bücher

„Hier Revolution! Wer dort?“

Zwei Neuerscheinungen über Gustav Landauer

| Caspar Schmidt

Gustav Landauer. Dichter - Ketzer - Außenseiter. Essays und Reden zu Literatur, Philosophie und Judentum. Hrsg. v. H. Delf. Akademie Verlag, Berlin 1997, Werkausgabe Bd. 3, 290 S., 78 DM.

Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag. Hrsg. v. H. Delf u. G. Mattenklott. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1997, 288 S., 136 DM.

„Aus dem Menschtum des Individuums empfängt die Menschheit ihr echtes Dasein.“ (2)

Eine soeben erschienene Sammlung zumeist bereits veröffentlichter Essays und Reden Gustav Landauers beinhaltet u.a. Reflexionen über den Krieg und die Nation, über Goethe, Hölderlin, Georg Kaiser, Spinoza, Strindberg, Tagore, Tolstoj, Walt Whitman und vor allem über das Judentum. Erneut wird deutlich, daß diesem libertären Kulturkritiker mit seinen lebenspraktischen Entwürfen einer grundlegenden Revolutionierung der Gesellschaft eine zentrale Bedeutung für das freiheitlich-utopische Denken im 20. Jahrhundert gebührt. Sein zeitgemäßer Appell für ein sofortiges exemplarisches Beginnen zielt auf die radikale Umgestaltung des persönlichen Lebens jedes/jeder einzelnen und auf ein gewaltfreies Miteinander selbstverantwortlicher Individuen:

„Austritt aus dem Staat, aus allen Zwangsgemeinschaften; radikaler Bruch mit den Überlieferungen des Privateigentums, der Besitzehe, der Familienautorität, des Fachmenschentums, der nationalen Absonderung und Überhebung.“ (3)

Zentral sind hierbei Landauers Überlegungen zum Judentum. Seine Utopie einer humanen, freiheitlichen Gemeinschaftsordnung freiwillig vereinbarter, dezentraler, föderalistischer und genossenschaftlicher Lebenszusammenhänge war nachhaltig geprägt von seinem Judentum, dessen Nächstenliebe- und Gerechtigkeitsmotiven, den das Gemeinschaftsleben verkörpernden Traditionen sowie dessen kultureller Vielfalt: „Ich habe nicht die mindeste Anlage“, schrieb er 1909, „die Freude an meinem Judentum auch nur einen Tag zu vergessen.“ (4)

Auch ohne religiösen Alltag gelangte er zu einer immer eindeutigeren Bejahung seiner jüdischen Herkunft. Zugleich lehnte er die Assimilation der westeuropäischen Diasporagemeinden strikt ab und hob die in Osteuropa lebenden Juden und Jüdinnen wegen deren Angleichungsverweigerung hervor. Die Zurückweisung jeglicher Assimilationsbestrebungen und das Bewußtsein, der jüdischen Nation anzugehören, bedeuteten für Landauer allerdings keineswegs, sich dem politischen Zionismus und dessen Zielsetzung einer Rückkehr aller Jüdinnen und Juden nach Palästina zuzuwenden.

Die Lektüre der vorliegenden, größtenteils bekannten Nachdrucke zum Judentum – grundlegend sind vor allem „Sind das Ketzergedanken?“ (1913), „Kiew“ (1913) und „Ostjuden und Deutsches Reich“ (1916) – verdeutlicht, daß Landauers Judentum weniger als Reaktion auf den grassierenden Antisemitismus in Europa vor dem Ersten Weltkrieg zu interpretieren ist, sondern wie auch bei Martin Buber vor allem kulturellen Impulsen eines engen Zusammenhanges zwischen Judentum und Menschheitsidee entsprang. Vor allem die Diaspora erschien ihm als der Ort, um die Idee des Judentums als Vorbote der Humanität unter die Menschen zu tragen. Im Prozeß eines neuen, sozialen Umgangs der Menschen untereinander maß er dem lebendigen Judentum eine bedeutende Vorreiterrolle zu. Seinen Freund Martin Buber ermahnte er:

