In „Postmoderne Ethik“ bemühte sich Bauman um die Darstellung von Moral in der Postmoderne, und erläuterte, wie und warum die Postmoderne zugleich Fluch und Chance der moralischen Person sei. In „Flaneure, Spieler und Touristen“ (1997) baut er darauf auf und untersucht Formen postmoderner Lebensstrategien. Sein Ausgangspunkt dafür ist die These, daß die großen Moralprobleme unserer Zeit – die Zeit, in der die universellen Wahrheiten sich als räumlich und zeitlich begrenzte Erzählungen erwiesen haben – auf die „Bruchstückhaftigkeit des gesellschaftlichen Kontextes und die Episodenhaftigkeit der Lebensinteressen zurückzuführen (seien)“ (S. 21).
Wie schon die Fragestellung in „Postmoderne Ethik“ geht auch diese auf Baumans Forschungen zum Holocaust zurück. Hier hatte er gezeigt und der gängigen Lehrmeinung der Sozialwissenschaften entgegengestellt, daß Moral nicht die Folge gesellschaftlicher Prägung ist. Stattdessen behauptete Bauman, die Zivilisation habe moralisches Verhalten eher zurückgedrängt, marginalisiert und verhindert, moralisches Verhalten gehe allein von der oder dem einzelnen aus. Das autonome Individuum müsse den „moralischen Impuls“ eher gegen die barbarischen und Allgemeingültigkeit beanspruchenden Prinzipien der Moderne behaupten. Für ein Leben in der Postmoderne gelte es, allerlei Enteignungen der Moral zu widerstehen und sich den „moralischen Impuls“ wiederanzueignen. Was diese Aneignung verhindert oder auf welcher Grundlage sie möglich wäre, damit beschäftigt sich Bauman in seinem neuen Werk.
Die Frage steht also im Vordergrund, „welche Aspekte der Lebensformen es redundant oder unmöglich machen, die ‘Politik der Prinzipien’ zu betreiben“ (S. 20). Weniger gesellschaftliche Strukturen, als vielmehr die individuellen Lebenspolitiken seien die Kontexte, innerhalb derer heute moralische Einstellungen entwickelt würden. Bauman stellt dann vier typisierte, postmoderne Lebensstrategien vor. Weil die Postmoderne immer am besten als Weiterführung der Moderne und deren Überwindung gleichermaßen beschrieben ist, sind auch diese postmoderne Lebensstrategien Nachfolger einer modernen Form, die Bauman „Pilger“ nennt. Das moderne Leben als Pilgerreise ist die Metapher, die das zielgerichtete Unterwegssein beschreibt. Der Pilger ist der Utopist, der das Wahre und das Gute immer an anderem Orte vermutet: „Die Entfernung zwischen der wahren Welt und dieser Welt hier und jetzt besteht aus dem Mißverhältnis zwischen dem, was erreicht werden soll, und dem, was erreicht worden ist“. Der Pilger zieht aus der Stadt, die ihn nur auf – und von seinem Ziel fernhält, um in der Wüste nicht mehr ortsgebunden zu sein. Die Wüste als „Archetyp und Treibhaus der rohen, bloßen, ursprünglichen und uranfänglichen Freiheit, die nichts als das Fehlen von Grenzen darstellt“ (S. 138) wird zum Ort der unabhängigen Selbstschöpfung. Auch diese Symbole sind Realitäten, und so wurde aus dem, was die christlichen Eremiten noch „wirklich“ taten, im Zusammenhang mit protestantischer Ethik und Industrialisierung eine innerweltliche Angelegenheit. Statt in die Wüste zu gehen, arbeiteten die ProtestantInnen daran, die Wüste zu sich kommen zu lassen. Sie begannen, die Welt, die sie direkt umgab, nach dem Vorbild der äußerlichen Wertlosigkeit der Wüste zu gestalten. Alle Wege sind von den Bestimmungen des Pilgers markiert, begehbar und sicher – es sind allerdings auch die einzigen Wege. Die Pilgerreise ist nun nicht mehr die Folge freier Entscheidung, sondern notgedrungene Tat. Während einerseits das Leben als Pilgerreise verbracht werden muß, um nicht in einer Wüste verloren zu gehen, bietet die Zwangslage auch Vorteile: „Das Ziel, der gesetzte Zweck der Pilgerreise des Lebens, gibt dem Formlosen Form, macht aus dem Fragmentarischen ein Ganzes, verleiht dem Episodischen Kontinuität“ (S. 140). Weil die Wüste aber eigenschaftslos ist, muß sie durchs Wandern mit Sinn gefüllt werden; und durchs Wandern macht der Pilger seine Erfahrung und bildet so seine Identität. Pilger und Wüste erhalten ihren Sinn zusammen und durch einander, aber sie erhalten ihn nie ganz, weil zwischen dem Ziel und dem gegenwärtigen Augenblick immer eine Distanz besteht. Distanz übersetzt sich (psychologisch) noch in Aufschub und der ganze Prozeß der sich selbst reproduzierenden Sinnstiftung ist gewährleistet. „Der Befriedigungsaufschub wurde, sosehr er auch eine vorübergehende Frustration bewirkte, in Bezug auf die Identitätsbildung zu einem belebenden Faktor und Quelle des Eifers, jedenfalls insoweit er mit einem Vertrauen in die Linearität und Kumulationskraft der Zeit verbunden war“ (S. 143).
