Muß der Anarchismus den Widerstand gegen den "Sozialabbau" unterstützen und ist er überhaupt noch Anarchismus, wenn er das tut? Oder ist diese Frage schon falsch gestellt? Mit dem komplexen Beziehungsgeflecht von libertären Positionen zum Sozialstaat vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen um eine Entkoppelung von Staat und Markt befassen wir uns in dieser Ausgabe. (Red.)
Daimler-Benz hat gegenüber dem ersten Vierteljahr 1996 in den ersten drei Monaten 1997 seinen Umsatz von 23″6 Milliarden DM auf 25 Milliarden erhöhen können und erwartet nun eine beträchtliche Erhöhung des Vorjahresbetriebsgewinns von 2,4 Milliarden DM. Ein Ausgabenwachstum hat das Kassendefizit des Bundes nach dem Bericht der Bundesbank von 20,5 Milliarden DM im ersten Quartal 1996 auf nun 39 Milliarden DM im gleichen Zeitraum 1997 wachsen lassen. (1)
Die Konzerne steigern die Profite und der Schuldenberg der Staaten wächst – auch weltweit. Die Gesamtverschuldung aller Staaten beläuft sich heute auf die unvorstellbare Summe von 33 100 Milliarden Dollar, 130 % des Bruttoinlandprodukts aller Länder der Erde. Überall sinken die Reallöhne, trotzdem nimmt die Massenarbeitslosigkeit zu, werden weiter Arbeitsplätze abgebaut, Betriebe geschlossen, Branchen verlagert. Nur den großen transnationalen Konzernen geht es prima: „Die Gewinne der 500 größten Unternehmen sind um 15 Prozent gestiegen, ihre Umsätze nur um 11 Prozent“. (2) Aggressive Konzernzusammenschlüsse nach dem bei der Krupp-Thyssen-Vereinigung bekanntgewordenen Muster werden von Banken und Investmentbanken gefördert und durch Verschuldung vorfinanziert. Märkte werden neu aufgeteilt, Einflußsphären von immer weniger Großkonzernen gesichert – die Konzentration des Kapitals schreitet voran, während der Sozialstaat abgebaut wird.
Sozialstaat gegen Marktradikalismus
Daß die kapitalistische Marktwirtschaft eine Kapitalkonzentration mit sich bringt, wurde auch schon in den ökonomischen Theorien des letzten Jahrhunderts analysiert. Doch es war der Staat, der die nationalen Kapitale vor ausländischer Konkurrenz schützte, koloniale Einflußsphären, neue Absatzgebiete und den billigen Rohstofftransfer militärisch absicherte und sich dafür ausbezahlen ließ. Die Unterdrückung und Befriedung der innenpolitischen Opposition und freiheitlicher oder sozialistischer Bewegungen sollte sich das Kapital zumindest in den industriekapitalistischen Ländern etwas kosten lassen: in ihrem eigenen Interesse wurden Unternehmen besteuert, ArbeiterInnen gegen Krankheit und Alter geschützt und das Los der Arbeitslosen durch Versicherungsgelder und schließlich Sozialhilfe gerade so erträglich gemacht, daß Revolten vermieden werden sollten. Es war der Sozialstaat, durch den sich staatliche Organisation im 20. Jahrhundert grundlegend von der stärker repressiven Qualität des Staates im 19. Jahrhundert unterschied. Und selbst als der Konzentrationsprozeß des nationalen Kapitals und seine Expansion jäh gestoppt wurden dadurch, daß der deutsche Staat in diesem Jahrhundert zwei Kriege verlor, reorganisierte sich mit dem Kapitalismus auch wieder der Sozialstaat: die Weimarer Reichsverfassung kannte sogar soziale Grundrechte, während das Sozialstaatsprinzip in der Bundesverfassung von 1949 lediglich ein Postulat ohne nähere Bestimmungen ist, aber sich die BRD immerhin nach Art. 20 und 28 GG als „sozialer Rechtsstaat“ definiert. (3) Manche rechtsstaatlichen IdealistInnen meinen in der gegenwärtigen Sozialstaatsdiskussion gar, der Sozialstaat könne gar nicht abgebaut werden, weil es einen Rechtsanspruch eines jeden Individuums auf Schutz vor Hunger und Obdachlosigkeit, auf unentgeldliche Krankenbehandlung und gar auf Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben gebe. (4) Sozialdemokratische und bürgerliche SozialwissenschaftlerInnen wie JournalistInnen haben den Sozialstaat wie übrigens auch den autoritären „Real-Sozialismus“ als einen Mechanismus beschrieben, der gegen die reine Willkür des kapitalistischen Profitstrebens erfolgreich in Stellung gebracht werden konnte:
