Da kann ein renommierter, ex-sozialdemokratischer Schriftsteller wie Günter Grass noch so gut brüllen: seine Anprangerung der gegenwärtigen "demokratisch legitimierten Barbarei" in der BRD wird wohl wirkungslos verhallen. Ganz anders in Frankreich, wo sich die Betroffenen selbst organisierten und dadurch eine Bewegung gegen Abschiebepolitik entfachten, in der auch Intellektuelle eine wirksame Funktion innehatten: die Sans-Papiers. (Red.)
Warum angesichts des ausbleibenden Widerstands gegen Abschiebungen in der BRD auf Frankreich blicken? Weil sich dort in den letzten beiden Jahren in der gegenseitigen Ergänzung von Selbstorganisation der Betroffenen und beginnender Solidarität weißer Franzosen und Französinnen eine Bewegung entwickelte, die zeitweise Massencharakter hatte und trotz ständig verschärfter Gesetze und Abschiebepraktiken die Zurücknahme einzelner Abschiebungen und Verschärfungen erreichen konnte. Was erreicht wurde, ist zwar viel zu wenig und es bleibt abzuwarten, ob sich die Abschiebe- und Bleiberechtspolitik der neuen sozialdemokratischen Regierung Jospin wirklich von ihren konservativen Vorgängern unterscheidet. Doch die Sans-Papier-Bewegung lehrt, wie aus einer nahezu aussichtslosen Defensive antirassistischer Politik heraus eine produktive Dynamik in Gang gesetzt wurde, die immerhin dem generellen Rechtstrend in Frankreich substantiell etwas entgegenzusetzen hatte.
Permanente Steigerung der Ausgrenzung: die Ausgangspunkte der Sans-Papiers
Die französische Assimilationspolitik gegenüber MigrantInnen ist schon lange ein Mythos. Heute gibt es ganz viele und unterschiedliche rechtliche Bedingungen für Flüchtlinge, die in Frankreich dauerhaft bleiben oder französische StaatsbürgerInnen werden wollen. Fast immer betrifft die rechtliche Diskriminierung MigrantInnen aus den ehemaligen afrikanischen und indochinesischen Kolonien Frankreichs. Schon zu Beginn der 80er Jahre beschloß die damals noch sozialdemokratische Regierung eine verschärfte Meldepflicht für AusländerInnen. In den 90er Jahren wurde die Asylgesetzgebung und -praxis verschärft. Seit dem „Lois Pasqua“ vom Januar 1994 haben selbst ImmigrantInnen der älteren Generation, die seit 15 Jahren in Frankreich leben, keinen automatischen Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung mehr. Anfang 1997 schließlich wurde das „Loi Debré“ verabschiedet. Es setzt fest, daß Menschen, die ihre nach Frankreich migrierten Verwandten und FreundInnen mittels eines Visums besuchen wollen, ihre Wiederausreise bei der französischen Polizei melden müssen. Außerdem werden mit diesem Gesetz Abschiebungen erleichtert und eine bisher auf AsylbewerberInnen beschränkte Ausländerdatei auf alle Personen ohne französische Papiere ausgeweitet. Statt der automatischen Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in Fällen, in denen sie bisher ohne Umstände gewährt wurde, wird nun eine Prüfung auf „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ vorgenommen, bevor wieder ein auf zehn Jahre befristetes Zertifikat ausgestellt wird. Das bedeutet praktisch eine Aufteilung in politisch „genehme“ und in auszugrenzende MigrantInnen, die etwa bei Streiks mitgemacht haben oder bei Demonstrationen gesichtet bzw. aktenkundig wurden.
Insbesondere die Tatsache, daß viele länger in Frankreich lebende MigrantInnen bereits Kinder haben, die nach dem französischen Territorialrecht französische StaatsbürgerInnen sind, verkompliziert die Lage noch mehr: nach den neuen Gesetzen könnten zwar die Kinder bleiben, die Eltern aber abgeschoben werden.