„Lerne zur Sache denken, und zugleich denken, daß Du als Jude denkst! Das Judentum ist eine Nation, die gewesen wird; für es, wie für alles Lebendige, wie zumal für das, was durchs Bewußtsein hindurch wieder eine Macht des Unbewußtseins werden soll, brauchen wir diese in der Grammatik ungebräuchliche Zeit.“ (5)

Als bewußter Jude und überzeugter Libertärer hegte Landauer kein Interesse an einer nationalpolitischen Erneuerung des Judentums – konsequent lehnte er den politischen Nationalismus ab: „Die starke Betonung der eigenen Nationalität, auch wenn sie nicht in Chauvinismus ausartet, ist Schwäche.“ (6)

Gleichwohl betrachtete er die Kibbuzbewegung in Palästina mit wachsendem Interesse, erkannte er in diesen jüdischen Kollektivsiedlungen Gemeinwesen, die seinen Vorstellungen eines libertären Kultursozialismus weitgehend entsprachen. (7)

Zur ‚Wiederherstellung‘ der Menschheit bezog sich Landauer auf den Begriff des „Bundes“ in der hebräischen Bibel, den er in allen revolutionär-egalitären Bewegungen bis in die Neuzeit erkannte. Ihm schwebte ein lebendiges Judentum in der Diaspora vor, das schließlich zum „Bund der Vielfältigen“ führen werde:

„Wir Juden haben nicht bloß unser Amt an der Menschheit; die Wege, die die Menschheit nimmt, Umwege, Irrwege, schwere und gefährliche Wege, die Wege der anderen Völker werden auch um unsertwillen gegangen, sind auch unsre Wege. Sind nicht unser ganzer Weg, nehmen uns nichts von unserer besonderen Aufgabe ab, sind auch unser Weg.“ (8)

Inmitten dieser Vielfalt sollte die jüdische Nation ihren Platz unter der Menschheit einnehmen, womit die jüdische Diaspora sowie der Antisemitismus endgültig beseitigt wären – ein Entwurf, den Martin Buber zur Lösung des Israel/Palästina-Konfliktes in der Konzeption der Binationalität mit dem Ziel weiterentwickelte, eine dauerhafte friedliche Koexistenz zwischen Juden/Jüdinnen und AraberInnen zu erreichen. Sie beinhaltete ein die Gleichwertigkeit nationaler und bürgerlicher Rechte sicherndes Gemeinwesen in Palästina auf föderativer Grundlage mit Minderheitenstatus (9) – angesichts der explosiven Entwicklung im Nahen Osten aktueller denn je. Den Gedanken der Binationalität im Nahen Osten hat jüngst Micha Brumlik in seinem Artikel „Die Zerstörung einer Utopie. Benjamin Netanjahu ist nicht der Vollender, sondern der Antipode Theodor Herzls“ aufgegriffen: „Die List der Vernunft könnte es geschehen machen, daß schließlich, nach der Einsicht in die Unmöglichkeit, in Israel/Palästina zwei normale, moderne Nationalstaaten zu etablieren, am Ende jene binationale Staatlichkeit entsteht, denen die Utopisten des Zionismus immer anhingen.“ (10)

Auch in dem aus Anlaß von Landauers 125. Geburtstag erschienenen Tagungsband hebt Bernd Witte dessen „bewußt(es) und ausdrücklich(es)“ (S.34) Bekenntnis zum Judentum ausdrücklich hervor. Ansonsten entläßt diese Neuerscheinung die LeserInnen etwas ratlos. Auf Vorträgen basierende Themenbände sind häufig, wie die vorliegende Veröffentlichung, von recht unterschiedlicher Qualität. Thematisch befassen sich die AutorInnen mit Landauer als Schriftsteller (hervorzuheben sind Thomas Regehlys Betrachtungen über dessen literarische Arbeiten), Denker und Antipolitiker (Rolf Kauffeldt, Rudolf de Jong, Bernhard Braun und Peter Glotz) sowie mit seinen Beziehungen zu dem Dramatiker Georg Kaiser, dem Mathematiker Felix Hausdorff, dem Theologen Paul Tillich und dem Psychoanalytiker Karl Landauer. Im Vergleich hierzu gelingt es den AutorInnen der 1995 veröffentlichten, gelobten Schrift „Gustav Landauer (1870-1919). Eine Bestandsaufnahme“ (11), ein umfassenderes Bild der vielfältigen Facetten von Landauers Denken und Handeln nachzuzeichnen.