„Wohlfahrtsstaat und Sozialismus haben dieselben Ahnen, im Prinzip dieselbe Ethik und schlagen denselben Staatsinterventionismus zur Lösung wirtschaftlicher Probleme vor. (…) Beide gehen von einem ‚Recht auf Arbeit‘, ‚Recht auf Wohnung‘, ‚Recht auf Bildung‘, ja sogar möglichst einem ‚Recht auf gewohnte Lebenshaltung‘ durch öffentliche Bereitstellung von Gütern, Dienstleistungen oder monetären Zuwendungen aus. Beide leben vom Widerspruch gegen den Markt, gegen das, was sie ‚Egoismus‘ und ‚Ellenbogengesellschaft‘ nennen.“ (5)
Seit geraumer Zeit ist nun die Rede davon, daß der staatsinterventionistische Eingriff in die kapitalistische Wirtschaft zum Zwecke der sozialen Abfederung ihrer Folgen nicht mehr greife. Der Staatssozialismus ist 1989 quasi implodiert, doch auch der klassisch sozialdemokratische Sozialstaat in den westlichen Industriestaaten steckt spätestens seit der ersten Ölkrise 1973 in immer wiederkehrenden Krisen. Noch zu Zeiten der sozialdemokratisch geführten Regierung in Bonn begann die finanzielle Beschneidung jener sozialstaatlichen Leistungen, auf die gerade die SPD so stolz war. Gleichzeitig waren damit Steuererleichterungen für die Kapitalunternehmen zur Erhöhung von deren „Investitionsbereitschaft“ und Forschungssubventionierungen verbunden. Kapitalistische Lobbyarbeit bis hin zu Korruptions- und Bestechnungsskandalen wie der Flick-Affäre sorgten dafür, daß der Staat die Gelder für seine Sozialleistungen von ArbeiterInnen und SteuerzahlerInnen beiholte – oder sie eben kürzte. Das Gerede vom „Sozialabbau“ ist also nicht neu, sondern begleitet uns seit langen 25 Jahren – und ebenso lange währt der anpasserische, weitgehend erfolglose gewerkschaftliche Widerstand gegen die „Sparpolitik“. Zynisch formuliert: gemessen an dem, wie lange schon Widerstand gegen den „Sozialabbau“ geleistet wird, dürfte vom Sozialstaat schon längst nichts mehr übrig sein. Wo also liegt die spezifische Dramaturgie der Gegenwart? Warum werden auch AnarchistInnen immer mehr dazu gedrängt, nun auch den Sozialstaat zu verteidigen?
Chomskys Verteidigung des Staates gegen die entfesselte Willkür des Kapitals
Der bekannte US-amerikanische Anarchist Noam Chomsky sieht die neue Qualität des Kapitalismus in dessen transnationaler Ausdehnung seit 1989 und vor allem in der Entkoppelung von Markt und Staat. Wie im 19. Jahrhundert ist das Kapital heute entfesselt und es gelingt dem Sozialstaat immer weniger, ihm Almosen abzutrotzen. Daher die ständig steigenden Gewinne der transnationalen Konzerne und die dagegen wie eine Schere aufklappende zunehmende Verschuldung der Staatshaushalte. Sozialstaatliche Politik rücke heute nicht mehr der Willkür des Kapitals zuleibe, sondern setze das kapitalistische Rollback von oben nach unten bis hinein in die Kommunalpolitik um. Als Beispiel nennt Chomsky u.a. die Politik des Bürgermeisters von New York, Rudolph Giuliani:
„Reduktion der Besteuerung der Reichen (’sämtliche Steuersenkungen des Bürgermeisters nützen der Wirtschaft‘, bemerkte die New York Times im kleingedruckten Teil) und Erhöhung der Besteuerung der Armen (verborgen als Anstieg in den Tarifen für den öffentlichen Verkehr für Schulkinder und Werktätige, höhere Schulgelder an öffentlichen Schulen usw.). Verbunden mit tiefgreifenden Einschnitten bei öffentlichen Mitteln, die den allgemeinen Bedürfnissen der Bevölkerung dienen, sollte diese Politik den Armen helfen, anderswohin zu gehen, erklärte der Bürgermeister.“ (6)
Wir brauchen gar nicht so weit zu blicken, um Vergleichbares bei den Sozialstaatsdiskussionen der BRD zu finden. Anfang April wurde etwa die weitere Senkung der Sozialhilfe vorgeschlagen, um das „Lohnabstandsgebot“, den erklärten Unterschied zwischen Lohnniveau und Sozialhilfe, aufrechtzuerhalten. Wenn die Reallöhne sinken, werden nicht etwa von den riesenhaften Gewinnen der Unternehmen sozialstaatliche Abgaben eingefordert, sondern es wird an der sozialstaatlichen Absicherung der Bedürftigsten gekürzt. Das geht heute sogar soweit, daß angefangen wird, die Vermögensverhältnisse von SozialhilfeempfängerInnen festzustellen, weil deren Vermögen 2 500 DM nicht überschreiten darf. In England gibt es bereits Möglichkeiten, NachbarInnen anonym zu denunzieren, wenn sie als SozialhilfeempfängerInnen erkennbar über ihre Verhältnisse leben.