Lange Zeit sind die Gesetzesverschärfungen von den französischen BürgerInnen passiv und schweigend hingenommen, ja durch die tolerierte Polemik Le Pens und seine darauffolgenden Wahlerfolge sogar unterstützt worden. Und Anfang 1996 sah es auch nicht danach aus, als würde aus ihren Reihen substantieller Widerstand zu erwarten sein.
Von St. Ambroise über St. Bernard zum zivilen Ungehorsam gegen das Loi Debré
Da geschah das Unerwartete. Am 22.3.1996, das „Lois Pasqua“ war seit zwei Jahren verabschiedet, besetzten rund 300 illegal in Frankreich lebende MigrantInnen ohne Aufenthaltspapiere („Sans-Papier“) die Pariser Kirche Saint-Ambroise und forderten die Legalisierung ihres Aufenthaltsstatus. Sie setzten sich damit der Gefahr ihrer Abschiebung aus, die sie jedoch einzeln und isoliert sowieso früher oder später ereilt hätte. Da begannen sie lieber kollektiv um ihr Bleiberecht zu kämpfen. Diese Kirchenbesetzung war nur der Auftakt für eine soziale Bewegung, die unmittelbar von den Betroffenen, den MigrantInnen ausging und auch im weiteren von ihnen bestimmt wurde. Explizit wurden französischen AntirassistInnen zur Solidarität aufgefordert, doch sollten sie sich separat organisieren und die MigrantInnen in ihren Aktionen nicht bevormunden. Am 20. Juli 96 gründeten sie die „Nationale Koordination der Kollektive der Sans-Papiers“, der sich Gruppen und AktivistInnen in mehreren Städten des ganzen Landes anschlossen.
Der polizeilichen Räumung von Saint-Ambroise folgten Demonstrationen, ein Hungerstreik der Sans-Papiers-Frauen im Stadtteil Pajol, eine Besetzung des dortigen Bürgermeisteramts durch die Frauen, bis schließlich am 28.6.96 die Kirche Saint-Bernard besetzt wurde und 10 Sans-Papiers einen Hungerstreik bis zum Tode nach dem Vorbild der zeitgleichen Hungerstreiks in den türkischen Gefängnissen starteten. In dieser Zeit gewann die Bewegung die öffentliche Aufmerksamkeit, u.a. durch die Solidarisierung bekannter KünstlerInnen, SchauspielerInnen oder etwa den populären Priester Abbé Pierre. Am 23.8.96, nach 50-tägigem Hungerstreik, wurde die Kirche schließlich von der französischen paramilitärischen Spezialpolizei CRS brutal geräumt. Bis in den November hinein gab es Massendemonstrationen. Die selbstorganisierte Bewegung hatte die ihr eigene Dynamik entfacht, die auch durch harte Repression nicht mehr gebrochen werden konnte. Der Kampf hatte neben Opfern auch seine konkreten Erfolge errungen: Nach der St. Bernard-Besetzung sagte der Staat entgegen seinen ursprünglich proklamierten Absichten eine erneute Einzelfallprüfung der 300 St. Ambroise-BesetzerInnen zu. 104 haben inzwischen legale Aufenthaltspapiere, 26 wurden abgeschoben, die anderen leben noch immer illegal in Frankreich, werden aber nicht abgeschoben, obwohl das dem Gesetz nach möglich wäre.