Unverständlicherweise haben es die HerausgeberInnen versäumt, den 125. Geburtstag Landauers zum Anlaß zu nehmen, einen Beitrag zur Aktualisierung von dessen libertärer Utopie zu leisten. Ihr Blick bleibt einseitig und primär auf Landauer als historische Persönlichkeit beschränkt. Dabei ist seine Utopie einer restrukturierten Gesellschaft von erstaunlicher Aktualität, um so mehr als die gegenwärtige Weltlage dessen libertärer Ethik recht zu geben scheint wie nie zuvor. Erkannt hat dies immerhin der Sozialdemokrat Peter Glotz, der, obgleich kein Anhänger des libertären Kultursozialismus, sich in der vorliegenden Publikation offen und fair mit Landauer auseinandersetzt und aus dessen Munde der Rezensent kaum nachfolgende Worte erwartet hätte:

„Gustav Landauers Werk ist aktueller, als der Zeitgeist sich zugibt, vielleicht aktueller, als wir wünschen können.“ (S.182)

Völlig zu recht zitiert Rudolf de Jong in seinem gelungenen Beitrag über „Gustav Landauer und die internationale anarchistische Bewegung“ eine Passage aus dessen Hauptwerk „Aufruf zum Sozialismus“ (1911), die die ‚Zeitlosigkeit‘ freiheitlich-utopischen Denkens verdeutlicht:

„Nie aber sieht die Wirklichkeit den Gedanken einzelner Menschen völlig gleich; es wäre auch langweilig wenn es so wäre, wenn wir also die Welt doppelt hätten: einmal in vorwegnehmenden Gedanken, das andere Mal in der äußeren Welt genauso noch einmal. So ist es nie gewesen und wird nie so sein. Nicht das Ideal wird zur Wirklichkeit; aber durch das Ideal wird in diesen unseren Zeiten unsere Wirklichkeit.“ (S.233)

(1) Zitat der Artikelüberschrift: Gustav Landauer: Vortragszyklus zur Geschichte der deutschen Literatur. In. Der Sozialist v. 26.2.1898.

(2) Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus. Hrsg. u. eingeleitet von Heinz-Joachim Heydorn. Frankfurt/M. 1967, S.153 (Neuauflage angekündigt: Berlin 1997, Oppo-Verlag).

(3) Gustav Landauer: Ein paar Worte über Anarchismus. In: Der Sozialist v. 10.7.1897.

(4) Brief Gustav Landauers an Constantin Brunner, Juni 1909. In: Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. Unter Mitwirkung von Ina Britschgi-Schimmer, hrsg. von Martin Buber. Frankfurt/M. 1929, Bd. 1, S.262.

(5) Brief Gustav Landauers an Martin Buber, Weihnachten 1915. In: Martin Buber. Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Hrsg. u. eingeleitet von Grete Schraeder. Bd 1, Heidelberg 1972, S.416.

(6) Gustav Landauer: Sind das Ketzergedanken?, S.171.

(7) Hierzu Siegbert Wolf: "Sich der entstehenden Menschheit schenken!" Gustav Landauers Wirkung auf den deutschsprachigen Zionismus. In: Renate Heuer, Ralph-Rainer Wuthenow (Hrsg.): Antisemitismus - Zionismus - Antizionismus 1850 bis 1940. Frankfurt/M., New York 1997, S.210ff.

(8) Gustav Landauer: Strindbergs Historische Miniaturen (1917), S.151.

(9) Hierzu Siegbert Wolf: Martin Buber zur Einführung. Hamburg 1992, S.72ff.

(10) in: Jungle World, Nr. 32, 7. August 1997, S.17.

(11) Leonhard M. Fiedler, Renate Heuer, Annemarie Taeger-Altenhofer (Hrsg.): Gustav Landauer (1870-1919). Eine Bestandsaufnahme zur Rezeption seines Werkes. Campus Verlag, Frankfurt/M., New York 1995.