Mit dem Ende des Kalten Krieges, so sollte angenommen werden, hat die NATO selbst nach eigener Definition ihre Existenzberechtigung verloren. Dennoch existiert das westliche Bündnis immer noch, und inzwischen stehen die ehemaligen Gegner Schlange, um ihm beizutreten. Polen, Tschechien und Ungarn werden bald dazugehören. Was soll mit der Ost-Erweiterung erreicht werden? Wie wird die NATO danach aussehen? (Red.)
Bis vor wenigen Jahren war für die NATO die Welt noch in Ordnung – nämlich in jener dualistischen Ordnung des Kalten Krieges, in der sich NATO und Warschauer Vertragsorganisation (WVO) gegenüberstanden. Die WVO wurde allerdings im Westen stets „Warschauer Pakt“ genannt, weil sich „Vertragsorganisation des Bösen“ nun mal schlecht anhört. Die atomare Abschreckung, so wurde uns gesagt, sichere den Frieden, und die Rüstungsindustrie erfreute sich an x-fachen „overkill“-Kapazitäten.
1985 änderte sich die Lage. Unter der Führung Michail Gorbatschows verblüffte das „Reich des Bösen“ plötzlich mit einseitigen Abrüstungsvorschlägen – und sogar mit konkreten Abrüstungsschritten, ohne zuvor von der NATO Entsprechendes zugesagt bekommen zu haben. Gorbi hielt sich nicht mehr an die bisherigen Verhandlungsspielregeln. 1987 mündete Gorbis Abrüstungskanonade in den INF-Vertrag, in dessen Folge Pershing II und SS-20 abgerüstet wurden, was in der BRD zur Gorbimanie führte und zum Verblassen und allmählichen Dahinscheiden eines lange gehegten Feindbildes. Grundlegende Zweifel am Sinn des Fortbestehens der NATO kamen endgültig auf, als 1989/90 eine Reihe staatssozialistischer Regime verschwanden und die DDR der BRD einverleibt wurde (übrigens die erste „Ost-Erweiterung“der NATO). Die WVO löste sich nach und nach auf, um 1991 völlig von der Bildfläche zu verschwinden. Im gleichen Jahr versuchten einige AltkommunistInnen, durch einen Putsch gegen Gorbatschow die „alte“ Sowjetunion zu retten – mit dem bekannten Ergebnis, daß drei Tage später das Schicksal der UdSSR besiegelt war.
Neuorientierung ab 1991
Das Verschwinden des Gegners stellte die NATO vor die Frage: Auflösen oder verändern? Da der Apparat der NATO – im Gegensatz zu dem von WVO u.a. – nicht von inneren Auflösungserscheinungen betroffen war, tat er das, was jeder Apparat in einer solchen Situation in der Regel tut: Er kämpfte um seine Selbsterhaltung.
Zunächst wurde damit argumentiert, die „Gefahr aus dem Osten“ sei noch nicht unbedingt gebannt. Aber Gestalten wie Schirinowski waren keine ausreichend großen Schreckgespenster, um die Bevölkerungen westlicher Staaten davon überzeugen zu können, daß die eventuelle, potentielle, vielleicht vorhandene Möglichkeit, das Rad der Geschichte könne wieder zurückgedreht werden, einen immens teueren Militärapparat notwendig mache. Die NATO mußte sich etwas Neues einfallen lassen.
In dieser Situation kam der zweite Golfkrieg wie gerufen, und George Bush verkündete mit seiner Neuen Weltordnung die künftigen Bedrohungsszenarien. Nicht mehr „Freiheit“, „Demokratie“ und „Menschenrechte“ wurden bedroht, sondern die wirtschaftliche Stabilität der westlichen Länder. Und die Hauptgefahrenherde wurden nicht mehr im Osten gesehen, sondern in jenen Staaten, von denen der Westen das Gros „seiner“ Rohstoffe bezieht, also z.B. den erdölexportierenden Staaten des Nahen Ostens. Mit dieser Doktrin konnte auch die NATO gut leben, denn mit dem sogenanntem Krisenmanagement vor Ort (sprich: Krieg außerhalb des NATO-Gebietes) schien sie eine neue Existenzberechtigung gefunden zu haben.
