Im Zuge der innen- und außenpolitischen Durchsetzung neuer Militärstrategien haben Regierung und Bundeswehr mit dem überfallartigen Kampfeinsatz am 14. März in Tirana ein weiteres Scheibchen ihrer Salamitaktik abgeschnitten. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg waren deutsche Soldaten „in ein Feuergefecht auf ausländischem Territorium verwickelt“ (Berliner Tagesspiegel) – und niemand hat’s gestört. Im Gegenteil: erschreckend ist die Reibungslosigkeit, mit der dieser rein nationale Bundeswehreinsatz durchgezogen werden konnte. Vergegenwärtigen wir uns die Stationen der Durchsetzung, damit sie zukünftig möglichst frühzeitig erkannt werden können.
Anarchie als Chaos und Gewalt
Erste Station: Ausrufung der Anarchie in Albanien. Die gestern noch bekannte Tatsache, daß der Bankrott albanischer Geldanlagefirmen Ergebnis albanischer Staatspolitik war, wurde in den Medien ganz plötzlich abgekoppelt von ihren Folgen. Die sogenannte „Auflösung des Staates“ als Schreckensbild blindwütig herumschießender RebellInnengruppen wird dann einer angeblichen staatlichen Ordnung gegenübergestellt – als hätte das eine nichts mehr mit dem anderen zu tun. Schlimm, daß Journalisten wie Erich Rathfelder, die sich in grauer Vorzeit selbst mit dem militanten Anarchismus befaßten, in den Chor derer, die im albanischen Chaos Anarchie entdeckten, miteinstimmten:
„Die albanische Rebellion schafft nicht nur eine Anarchie – wo alles drunter und drüber geht -, sie knüpft in ihren Formen tatsächlich an Traditionen des klassischen Anarchismus an.“ (taz, 14.3.)
Es ist die Rache des gewaltsamen Anarchismus, daß die in ihm Sozialisierten, aber heute Systemintegrierten, derart konfuses Zeug von sich geben, welches dann gar ein ehemaliger Marxist-Leninist richtigstellen kann. Christian Semler, taz 17.3.:
„Diese Situation mit vorrevolutionären, gar mit Zeiten des politischen Anarchismus zu vergleichen heißt, die Anomie, die Herrschaft der Gesetzlosigkeit, mit der Gesellschaft in Aktion zu verwechseln. Als die Anarchosyndikalisten bzw. die Anarchisten während des Spanischen Bürgerkriegs ihre befreiten Gebiete errichteten, stützten sie sich auf ein System eingespielter Institutionen, auf verbindliche moralische und politische Normen.“
Ausschaltung von Öffentlichkeit und Parlament
Zweite Station (und angesichts solch konfuser Debatten um den Anarchiebegriff eigentlich überflüssig): Ausschaltung der Öffentlichkeit durch Geheimhaltung des Militäreinsatzes. Die normative Kraft des Faktischen setzte sich am Tag des Kampfeinsatzes reibungslos durch. Unmittelbar davor wurden die Parlamentsabgeordneten zwar unterrichtet, gleichzeitig aber zur Geheimhaltung verdonnert, was auch die Bündnisgrünen mitmachten. Die PDS – anscheinend noch der als am unsichersten angesehene Kandidat – wurde sicherheitshalber erst gar nicht informiert. Als alles gelaufen war, wurde eine Woche später noch eine verfassungsrechtlich vorgeschriebene Alibisitzung des Parlaments mit akklamierender Abstimmung abgehalten, wozu etwa die Bündnisgrünen schon vorher angekündigt hatten, daß sie sich enthalten – also nicht dagegen stimmen – werden.
Dieses Vorgehen zeigt: wer bei nationalistischen Alleingängen der Bundeswehr noch auf’s Parlament vertraut, ist selber schuld. Und: wer jetzt entrüstet die Demokratie gegen ihre eigene Regierung in Stellung bringt und meint, das Bundesverfassungsgericht habe doch extra eine vorherige Parlamentssitzung angeordnet, übersieht, daß gemäß dem Verfassungsgerichtsurteil die Regierung „bei Gefahr im Verzug“ jederzeit so handeln darf. Der Tirana-Kampfeinsatz bricht also nicht den Verfassungsstaat und seine demokratischen Regeln, sondern führt sie aus, legal und gesetzestreu. Schließlich: alle rechtsstaatlich und systemintegrativ vorgebrachten Versuche von Friedensinitiativen, doch bitte zivile Eingreifmöglichkeiten vor den militärischen wenigstens mal auszuprobieren, sind mit Tirana in geradezu offensichtlicher Weise ad absurdum geführt worden. Wer jetzt noch meint, mit Politikberatung ohne den Umweg des Aufbaus einer neuen radikal-antimilitaristischen Bewegung irgendwelchen Druck entfalten zu können, verschließt bewußt Augen und Ohren vor der Realität.