Der Anbruch der Postmoderne ist markiert mit dem Punkt (bzw. dem Prozeß), an dem sich herausstellt, daß problematisch nicht war, wie sich Identität herstellen ließ, sondern wie sie zu bewahren sei. Die beständige Arbeit daran, in der Wüste Spuren zu hinterlassen, stellt sich nun als womöglich völlig vergeblich dar. Der Schrecken darüber wird begleitet durch ein befreiendes Aufatmen über die neuen Möglichkeiten: wenn der alte Pfad bei der ersten Böhe verschüttet ist, probier ich eben andere, bin weder unwiderruflich geschlagen noch an ein Projekt gebunden. Aus dem alten, ernsthaften Projekt ist ein Spiel geworden, sogar mehrere Spiele. Ohne den Glauben und die Entschlossenheit zerbröselten auch die Leitlinien der Moderne (Prinzipien), Ersatz fanden sie in einer Reihe von kurzlebigen (Spiel-)Regeln. Das jeweilige Spiel kurz zu halten, weil die Regeln dauernd wechseln können, wurde zur Aufgabe postmoderner Lebensgestaltung. „(D)as Spiel kurz zu halten bedeutet, die Gegenwart an beiden Enden abzuschneiden, die Gegenwart von der Geschichte zu lösen; Zeit in jeder anderen Form als einer Ansammlung oder willkürlichen Sequenz gegenwärtiger Momente abzuschaffen; den Fluß der Zeit in eine stete Gegenwart einzuebnen“ (S. 145). Aller Aufschub verliert dabei natürlich seine Bedeutung, Identität muß nun nicht mehr haltbar und stabil, sondern flexibel und so wenig festgelegt wie möglich sein (vergl S. 146). In den schnellen und unsicheren Lebensabschnitten wird Aufmerksamkeit zur knappsten Resource, und auch die Zeit wird dabei fragmentiert. Unabhängige, in sich geschlossene Episoden sind die Fragemente der ehemaligen Linie: „Die Zeit entspricht nicht mehr einem Fluß, sondern einer Ansammlung von Teichen und Tümpeln“ (S. 148).
Die Nachfolger des Pilgers…
In dieser Situation wird der alte Pilger als die zeitgemäße Metapher abgelöst von seinen Nachfolgern, die zusammen die postmoderne Strategie mit ihrer Furcht vor Gebundenheit und Festlegung darstellen: Der Spaziergänger, der Vagabund, der Tourist und der Spieler.
- Der Spaziergänger (flâneur) ist – in Anlehnung an die Charakterisierungen bei Charles Baudelaire und später Walter Benjamin – die Symbolfigur des modernen Stadtlebens, sich seinen Raum erschließend durch Vorbeigehen, der sich in der Menge bewegt ohne selbst Teil der Masse zu sein. Der Flaneur war Bauman zufolge „ein früher Meister der Simulation“ (S. 151), weil er sich selbst zum Autoren seiner Geschichte erkor, das Straßenbild als sein Arrangement betrachtete und damit den Gegensatz von Realität und Schein auflöste. Dem Flaneur fehlt die Ernsthaftigkeit des Pilgers absolut, sein Zusammentreffen mit Anderen ist nur eine Episode ohne Konsequenz. Mit den FußgängerInnenzonen heutiger Innenstädte sind die Orte der Vergegnung („Begegnung ohne Auswirkung“, S. 150) Allgemeingut. Der Flaneur ist vom Konsumenten nicht mehr zu unterscheiden, und so treten auch Freiheit und Abhängigkeit nicht mehr als Gegensätze in Erscheinung. Denn: die tatsächliche Regie wird von woanders aus geführt.
- Der Vagabund war der moderne Anarchist, ort- und herrenlos und damit permanenter (An-) Reiz für philosophische und nationalstaatliche Ordnungsvorstellungen, Auslöser für Verwaltungwut und Überwachungsmaßnahmen. Der moderne Vagabund konnte seine Bewegungsfreiheit mit der Ziellosigkeit (die ihn vom Pilger unterschied) verbinden. Er blieb überall Fremder, aber seine Nicht-Zugehörigkeit machte ihn vor allem unabhängig. In der Postmoderne habe sich das Verhältnis zwischen Seßhaften und Vagabunden verkehrt, Orte der Beständigkeit sind nun zur Ausnahme geworden. Postmodernes Leben verdammt zur Flexibilisierung, macht die ehemals Seßhaften zu VagabundInnen in Zeit und Raum.