Gleichzeitig bedeutete dieser fundamentale Wandel, daß die Beziehungen zu den Staaten des ehemaligen Ostblocks neu definiert wurden. Aus Gegnern waren plötzlich neutrale Nachbarn geworden. Die NATO stand nun vor der Frage, ob sie diese Nachbarn einfach sich selbst überlassen sollte. Sie entschied sich jedoch dafür, wenigstens ein gewisses Maß an Kontrolle auszuüben und somit ihre Hemisphäre schrittweise nach Osten auszudehnen.
Bereits beim Gipfeltreffen in London 1990 wurde den osteuropäischen Staaten von seiten der NATO eine Zusammenarbeit angeboten. Nach der Auflösung der WVO beschloß die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Rom 1991 die Einrichtung des North Atlantic Council for Cooperation (NACC/Nordatlantischer Kooperationsrat), der am 20. Dezember 1991 zum ersten Mal zusammentrat, damals bereits mit Vertreter(Innen?) aus neun ehemaligen Ostblockstaaten. Der NACC wuchs sehr schnell an, und heute gehören ihm außer den 16 NATO-Staaten noch 24 weitere Staaten an, darunter auch Rußland und die Ukraine. Österreich, Finnland und Schweden haben im NACC Beobachterstatus.
„Partnerschaft für den Frieden“
Allerdings handelt es sich beim NACC um kaum mehr als ein Beratungs- und Diskussionsforum. Das Hauptinteresse beider Seiten an diesem Rat dürfte im Informationsaustausch liegen. Eine militärische Zusammenarbeit zwischen NATO-Staaten und anderen Mitgliedern des NACC gibt es auf dieser Grundlage nicht.
Diesen nächsten Schritt zur Erweiterung ihrer Einflußsphäre ging die NATO 1994, als sie das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ (Partnership for Peace/PFP) startete. PFP schlossen sich, mit Ausnahme Tadschikistans, alle NACC-Mitglieder an, auch Österreich, Finnland und Schweden. Das Programm intensiviert nicht nur den Informationsaustausch (und verschafft insbesondere der NATO damit mehr Auskunft über die Armeen Osteuropas und der ehemaligen Sowjetrepubliken), sondern beinhaltet auch gemeinsame Manöver.
PFP war von besonderer Bedeutung in Zusammenhang mit der Aufstellung der Implementation Force (IFOR) (1), die nach dem Dayton-Abkommen in Bosnien-Herzegowina stationiert wurde.
Die Intervention der NATO in den Krieg im ehemaligen Jugoslawien dokumentierte sehr deutlich die neue Zielrichtung des Bündnisses. Die NATO versuchte, sich als Vollstrecker der Vereinten Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) darzustellen, aber nicht ohne den Eindruck zu erwecken, sie sei die einzige Institution, die technisch imstande sei, für „Ordnung“ zu sorgen. Die Bomben auf serbische Stellungen waren für die NATO ein Meilenstein auf der Suche nach ihrer neuen Identität. Und auch für die Bundeswehr war Bosnien ein Durchbruch: Die Teilnahme an IFOR (später Stabilisation Force/SFOR) war, politisch gesehen, die Vollendung der in Salami-Taktik betriebenen Umstrukturierung zu einer „normalen“ Armee, sprich: zu einem Instrument der Kriegsführung.
Nach der „Partnerschaft für den Frieden“, die den Weg zum ersten offiziellen NATO-Kriegseinsatz geebnet hatte, gingen NATO wie osteuropäische Staaten ans Eingemachte: die Ost-Erweiterung. Zahlreiche Staaten beantragten ihre Aufnahme in die NATO, oft verbunden mit einem parallelen Aufnahmeantrag in die Europäische Union. Länder, die noch wenige Jahre zuvor ihre Truppen gegen die NATO eingeschworen hatten, wollten ihr jetzt beitreten. Innerhalb der Bevölkerungen war die Bereitschaft zur NATO-Mitgliedschaft besonders groß in Rumänien und Polen, wo drei Viertel bzw. zwei Drittel sich dafür aussprachen. (2) In Ungarn und Tschechien wußten die meisten nicht so recht, was sie davon halten sollten, wenngleich sich hier immerhin einfache Mehrheiten für den Beitritt aussprachen.
