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Die Produktion von Gehorsam

Ulrich Bröcklings Arbeit über Disziplin markiert das Ende der soziologischen Drückebergerei vor dem Militär

| G. Horsam

Ulrich Bröckling: Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion. München, Wilhelm Fink Verlag, 1997, 364 S., 68 DM

Disziplin und Gehorsam werden als Innenseite der heroisch ausgerichteten Militärgeschichte oft wenig beachtet. Aber sind sie für das Militär nicht von ebensolcher Bedeutung wie die großen Triumphe oder die verheerenden Niederlagen auf Schlachtfeldern? Fixiert auf das Spektakel der Gewalt geraten die für das organisatorische Gerüst der militärischen Operationen ausschlaggebenden Betriebsgrößen zu Fragen für Fachleute und die rekrutierten Soldaten. Ulrich Bröcklings Ziel ist es, die Lücke der sozialwissenschaftlichen Anstrengungen zur Disziplinierung hinsichtlich militärischer Gehorsamsproduktion systematisch zu schließen. Kloster, Schule, Fabrik und Gefängnis sind als „Labore der Disziplinierung“ sehr viel genauer untersucht, obgleich die militärische Disziplin aufgrund des Widerspruchs zwischen allgemeinem Gewaltverbot und der auf staatliche Organe bzw. Soldaten beschränkten Befugnis zur Gewaltanwendung hohe und ganz besonders strikte Anforderungen an Gehorsam stellt.

Bröckling sieht die Soldatenfabrikation zwar als eine besondere Sozialtechnologie, aber betrachtet sie nicht, wie es von Treiber/Steinert in Anlehnung an Goffman bekannt ist, als relativ statische totale Institution, die ohne Beziehung zu den zugehörigen Kriegsbildern oder Staats- und Heeresverfassungen dasteht. Die Strategien des Gehorsams werden von den verschiedenen historischen Umfeldern wesentlich bestimmt und sind weniger einheitlich als die Disziplin im Rationalisierungsprozeß bei Max Weber, im fortgesetzten Zivilisationsprozeß bei Norbert Elias oder in der staatlichen Disziplinierung bei Gerhard Oestreich konzipiert. Diese großen soziologischen Theorien der Disziplinierung drücken sich vor der militärischen Praxis. Michel Foucaults wissenschaftliche Erkenntnisse von Disziplin als einer bis in die Körper wirkenden Macht werden in die Analyse integriert. Nur dürfen diese Körper nicht ohne patriotisch zu lockenden Geist gedacht werden, auf den die Disziplin zur Steigerung der soldatischen Leistung und vor allem zu deren Maschinisierung angewiesen ist. Bröckling findet seine Belege in den Strategien der Disziplinierung, die er aus den Quellen zu Rekrutierungsweisen, Dienstordnungen, Exerzierreglements erschließt, in Kombination mit den jeweils verbreiteten Praktiken des Ungehorsams gegen Militär und den allgemeinen Diskursen zu Heeres- und Staatsverfassung bzw. Widerstand und Gehorsamspflicht. Dahinter steht die Vorstellung einer Verschränkung der Gehorsams- mit den Ungehorsamsstrategien, die auch aufgrund der zu findenden Texte die administrativ-strategische Seite sehr betont. Ferner spielen die militärtechnologische Entwicklung als zentraler Einflußfaktor und das zivil-militärische Verhältnis eine wichtige Rolle.

Obgleich Ulrich Bröckling keine Geschichte der Disziplin erzählt, geht er in Einzelstudien, die er „Plateaus“ nennt, chronologisch von der Heeresreform der Oranier im niederländisch-spanischen Krieg noch vor dem Dreißigjährigen Krieg aus und endet bei einem Ausblick auf die Veränderungen seit 1989. Näher betrachtet werden die deutschen Verhältnisse des preußischen Militärreglements, die dortigen Reformdiskussionen im Zeitalter Napoleons, die innenpolitische Aufstandsbekämpfung im Vormärz, der sozialdemokratisch „gehorsame Antimilitarismus“ vor 1914, die Militärpsychatrie im ersten Weltkrieg, der totalisierte zweite Weltkrieg und das Zeitalter der Abschreckung im Anschluß. Bei diesem Programm ist Vollständigkeit nicht zu erwarten, aber die anschaulichen Schilderungen geben in ihrer Verdichtung einen guten Überblick und zeigen die Vielgestaltigkeit der Gehorsamspraktiken, die gleichermaßen auf dem Patriotismus, dem Unbewußten oder der Technik basieren kann.