Sind Soldaten noch Mörder?
Dritte Station: Absicherung durch Legitimation nach innen und nationales Pathos. Bisher durften sich die deutschen Botschaftsangehörigen und im betroffenen Land lebenden Deutschen in Kriegs- und Krisenzeiten in ihren Hotels und Wohnungen relativ sicher fühlen. Niemand war etwa in Kambodscha, Kroatien, Bosnien, Ruanda und Zaire auch nur auf die Idee gekommen, sie wären unmittelbar bedroht und müßten sofort „befreit“ werden. Während also Deutsche in solchen Situationen bisher weniger bedroht waren als etwa Asylsuchende hierzulande zur Zeit der Pogrome von Rostock, während also demnach ein Kampfeinsatz Zaires in Rostock mehr Berechtigung gehabt hätte als ein deutscher in Tirana, wird nun plötzlich die physische Anwesenheit von Deutschen in irgendeiner Krisenregion schon mit deren Bedrohung und Forderung nach militärischer Befreiung gleichgesetzt. Daß unter den 116 Menschen, die „befreit“ wurden, nur 20 Deutsche, aber 16 Albaner waren, die gleich in Montenegro wieder aussteigen mußten, und daß ca. 15 deutsche Botschaftsangehörige trotz „Befreiung“ durch das eigne Heer lieber gleich in Tirana blieben – sie fühlten sich realistischerweise gar nicht bedroht – interessiert da niemanden mehr. Und daß die Schüsse in Tirana zwei Tage später bereits aufhörten, ist für die öffentliche Legitimation ebenfalls unerheblich. Wie die unfruchtbare Frau, die nach der Leihmutter schreit, wird das deutsche Botschaftspersonal, das nach Befreiung schreit, künftig zu jeder Legitimation des Kampfauftrages vorgeführt werden.
Garniert wurden die zurückkommenden Soldaten durch das nationalistische Triumphgeschrei der Boulevardpresse. „Die deutschen Helden von Tirana“, titelte Bild am Sonntag, und zitierte Oberst Glawatz: „Die kürzeste Art, das Feuer zu eröffnen, ist, wenn der Kommandeur selbst schießt. Deshalb habe ich als erster mit der Pistole geschossen und gerufen: Feuer frei!“ Die Berliner Zeitung titelte „Bundeswehr schießt Deutsche frei“, Die Welt „Rettung aus der Hölle von Tirana“ – in solchen Zeiten weiß der Staat, was er an seiner Springer-Presse hat.
Nicht vergessen wurde auch der Hinweis, daß dadurch der Spruch „Soldaten sind Mörder“ ein- für allemal widerlegt sei. Alles lief also reibungslos im Sinne von Regierung und Militär. Da passierte doch noch etwas Unvorhergesehenes: am 17.3. – mitten während der nationalistischen Jubelarien – verprügelten in Detmold mit Baseballschlägern ausgestattete Wehrpflichtige, zum Teil in Uniform, einen Italiener und zwei türkische Jugendliche. Pikanterweise waren auch Wehrpflichtige dabei, die in Kürze zum Sfor-Einsatz nach Bosnien aufbrechen sollten. Schnell beeilten sich alle, Regierung und Medien, darauf zu verweisen, daß die Täter „20 Jahre von der Gesellschaft geprägt wurden und erst zwei Monate bei der Bundeswehr“ seien. Doch der Schaden war nur noch defensiv zu kitten: es solle nun nicht wieder pauschal die Bundeswehr verdammt werden. Zum Glück steckt der antimilitaristische Spruch „Soldaten sind Mörder“ schon so tief im gesellschaftlichen Bewußtsein, daß Detmold wie eine Widerlegung der Legitimationsideologien von Tirana wirkte. Das ist das einzig Positive in dieser Zeit antimilitaristischer Ohnmacht – und den Opfern von Detmold wird’s wenig nützen.