Der Staat, so nicht nur Chomskys These, sondern etwa auch diejenige des sozialistischen Theoretikers Joachim Hirsch (7), sei zu wirtschaftlicher Steuerung gar nicht mehr in der Lage, er handle nur noch nach weltmarktabhängigen „Sachzwängen“. Ein „nationaler Wettbewerbsstaat“ entwickle sich im Zuge der bekannten „Standortdebatten“, der sich dadurch auszeichne, daß er möglichst kapitalfreundliche Rahmenbedingungen biete – Sozialstaatsstandards zählen dazu nicht.
Chomsky provozierte einen grundsätzlichen Streit mit dem Ökoanarchisten Murray Bookchin, weil er zwar langfristig an den libertären Visionen festhalten wolle, aber kurzfristig nahezu das Gegenteil für nötig halte:
„Meine kurzfristigen Ziele liegen in der Verteidigung und sogar Stärkung von Elementen der Staatsautorität, die, obwohl in grundlegender Weise illegitim, gerade jetzt von kritischer Notwendigkeit sind, um den heftigen Anstrengungen, den bei der Ausdehnung von Demokratie und Menschenrechten erreichten Fortschritt ‚zurückzurollen‘, zu begegnen. (…) Ich denke, daß in der heutigen Welt die Ziele eines engagierten Anarchisten darauf gerichtet sein sollten, einige der Staatsinstitutionen gegen den Angriff auf sie zu verteidigen und dabei gleichzeitig zu versuchen, sie für mehr tatsächlich relevante Teilnahme der Öffentlichkeit zu öffnen.“ (8)
Chomsky will durch das Erlernen demokratischer Kontrolle unter öffentlichem Schutz letztlich dazu vordringen, demokratische Kontrolle dereinst auch wieder auf den wirtschaftlichen Bereich auszudehnen.
AnarchistInnen und Sozialstaat
An Chomskys Argumentation sind meines Erachtens mehrere Widersprüche ganz offensichtlich. Wenn es tatsächlich eine Entkoppelung von willkürlich agierendem Marktradikalismus und Staat gibt, der Staat also sowieso wirtschaftlich keine Eingriffsmöglichkeiten mehr hat, warum dann den Sozialstaat überhaupt verteidigen? Gerät libertäre Politik auf diese Weise nicht in sozialdemokratisches Fahrwasser und droht, darin unterzugehen? Heraus kommt bei solchen kurzfristigen Taktiken letztlich doch nur die Renaissance der Staatlichkeit im Bewußtsein der Beherrschten:
„Letztlich geht es um eine Theorie des Verhältnisses von Markt und Staat unter den Bedingungen kapitalistischer Globalisierung. In einer eigentümlichen Schlichtheit der Analyse wird der Kollaps der politischen Regulation konstatiert und Staatlichkeit lediglich neu eingefordert. Auf diesem Weg wird die Idee einer allein durch Staatlichkeit konstituierbaren Gesellschaft transportiert.“ (9)
Ein zunächst noch als undemokratisch beschriebener Staat soll unter dem Schutz zu verteidigender sozialstaatlicher Institutionen gerade demokratisiert werden und diese Demokratie dann auf den wirtschaftlichen Bereich ausgedehnt werden. Einmal davon abgesehen, daß das Militär und die patriarchale Familie ebenso ihrer Demokratisierung harren wie die Wirtschaft: hier wird das Bewußtsein auf die potentiell soziale und freiheitenschützende Funktion des Staates gerade hingelenkt und dort verankert. Doch das ist keineswegs neu, sondern war bereits Bestandteil libertärer Kritik des Sozialstaats.