Viele versprechen sich von einem NATO-Beitritt einen Zugewinn an politischer Stabilität für die Region. Angesichts der lange Zeit ablehnenden Haltung Rußlands gegenüber der NATO-Ost-Erweiterung ist es allerdings fraglich, ob sich entsprechende Hoffnungen erfüllen werden. Jedenfalls ist klar, daß die NATO, ohnehin schon unbestrittene Militärmacht Nummer Eins, ihren Herrschaftsbereich weiter ausdehnen wird und von einer Auflösung des Bündnisses in absehbarer Zeit nur noch geträumt werden kann.
NATO-Gipfel in Madrid
Ehe die NATO sich an die Ost-Erweiterung heranmachen konnte, galt es zunächst einmal, die Bedenken Rußlands zu zerstreuen. Dem einst größten Gegner ist es nämlich alles andere als genehm, die NATO allmählich nach Rußland vorrücken zu sehen. Um Rußland zu beschwichtigen, wurde am 27.Mai in Paris ein Abkommen geschlossen, das einen Ständigen Gemeinsamen NATO-Rußland-Rat ins Leben rufen sollte, dem die 16 NATO-Staaten und Rußland angehören. Dieses Abkommen, mit großem Brimborium unterzeichnet, blieb jedoch erst einmal ohne Folgen, da sich beide Seiten nicht über das Prozedere des Vorsitzes in dem neuen Gremium einigen konnten. (3)
Immerhin konnte Jelzin die Zusage abgerungen werden, sich einer NATO-Erweiterung nicht in den Weg zu stellen. Und dafür wurde er mit einer Einladung zum G7-Treffen nach Denver Ende Juni belohnt. (4)
Die Auseinandersetzungen mit Rußland spielten sich in den folgenden Wochen eher hinter den Kulissen ab, während nun der Streit innerhalb der NATO aufflammte: Welchen Staaten sollte der Beitritt gestattet werden und welchen nicht? – Die Regierung Frankreichs, das seit Mitte der 60er Jahre der NATO nur politisch, nicht jedoch militärisch, verbunden ist, versuchte sich zu profilieren, indem sie gegen den erklärten Willen der USA auch noch Rumänien und Slowenien die Aufnahme in die NATO zusagen wollte, und die italienische Regierung mischte auf französischer Seite mit. Tatsächlich war es wohl eher ein Pokerspiel, in der Hoffnung, das Südkommando der NATO würde an einen Franzosen vergeben, wenn Frankreich sich wieder in die militärische Struktur einklinkte. Aber der NATO-Vertrag macht schon seit jeher deutlich, wer in der Organisation das Sagen hat. So heißt es in Artikel 10, der die Aufnahme weiterer Staaten regelt: „Die Parteien können durch einstimmigen Beschluß jeden anderen europäischen Staat (…) zum Beitritt einladen. Jeder so eingeladene Staat kann durch Hinterlegung seiner Beitrittsurkunde bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika Mitglied dieses Vertrages werden.“ (5)
Und so setzte sich auf dem Gipfeltreffen in Madrid am 8./9.Juli die US-Regierung durch, und Kohl konnte sich darüber freuen, einen angeblichen Kompromiß beigesteuert zu haben, nämlich die Formulierung der „offenen Tür“ für die (noch?) nicht eingeladenen Staaten.
Beschlossen wurde ferner eine Sondercharta zwischen der NATO und der Ukraine über eine intensivere Zusammenarbeit. Allerdings sollen die Möglichkeiten einer direkten Rüstungszusammenarbeit und von PFP- Übungen auf ukrainischem Gebiet erst noch „ausgelotet“ (6) werden, sicher mit Rücksicht auf Rußland.
Die Zukunft der NATO
So sehr Rußland auch hinterher protestierte, ist doch die Ost-Erweiterung beschlossene Sache. Nach dem Gipfeltreffen von Madrid hat die NATO die Quadratur des Kreises geschafft und dehnt sich demnächst auf ehemaliges „Feindesland“ aus. Mit Projekten wie PFP oder dem am 30. Mai beschlossenen Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (der – um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen – nichts mit dem bereits erwähnten NATO-Rußland-Rat zu tun hat) hat die NATO sich einen dauernden Einfluß auch auf jene osteuropäischen Staaten und ehemaligen Sowjetrepubliken gesichert, die in absehbarer Zeit (noch?) nicht beitreten werden. Das Bündnis, das sich gemäß seiner ursprünglichen Zielsetzung 1991 hätte auflösen müssen, hat es geschafft, sich eine neue Identität zu geben, und die Legitimationskrise inzwischen hinter sich gebracht.