Ohne den Vorlauf der selbstorganisierten MigrantInnen wäre schließlich auch niemals die Massenmobilisierung gegen das „Loi Debré“ im Frühjahr diesen Jahres zustandegekommen. 59 Filmschaffende hatten einen Aufruf zum zivilen Ungehorsam veröffentlicht und klagten sich selbst wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz an. Sie erklärten, illegale MigrantInnen bei sich aufzunehmen und die ursprünglich von den gastgebenden Franzosen und Französinnen verlangte Meldung von ausländischen BesucherInnen zu verweigern. Innerhalb weniger Tage entstand eine neue Massenmobilisierung. Tageszeitungen veröffentlichten seitenweise Namen von Intellektuellen, die sich gegen das neue Ausländergesetz wandten – beim Zustand hiesiger Intellektueller undenkbar. In ganz Frankreich fanden Kundgebungen und Demonstrationen statt, Le Pens Front National befand sich plötzlich in der Defensive. Es war die Wucht des drohenden zivilen Ungehorsams der eigenen Bevölkerung, die zu einer signifikanten Änderung im Debré-Gesetz geführt hatte: nicht mehr die BesuchsempfängerInnen – darunter konnten viele französische BürgerInnen sein -, sondern die ausländischen BesucherInnen mußten ihre Wiederausreise nun bei der Polizei melden. Damit waren die MigrantInnen wieder leichter zu marginalisieren und so ging das Gesetz trotz Protestes durch.
Die Dynamik der Bewegung als Lehre für die BRD
Seit Jahren diskutieren die aus den Zeiten der Lichterketten, antirassistischen Notruftelefone und Massenblockaden gegen die Verschärfung des Asylrechts übriggebliebenen Gruppen – es sind wenige genug – über die in diesen widerstandslosen Zeiten günstigste Strategie, auch in der BRD wieder in offensiveres Fahrwasser zu kommen. Immer wieder stand dabei die Frage der Legalisierung von MigrantInnen im Mittelpunkt. BefürworterInnen der Legalisierung wurden oft als nicht radikal genug kritisiert, wobei die KritikerInnen betonten, ein Sich-Beziehen und Einfordern des legalen Aufenthaltsstatus würde sowohl die Asylrechtsänderung im Nachhinein akzeptieren wie auch die Forderung nach offenen Grenzen verunmöglichen. Die LegalisierungsbefürworterInnen wehrten sich gegen diese Zuschreibungen des Reformismus.
Aus den Erfahrungen der Sans-Papier-Bewegung kann nun gelernt werden, daß diese Gegensätze künstlich sind und in dieser Weise auch falsch: erst eine Bewegung der Betroffenen selbst, die aus der Betroffenheit heraus zunächst die Legalisierung des Aufenthalts forderte, war fähig, durch die Bewegungsdynamik weit über die ursprünglichen Anlässe des Protests hinauszugelangen. Die Sans-Papier-Bewegung in Frankreich will inzwischen ihre eigenen Forderungen mit denen abhängig beschäftigter ArbeiterInnen, von Deregulierung betroffenen TeilzeitarbeiterInnen in ungesicherten Arbeitsverhältnissen und allen gesellschaftlichen Randgruppen wie etwa auch der Obdachlosen verbinden, obwohl das ganz gewiß nicht einfach ist, wie bereits die Tatsache beweist, daß bei den Solidaritätsdemonstrationen für die Sans-Papiers ganz überwiegend nicht ArbeiterInnen, sondern Jugendliche, Mittelschichtsangehörige, Intellektuelle und StudentInnen auf die Straße gingen.
Es ist also die ganz praktische Erfahrung der Sans-Papiers – die sich ebenfalls mit paternalistischen Kritiken weißer AktivistInnen auseinandersetzen mußten, ihre Forderungen würden das antirassistische Ziel der „freien Zirkulation“ unterminieren -, daß die staatliche Asyl- und Abschiebepraxis die Menschen in die Illegalität treibt und daß der Widerstand dagegen auch die staatliche Politik in die Defensive zwingt. Das libertäre Element der Sans-Papier liegt dabei weniger in ihrer ursprünglichen Forderung nach Legalisierung, sondern in ihrer selbständigen Organisierung, mit welcher sie sich weißem Paternalismus gegenüber zu behaupten wußten.