Der Anarchismus des 20. Jahrhunderts hatte es im Gegensatz zu seiner ersten Phase als Massenbewegung im 19. Jahrhundert nicht mehr nur mit primär unterdrückenden Funktionen des Staates zu tun, die den Haß auf den Staat leicht erzeugten. Nun, im 20. Jahrhundert, war der Anarchismus gerade mit der Sozialstaatsfunktion konfrontiert. Bereits manche Diskussionsbeiträge innerhalb der FAUD, der anarchosynidkalistischen Gewerkschaft der 20er Jahre, etwa Rudolf Rockers „Der Kampf ums tägliche Brot“ von 1935 (10) versuchten, sich dem Problem zu stellen. In den 50er Jahren befaßten sich u.a. Helmut Rüdiger und die ihn beeinflussenden Diskussionen der schwedischen libertären Gewerkschaft SAC mit dem „Freiheitliche(n) Sozialismus im Wohlfahrtsstaat“, so der Titel einer ins Deutsche übersetzten Broschüre von Evert Arvidsson. Überhaupt zu berücksichtigen, daß der Staat im 20. Jahrhundert von den meisten Menschen in den Industrienationen nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen wird, wurde schließlich auch Ausgangspunkt graswurzelrevolutionärer Analysen, etwa zu „Staatlichkeit und Anarchie heute“:
„Da der Staat mehr und mehr gesellschaftliche Schutzfunktionen übernommen hat, erscheint er als einziger Garant von Schranken gegen eine schrankenlose Willkür privater und partikularer Gewalten, als Schützer der Schwachen, der Natur … – gerade gegen den ökonomischen Expansionismus und die autoritäre Politik, die er tatsächlich verkörpert.“ (11)
Die Frage war aber weniger, ob der Anarchismus dieses Problem thematisierte, sondern wie er darauf reagierte, reformistisch (Chomsky, aber auch schon Rüdiger) oder doch auf eine neue Weise revolutionär? Denn immerhin gab es ja auf dem Höhepunkt funktionierender Sozialstaatsmechanismen den Pariser Mai von 1968 und die neuen sozialen Bewegungen, die in den frühen 70er Jahren mit Frauen- und Anti-AKW-Bewegung begannen und viele neue, gewandelte, trotzdem anarchistische Elemente, kulturelle Formen (von Hippie bis Punk), Gruppen und Aktions- bzw. Organisationsformen entwickelten. Warum konnte sich der Anarchismus durch und während der Hochzeit des Sozialstaates, die – wie wir wissen – immer kurz vor dem Fall kommt, so vergleichsweise frisch und rundumerneuert präsentieren? Nicht weil soziale Absicherung etwa vom Anarchismus bekämpft worden wäre – das traf keineswegs auch nur den Ansatz eines gesellschaftlichen Bedürfnisses in den Industrienationen. Sondern weil sich zeigte, daß im Sozialstaat nicht tatsächliche Demokratie, Basisdemokratie oder ähnliches verwirklichbar war, sondern daß der Sozialstaat im Kern bürokratisch war, zu einer Enteignung von Subsistenz- und Selbstorganisationsfähigkeiten führte und vor allem: weil finanzielle Zuwendung immer und unmittelbar mit sozialer Kontrolle verknüpft war. Die Bürokratisierung des Sozialstaats basierte auf kontrollpolitischen Erfassungen wie Volkszählung, Rasterfahndung, Registrierung, Verrechtlichung aller Lebensbereiche. Je differenzierter die gesellschaftliche Organisation, je bürokratischer der Apparat, der die Chose am laufen hielt, desto hysterischer die Reaktion auf oppositionelles Verhalten, das irgendwo einen Keil in die verzahnten Abhängigkeiten treiben konnte. Atomstaat, Polizeistaat, „Sicherheitsstaat“ (Joachim Hirsch in den 70er Jahren) waren die unabwendbaren Begleiter des Sozialstaats selbst auf dem Höhepunkt seiner Ausformung.