Aber so selektiv diese Zugriffe anmuten, fügen sie sich zu einer These über die Entwicklungstendenz der Disziplinierung, die zunächst die körperliche Abrichtung der Soldaten für das neuzeitliche Militär betrafen, dann auf die ideologische Mobilisierung setzten und sich später durch die Technisierung immer stärker für funktionale Imperative öffneten oder sich ihnen in der Industrialisierung des Krieges und schließlich seiner Automatisierung gar unterordnen mußten. Im Gestaltwandel der Disziplinierung relativiert die technisch funktionalistische Umstrukturierung der Kriegführung den Gehorsam, aber verringert sie damit auch die Abhängigkeit des Militärs von ziviler Gesellschaft?

Dem letzten Plateau, gekennzeichnet von der durch Abschreckung bewirkten technisch-militärischen Substitution der Menschen, kommt dafür ein besonderes Gewicht zu. Bröckling bestätigt dessen Schlüsselstellung, indem er die technisch-funktionalistische Aufhebung des soldatischen Gehorsams detailliert nachzeichnet.

Die Disziplin ändert sich qualitativ und quantitativ, weil Massenheere angesichts atomarer, d.h. totaler Waffen mit ihrem automatisierten Potential, das zudem in Echtzeit operiert, obsolet werden. Für den umgekrempelten Krieg sind nur ganz wenige Soldaten nötig, da die eingesetzten Waffen automatisch wirksam vernichten, und statt Gehorsam technisch-zivile Fähigkeiten immer wichtiger werden. Die Bundeswehr als Armee in der Abschreckungsära unterliegt dem Paradox einer Truppe, deren Kampfauftrag Kriegsverhinderung ist. Die „Innere Führung“ und das Selbstverständnis vom „Staatsbürger in Uniform“ beläßt zivile Praktiken an prominenter Stelle und forciert die funktionale Integration beruflicher Qualifikationen, was soldatischen Gehorsam einschränken muß. Auch die Verankerung der Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz paßt in diese Phase, die wohl auch für Bröckling mit dem Niedergang des Staatssozialismus nun schon selbst Geschichte geworden ist.

Die Rückkehr des Krieges nach der außer Kurs gesetzten Abschreckung scheint eine reale Bedrohung und neue Maßgabe für Gehorsamsstrategien zu werden. Konventionelle Kriege werden wieder führbar. Bröckling gibt da nur wenige Hinweise, denn die technischen Potentiale bleiben ja, doch scheinen trotz Substitution nun wieder Menschen benötigt zu werden. Welche Schlüsse aus dieser Entwicklung gezogen werden können, scheint offen zu bleiben: „Mehr als für andere Bereiche militärischer Rüstung gilt für die Gehorsamsproduktion: Friktionen zeigen sich erst im Krieg“.

Sind Ungehorsam und Militärkritik nun keines strategisch eigenständigen Zugriffs mehr fähig? Die Schlußthese zur Militärkritik empfiehlt statt der überholten Selbstbilder vom Sand im Getriebe oder des „Stell dir vor es gibt Krieg und keiner geht hin!“, den Computervirus, „der den Rechner bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf Hochtouren laufen läßt, ohne daß ein Ergebnis herauskommt.“ Ich will meine Phantasie nicht strapazieren, wie das auszusehen hätte und was das bewirken könnte. Aber widerspricht diese Bewertung der Kritik nicht der von Bröckling selbst beobachteten Gleichzeitigkeit differierender Gehorsamsstrategien? Und ist der krasse Kontrast der Ära der Abschreckung für die Disziplin überhaupt zutreffend? Ist die Remilitarisierung jenseits des Etiketts der Anti-Kriegs-Armee nicht die bisher an Umfang größte Militarisierungsphase in Deutschland gewesen, was Rekrutierung, infrastrukturelle, waffentechnische und finanzielle Aufwendungen betrifft? Und geht der „totalen Waffe“ Atombombe nicht die „totale Mobilmachung“ eines technisch- wissenschaftlichen, militärischen und finanziellen Großprojektes voraus, die der Hinweis auf den alles entscheidenden Knopfdruck für ihren Einsatz nur verfehlen kann?

Hierfür sind funktionsfähige und gehorsame Arbeitsheere verstärkt vonnöten. Sozio- ökonomische und infrastrukturelle Voraussetzungen, also das zivil-militärische Verhältnis, wird kriegswichtig, auch wenn es nicht mehr wie bisher militarisiert und von Soldaten getragen wird. Die Zivilisierung des Militärs darf nicht darüber täuschen, wie anspruchsvoll die Bereitstellung der zivilen Voraussetzungen für das Militär mit seiner funktionalistischen Eingliederung in einer hochdifferenzierten Gesellschaft werden. Nicht umsonst wurden sie in Manövern trainiert. Das wäre eine wichtige Ergänzung, die das Bild von der Substitution der Menschen relativiert und vor allem die Rolle von Disziplin und Gehorsam in der ganzen Gesellschaft als Aufgabe erweiterter Gehorsamsproduktion entschlüsselt.