Für AntimilitaristInnen ist dies eine alles andere als gute Botschaft. Die NATO hat sich von dem Schlag des Verlustes ihres Feindbildes bestens erholt und strebt neuen, weltweiten „Aufgaben“ entgegen. Sie ist mit Abstand die mächtigste internationale Organisation, der das marode Rußland nichts mehr entgegenzusetzen hat. Und sie hält, was in heutigen Diskussionen oft vergessen wird, auch weiterhin an Atomwaffen fest. (7) Vor allem zementiert die NATO mit ihrer (Un-)Logik der militärischen „Friedenssicherung“ (oder neuerdings „-erzwingung“, „-schaffung“ und „-erhaltung“) jene psychologischen Strukturen, auf die sich Krieg und Militär gründen: Mißtrauen, Sicherheitsdenken und ein negatives Menschenbild. (8)
Eine gestärkte NATO bedeutet aber auch, daß die Dominanz des Westens über den Rest der Welt verfestigt wird. Dies zeigt sich auch daran, daß mit Polen, Tschechien und Ungarn relativ verwestlichte Staaten zum Beitritt eingeladen werden. Es ist anzunehmen, daß die NATO ihre Kontrolle über den Rest des ehemaligen Ostblockgebietes weiter ausbauen wird, ob mit oder ohne Rußland. Größte Verliererin bei dem Prozeß der NATO-Erweiterung dürfte die südliche Erdhalbkugel sein, auf die sicher so manche Aktionen von „Krisenmanagement“ à la NATO warten werden.
(1) Was der Internationale Versöhnungsbund davon hielt, daß seine Abkürzung (International Fellowship of Reconciliation = IFOR) für ein Militärkontingent herhalten mußte, ist mir leider nicht bekannt.
(2) Angaben nach einer Umfrage des Central and Eastern Eurobarometer, veröffentlicht im März 1997 und zitiert in der NATO Review, Nr.3/1997, S.17. Die genauen Zahlen sind 76% Zustimmung zum NATO-Beitritt in Rumänien, 65% in Polen. In Ungarn waren 32% dafür, 17% unentschieden, 23% dagegen, 28% gaben keine Antwort oder antworteten "weiß nicht", wären also evtl. auch zu den Unentschiedenen zu rechnen. Für Tschechien sind die entsprechenden Zahlen 28:25:21:26.
(3) Mündliche Auskunft eines Vertreters der Politischen Abteilung innerhalb der britischen Delegation im NATO-Hauptquartier Brüssel gegenüber TeilnehmerInnen einer Studienfahrt des Quäkerrats für Europäische Angelegenheiten am 24.6.1997. Daß der Rat vor dem Gipfeltreffen nicht zusammentrat, zeigt folgender Auszug aus der Erklärung von Madrid: "Wir sehen erwartungsvoll regelmäßigen Konsultationen mit Rußland (...) durch den Ständigen Gemeinsamen Rat entgegen, der seine Arbeit bald aufnehmen wird." (Erklärung von Madrid zur euro-atlantischen Sicherheit und Zusammenarbeit vom 8.Juli 1997, Art.11, zit. in: Bulletin der Bundesregierung Nr.64, S.767)
(4) was den Guardian am 20.6. zu der Überschrift veranlaßte: "Yeltsin dines out on Nato ticket"
(5) zitiert in: Walter Loch/Dirk Sommer: Das Bündnis. Chancen für den Frieden, Herford 1989, S.49
(6) Charta über eine ausgeprägte Partnerschaft zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Ukraine vom 9.Juli 1997, Art.8, zit. in: Bulletin der Bundesregierung, Nr.64 (31.7.1997), S.772f.
(7) Eine entsprechende Frage im NATO-Hauptquartier Brüssel wurde mit einem eindeutigen "Ja" beantwortet; vgl. Anm.3
(8) Es handelt sich hier um ähnliche Denkstrukturen wie diejenigen, die zu einem Ruf nach einer starken Polizei führen; vgl. meinen Artikel "Hilfe! Polizei!" in GWR219, S.10f.