Eine solch libertäre Selbstorganisation der Betroffenen stößt allerdings in der BRD auf ganz andere Schwierigkeiten, von den Diskussionen innerhalb der antirassistischen Gruppen einmal gänzlich abgesehen. Denn die MigrantInnen hier sind weitaus weniger homogen und zur Zusammenarbeit bereit als in Frankreich. Die gemeinsame französische Sprache und vergleichbare Erfahrungen durch ihre Herkunft aus den ehemaligen französischen Kolonien sind eine immense Erleichterung für ihre grenz- und länderübergreifende Organisierung gewesen. Und nicht nur dafür, sondern sie ermöglichte vor allem auch die Selbstvertretung gegenüber französischen antirassistischen Gruppen, der Presse und den staatlichen Institutionen.
Hierzulande bekämpfen sich nicht nur innerhalb der größten MigrantInnengruppe TürkInnen und KurdInnen, sondern haben auch Flüchtlinge aus anderen Ländern wie zum Beispiel dem ehemaligen Jugoslawien ganz andere Probleme, sprechen eine andere Sprache und haben daher große Hindernisse zur Zusammenarbeit zu überwinden. Dazu kommen die Sprachprobleme bei der Zusammenarbeit mit antirassistischen Gruppen und erst Recht bei der Öffentlichkeitsarbeit oder dem Auftreten gegenüber deutschen Behörden. Wer sich nicht mit einem druckreifen Deutsch ausdrücken kann, wird häufig nicht ernst genommen – und auch antirassistische Gruppen sind davon nicht frei.
Zum Teil kann auch keine Rede davon sein, daß MigrantInnen hier unorganisiert wären, aber ihre Organisierung etwa in den KurdInnenprotesten zeigt doch eine stark autoritäre Fixierung und Steuerung, die nicht leicht aufzuweichen sein wird.
Doch auch die Zusammenarbeit zwischen afrikanischen und chinesischen MigrantInnen in der Sans-Papier-Bewegung war nicht leicht. Nur die Selbstorganisierung der Betroffenen führt zu wirklichem Widerstand gegen Abschiebepolitik. Ausgangspunkt einer solchen Selbstorganisierung könnte wie in Frankreich zum Beispiel eine der vielen Kirchenasylaktionen sein.
Auch hier ist aber zu berücksichtigen, daß die Bewegungsfreiheit Illegalisierter hierzulande im Vergleich zu Frankreich viel stärker eingeschränkt ist, das Risiko kontrolliert und abgeschoben zu werden viel größer. Viele der sans-papiers wurden nach Aktionen verhaftet, landeten aber dennoch nicht in Abschiebehaft, da Formfehler begangen wurden, die zu ihrer Freilassung führten. Bei Festnahme infolge „rassistischer Kontrollpraxis“ – d.h. es werden nur Schwarze kontrolliert – auf offener Straße besteht in Frankreich eine große Chance, trotz illegalen Status wieder freigelassen zu werden – in der BRD wäre das undenkbar.
Dennoch: Ohne politische Strategien, die die praktischen Problemlagen von MigrantInnen und die Realität ihrer Illegalisierung nicht aufgreifen, wird die deutsche antirassistische Szene nicht nur paternalistisch und unter sich bleiben, sondern auch keine soziale Bewegung werden.
Literatur
Soeben ist zu den Sans-Papier eine ausführliche Dokumentation mit einer Chronik der Ereignisse und allen wichtigen Aufrufen sowie einer kritischen Diskussion über die Bedeutung der Bewegung erschienen, allerdings in französischer Sprache:
IM'Média/REFLEX (das sind zwei antirassistische Zeitungsredaktionen) - Co-édition: Sans-Papiers. Chroniques d'un mouvement, Paris 1997, 130 S., 50 Francs.
Zu bestellen über die Zeitung: Editions Reflex, 21, ter rue Voltaire, F-75011 Paris, bzw. Agence IM'Média, 26, rue des Maronites, F-75020 Paris.
Zusätzlich wurde für diesen Artikel zurückgegriffen auf: Cindy & Bert: La lutte de longue haleine - Der Kampf der 'Sans-Papiers' in Frankreich, in: Zeck, Rote-Flora-Zeitung, 5/97, S.7f.