Renaissance der Nationalstaatlichkeit und kurzfristige Aufgaben des Anarchismus
Nun ist es allerdings so, daß die Funktionen der Staatlichkeit gegenwärtig keineswegs gegen Null tendieren, nicht mal auf dem Sektor des wirtschaftlichen Staatsinterventionismus: daß etwa die USA seit 1992 eine wirtschaftliche Blockadepolitik gegen Kuba fährt, wo Kuba doch gerade Handel treiben und seinen Markt wie China öffnen will, daß jüngst Gesetze gegen Investitionen im Iran und in Libyen verabschiedet wurden oder auch politische Manöver gegen China den Wirtschaftsinteressen der US-Konzerne ungelegen kommen, weist zwar auf eine intakte ideologische Funktionsfähigkeit des US-Staates hin. Auch in der BRD wird zukünftig die militärische Absicherung nationaler und wirtschaftlicher Interessen durch die Bundeswehr die Funktionen des Staates eher ausweiten als reduzieren. Schließlich zeigt die Renaissance des Nationalismus im Krieg von Ex- Jugoslawien, daß staatliche Rahmenbedingungen heute wichtiger denn je sind, um etwa einen relativen Wohlstand von EU-Randgebieten wie Slowenien und Kroatien mit sicherem, deutschfreundlichem Investitionsklima von wirtschaftlich und sozial „wertlosen“ Gebieten wie Albanien abzugrenzen.
Bei der gegenwärtigen Diskussion um eine anarchistische Unterstützung des Kampfes gegen „Sozialabbau“ geht es also nicht um obsolet gewordene staatliche Funktionen, und auch nicht um die Sinnhaftigkeit sozialer Absicherungen. Solange die Selbstverwaltungs- und Selbstorganisationsfähigkeiten des Großteils der Bevölkerung so verkümmert und gering sind wie in der BRD heute, ist die finanzielle Absicherung durch sozialstaatliche Restbestände einer rechtsnationalistischen Organisierung der Opfer in Rackets selbstverständlich vorzuziehen. Und auch für die USA ist die anarcholiberalistische Kritik des Sozialstaats der „Libertarians“ meines Erachtens mit Chomsky durchaus als zynisch gegenüber den Opfern zu bezeichnen. (12) Die Alternative Sozialstaat oder anarchistische Selbstorganisation ist falsch, aber auch der von Chomsky ausgemachte Widerspruch kurzfristiger Ziele versus langfristiger Visionen ist falsch – und er war es schon immer: als die US- ArbeiterInnen im 19. Jahrhundert für den 8-Stunden-Tag agitierten, sorgten die Libertären dafür, daß durch die direkte Aktion und die Formen der dabei sich entwickelnden Selbstorganisation das kurzfristige Ziel nicht als Widerspruch, sondern als Teil, als Zugeständnis, als Vorbereitung auf die Vision „freiheitlicher Sozialismus“ verstanden wurde. Die libertäre Differenz zur sozialdemokratischen Verteidigung des Sozialstaats liegt in der strategischen Perspektive, die sich aus unterschiedlichen Kampf- und Organisationsformen ergibt. Dazu gehört es allerdings, mit anarchistischem Selbstbewußtsein gerade an denjenigen Punkten aufwarten zu können, an denen die Gewerkschaften gemeinhin kapitulieren, etwa wenn Betriebe nicht mehr auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein können oder Unternehmensverbände mit Kapitalabwanderung drohen. Ein libertäres Selbstbewußtsein unter ArbeiterInnen und Arbeitslosen würde auf solche Drohungen hin nicht kleinbeigeben oder in nationalistische oder rassistische Regression verfallen, sondern Vertrauen in die bei sozialen Kämpfen entdeckten und entwickelten Selbstverwaltungsfähigkeiten fassen: soll das Kapital doch abwandern, wir bleiben hier!
