – Experten, der die Zivilgesellschaft für ihre Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften bejubelt?
So sehr man die „Isolierung der Linken“ auch betrauern mag – Mittel wie eine Volksbefragung, die von den Zapatistas regelmäßig auch auf ganz Mexico ausgedehnt genutzt wird, haben hier eher bürgerlichen, staatserhaltenden Charakter.
Trotz aller Kritik viel Positives (warum sonst sollte man sich mit dem Thema befassen?)
Wichtig für uns war sicher nicht zuletzt, einen Einblick in die Situation in Chiapas zu erhalten, der weit über Pressemeldungen hinausgeht. Ob es die kleinen Schikanen der Migracion, der mexikanischen Einwanderungsbehörde waren, die Zeitungsberichte über Angriffe der „Guardias Blancas“ auf Friedenscamps, die besorgte Frage, ob das Geräusch von Militärhubschraubern oder von Windmühlen stammte, der Anblick der Militärcamps ganz in der Nähe von La Realidad – auch für uns TouristInnen, die doch weitestgehend in Ruhe gelassen wurden, war die angespannte Lage spürbar.
Nach den anstrengenden Tagen war die Art, auch mit Musik und Tanz Politik zu machen, eindeutig ein Pluspunkt: Die Kulturveranstaltung zum Abschluß hatte Versöhnendes. Waren viele auch noch verärgert über kleine Dinge am Rande, wie die stundenlange pralle Nachmittagssonne, vor der man beim Plenum nicht in den Schatten fliehen durfte und dem Abhängen eines Frauentransparentes vor der Pressekonferenz, das eine traurige Lücke im Hintergrund der Bühne hinterließ und die Frage aufwirft, wie weit es den allen Reden zum Trotz tatsächlich mit einer antipatriarchalen Position aussieht, so stellte sich am letzten Nachmittag doch eine allgemeine Zufriedenheit und Wehmut über den nahen Abschied ein.
Vielleicht sind genau diese Erlebnisse letztendlich viel wichtiger als jede theoretische Diskussion, kommt es in der Hauptsache auf die neue Motivation für unsere hiesige Arbeit an.
Faßbare Ergebnisse? Ein Rundbrief auf Papier und im Internet, der sich als Diskussionsforum versteht, ist entstanden. Die Abschlußerklärung von La Realidad beinhaltete zwei Vorschläge: Ein zweites Treffen in Europa, über das inzwischen nachgedacht wird, sowie eine „consulta“ aller guten Menschen gegen den bösen Neoliberalismus, sozusagen für die Intelligenz und gegen die Dummheit – in der vorgegebenen Form wird sie hier nicht stattfinden. Voraussichtlich wird im nächsten Frühjahr ein Buch über den Kongreß und über die Auseinandersetzung mit „dem“ Zapatismus erscheinen. Viel mehr als ein kontinuierlicher Austausch wird nicht Ergebnis dieses Treffens sein – wenn dieser zumindest stattfindet, ist schon viel gewonnen. Er könnte neue Perspektiven des Internationalismus eröffnen:
„Um nicht falsch verstanden zu werden: es geht nicht darum, in Revolutionsromantik zu verfallen und sich immer wieder neu auf das jeweils aktuellste ‚revolutionäre Ereignis‘ in der Welt zu stürzen. Von Konjunkturanfälligkeiten dieser Art war die Internationalismusbewegung von Anfang an zu Genüge befallen. Trotzdem kann es für die eigene, oft so zähe Arbeit motivierend wirken, zur Kenntnis zu nehmen, wie viele Menschen in der ‚Dritten‘ Welt unter ungleich schwierigeren Bedingungen längst noch nicht resigniert haben und immer wieder nach neuen Mitteln und Wegen suchen, sich zur Wehr zu setzen.“
(Karl Rössel: Zwei Millionen Daumenabdrücke…, aus: iz3w Nr. 200)