Davon sind wir durch die bürokratisch-entmündigende Form gewerkschaftlichen Protestes gegen „Sozialabbau“ heute weit entfernt. Dabei ist es durchaus möglich, daß sich die auseinanderklaffende Schere zwischen Kapitalprofiten und staatlicher Verschuldung weiter öffnet, vielleicht sogar in einen Crash oder einen Krieg – etwa mit islamistischen Ländern – mündet. Das bewußtlose Publikum kann mit den uns AnarchistInnen so skandalös ungerecht erscheinenden Tendenzen der Kapitalkonzentration nichts anfangen: die Mystifikationen milliardenschwerer Gewinne transnationaler Konzerne werden solange nicht durchschaut wie ein gewisses Niveau individuellen Lebensstandards gesichert bleibt, wenn es sein muß auf Kosten der Natur, der Frauen, der ImmigrantInnen, der Menschen in der „Dritten Welt“. Wenn es allerdings zu plötzlichen Staatspleiten wie in Albanien kommt oder anderweitig Privilegien durch plötzliche Schläge weggefegt werden, kann die trügerische Ruhe sehr schnell kippen. Strategisch geht es um die Frage, wohin sich das Bewußtsein der Opfer des laufenden Prozesses orientiert: hinein in die Staatlichkeit, in die entmündigte Abhängigkeit, die, wenn der Sozialstaat tatsächlich zusammenbricht, nur den Ausweg zu Willkür, Rackets, individualistisch-bornierter wie nationalistischer Überlebenssicherung, notfalls durch bewaffnete Gruppen oder mafiose Strukturen wie etwa in Rußland, zuläßt. Oder: hinaus aus der Staatlichkeit durch die anarchistische Vorbereitung dafür, den Sturz aus dem Sozialstaat aufzufangen, zu mildern und den Widerstand gegen die wirklich Schuldigen zu organisieren. Nicht unter staatlichem Schutz – wie Chomsky meint – kann das Einüben basisdemokratischer Fähigkeiten gedeihen, sondern gerade außerhalb und dagegen. Wenn Chomsky meint, das gegenwärtige Rollback versetze die Menschen in die Lage, in der sie im 19. Jahrhundert schon einmal waren, dann kann anarchistische Politik gerade nicht in der „Stärkung von Elementen der Staatlichkeit“ bestehen, sondern in dem Beginnen von Bewußtseinsarbeit für die radikale Alternative zum Sozialstaat. Wir brauchen eine neue Strategie der anarchistischen „Eroberung des Brotes“, wie Kropotkin sie genannt hatte. Anarchistische Selbstverständlichkeiten des 19. Jahrhunderts müssen zwar nicht platt auf heute übertragen, aber doch in ihrer Gerechtigkeit und ihrer damaligen Selbstverständlichkeit überhaupt wieder ins Gedächtnis und Denken der Menschen geholt werden. Im Mittelpunkt steht die Propaganda für die Idee der Expropriation, die sozialistische Enteignung – im Gegensatz zur autoritär-kommunistischen Verstaatlichung. Es ist m.E. Aufgabe der AnarchistInnen, die Expropriation überhaupt erst wieder denkmöglich zu machen. Nehmen wir zum Beispiel die Unentgeldlichkeit der Wohnung. Kropotkin hat das Bewußtsein dafür auf folgende Weise geschärft:
„Das Haus ist nicht vom Eigentümer erbaut worden; es ist aufgerichtet, geputzt, tapeziert worden von Hunderten von Arbeitern… (…) Der Wert eines Hauses in bestimmten Vierteln von Paris beträgt eine Million, nicht weil es für eine Million Arbeit enthält, sondern weil es in Paris liegt; weil seit Jahrhunderten Arbeiter, Künstler, Denker, Gelehrte und Schriftsteller ihre Mühen vereinigt haben, um Paris zu dem zu machen, was es heute ist… (…) Wer hat da das Recht, den kleinsten Teil dieses Terrains oder das letzte der Häuser sein Eigen zu nennen, ohne eine schreiende Ungerechtigkeit zu begehen? Wer hat da ein Recht, das kleinste Teilchen des gemeinsamen Erbteils zu verkaufen, an wen es auch sei?“ (13)
Dasselbe wäre über Bekleidung, Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und schließlich Besitzverhältnisse von Produktionsmitteln allgemein zu sagen. Dies gilt es, zunächst einmal wieder als Idee unter die Bevölkerung zu bringen. Warum sollten durch „Sozialabbau“ Betroffene, die sich kein Haus und keine teure Mietwohnung mehr leisten können, nicht zum Mittel der Hausbesetzung greifen, wenn die Zeit reif ist? Es kommt darauf an, diese Ideen jetzt zu verbreiten, sonst treffen kommende Brüche alle so unvorbereitet wie 1989, als die massenhafte Umbruchssituation schneller kam als alle vermuteten, aber die Inhalte der Ökologie- und Oppositionsgruppen so wenig verbreitet und Basisdemokratie so wenig eingeübte Praxis war, daß westliche Ideologien leichtes Spiel hatten – nur daß es jetzt wahrscheinlich regressive, chauvinistische und militaristische Ideologien (wie etwa in Albanien, wo sich militaristische, mafiose und emanzipative Elemente auf noch unübersehbare Weise vermengen) sein werden. Das heißt nicht, daß gewerkschaftlicher Widerstand gegen „Sozialabbau“ von AnarchistInnen bekämpft werden soll, er kann sogar Zeit für die jetzt notwendige libertäre Bewußtseinsarbeit bringen. Aber gerade für die kurzfristige anarchistische Taktik ist keine Zeit mit Staatlichkeitshirngespinsten mehr zu verlieren. Kropotkin, um nochmal beim Beispiel der Wohnung zu bleiben, meinte, das Opfer der Eigentumsverhältnisse sollte „wissen, daß eine Mietsfreiheit nicht allein die Folge einer zufälligen Desorganisation der exekutiven Macht sein darf (wie etwa 1989, als es zu zeitweiligen Massenhausbesetzungen in Berlin und anderen ostdeutschen Städten kam, d.A.). (Es) muß wissen, daß die Unentgeldlichkeit der Wohnung im Prinzip anerkannt und … gewissermaßen sanktioniert ist…“ Die RevolutionärInnen müßten „darauf hinarbeiten, daß die Expropriation der Häuser eine vollendete Tatsache wird. Sie sollten darauf hinarbeiten, daß der allgemeine Ideengang eine derartige Richtung annimmt…“ (14)
Und selbst wenn dereinst aus solchen Ideen erwachsende Bewegungen Niederlagen gegen die militärische Macht erleiden sollten, dann könnte daraus als Zugeständnis immer noch eine Renaissance des Sozialstaats entstehen. Der Sozialstaat war nämlich von Anfang an Zugeständnis an besiegte und unterdrückte soziale, sozialistische oder libertäre Bewegungen: die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung wäre undenkbar ohne die Sozialistengesetze. Und ohne die entmachtete Résistance gäbe es heute in Frankreich keine umlageorientierte Sécu mit gewerkschaftlicher Verwaltung der Kranken- und Rentenkassen und Pensionspflicht der Unternehmer für ihre entlassenen ArbeiterInnen – die ganzen sozialen Kämpfe in Frankreich gehen um staatliche Pläne zur Destruktion dieser stärker staatsentkoppelten Sozialversicherung. Wer wirklich kämpft, kann verlieren, wer wie die Gewerkschaften in der BRD im Interesse nationaler Standortsicherung nicht kämpfen will, hat schon verloren.
(1) nach dpa-Meldungen vom 17.4.97.
(2) nach Le Monde diplomatique, 11.4.97, S.1.
(3) vgl. z.B. das politikwissenschaftliche Lehrbuch Böhret et al: Innenpolitik und politische Theorie. Darmstadt 1982, S.103.
(4) vgl. die Aussage eines Richters a.D. am Bundesgerichtshof in einer LeserInnendiskussion über den Sozialstaat in der taz, 11.4., S.14.
(5) G. Habermann: Der verkappte Sozialismus des Wohlfahrtsstaates, in: Neue Zürcher Zeitung, 12.10.1990, zit. nach Joachim Bischoff/Michael Menard: Weltmacht Deutschland?, Hamburg 1992, S.126.
(6) Noam Chomsky: Ziele und Visionen, in Schwarzer Faden 1/97, S.46.
(7) vgl. Besprechung von Joachim Hirschs Buch: Der nationale Wettbewerbsstaat, in GWR 204, S.14.
(8) Noam Chomsky: ebenda, S.37f.
(9) Bernd Röttger: Tanzende und versteinerte Verhältnisse, in iz3w 218, 12/96, S.22.
(10) Rudolf Rocker: Der Kampf ums tägliche Brot, 1925, in "Der Syndikalist" als mehrteilige Serie, gekürzt wiederabgedruckt in GWR 146-48, S.68ff.
(11) vgl. Thesen über Staatlichkeit und Anarchie, in GWR 171-73, S.57.
(12) vgl. unsere Auseinandersetzung mit diesen Thesen am Beispiel Stefan Blankertz' "Politik der reinen Toleranz" in GWR 144 und 145.
(13) Peter Kropotkin: Die Eroberung des Brotes, 1892, hier Trotzdem Verlag, Grafenau 1989, S.59f.
(14) Kropotkin, ebenda, S.60f.