- Im Gegensatz zum Vagabunden gibt es für den Touristen die rauhen Seiten des Lebens nicht, sein Leben ist ganz Ästhetik (im Sinne von „eine Frage des Geschmacks“) und als solche auch bezahlt. Auch der Tourismus hat seine Karriere zu einem zentralen Phänomen der Postmoderne von der Peripherie der Moderne her hinter sich. Einzig dem Sammeln von Erfahrungen verpflichtet, ist der Tourist wie der Vagabund ständig an Orten, zu denen er nicht gehört. Im Unterschied zu diesem aber hat der Tourist ein Zuhause. Dennoch ist gerade dieses Heim, nicht zuletzt weil es postuliert ist, „am Horizont des Touristenlebens (…) eine unheimliche Mischung aus Schutzraum und Gefängnis“ (S. 159).
- Der Spieler ist der Welt, in der er sich bewegt, gleichwertig (und auch: gleichgültig): auch sie ist Mit- Spielende. Es gibt nicht Notwendigkeit/ Zufall, Ordnung/ Chaos, Glück/ Unglück, es gibt einfach nur Spielzüge. Jedes Spiel ist folgenlos für das nächste, Erfolg wie Versagen enden mit dem Spiel. Aber weil es immer ums Gewinnen geht, ist für allzu Zwischenmenschliches kein Platz: „Das Spiel ist wie Krieg“ (S. 161), daß dem Gewissen für Skrupellosigkeit noch die Absolution erteilt.
…und die Chancen der Moral…
….stehen nicht gerade gut, wenn mensch Bauman Glauben schenkt. Denn die Gemeinsamkeit aller miteinander verflochtenen und sich durchdringenden Lebensstrategien der Postmoderne ist die Tendenz, „menschliche Beziehungen fragmentarisch und diskontinuierlich werden zu lassen“ (S. 163), wobei der oder die Andere nicht mehr als moralischer, sondern als ästhetischer Gegenstand wahrgenommen werde. Und diese Art der Wahrnehmung führt Bauman zufolge gleichermaßen zu moralischer und politischer Verkümmerung der Menschen in postmodernen Zeiten (vergl. S. 164). Denn Bezugs- und Orientierungspunkte für die ästhetische soziale Strukturierung (und Herangehensweise ans Leben) sind – im Gegensatz zur moralischen oder kognitiven – Attribute des Subjekts. Statt also die Qualitäten des Objekts zu bewerten, sind Interesse, Erregung, Befriedigung, Vergnügen die Maßstäbe im Umgang mit den Anderen (2). Die postmoderne Welt ist ein unerschöpfliches Reservoir potentiell interessanter Objekte. Die zu Sammeln, wird zur Hauptaufgabe postmodernen Lebens. Wobei durch die Subjektzentrierung der Rahmen, innerhalb dessen gesammelt wird, seine Konturen verliert und nicht mehr Gegenstand von Interesse ist. „Die Objekte, denen man nur flüchtig, im Vorbeigehen und oberflächlich begegnet (vergegnet?), geraten nicht für sich als Entitäten – die vielleicht größerer Kraft, der Verbesserung oder insgesamt einer anderen Gestalt bedürften – in den Blick; (…)“ (S. 165), sondern als Partialobjekte, ohne Geschichte und Zusammenhang.
Zusammenfassend kommt Bauman zu der Einschätzung, daß „in der gängigen Wahrnehmung die vorrangige, vielleicht die einzige Pflicht des postmodernen Bürgers (…) darin besteht, ein erfreuliches Leben zu führen“ (S. 167). Zwar wird das Kreisen um die eigenen Angelegenheiten durch spontane und kurzweilige Ausnahmen durchbrochen und es kommt zu Ausbrüchen solidarischen Handelns – und hier nennt Bauman die Neuen Sozialen Bewegungen als Beispiele -, die wesentlichen Züge postmoderner Beziehungen würden dadurch jedoch nicht berührt. Postmoderne Beziehungen seien wesentlich gekennzeichnet durch „ihre Bruchstückhaftigkeit und Diskontinuität, die Enge ihres Blickwinkels und ihrer Ziele, die seichte Oberflächlichkeit des Kontakts“ (S. 168). Strategien zur Kritik des Prinzips vom „erfreulichen Leben“ (und der postmodernen Lebensstrategien überhaupt) würden gerade auch durch den Inhalt der Prinzipien verboten (vergl. S. 169).
Zur Kritik: Postmoderne Männerwelt
Zuerst einmal sei die schon vereinzelt an Bauman geäußerte Kritik wiederholt und ausgeweitet: Wie in allen anderen Büchern auch, verzichtet er vollständig auf die Kategorie Geschlecht und führt keinerlei Unterscheidungen auf der Grundlage der sozial und kulturell hergestellten Geschlechtskörper ein. Was den speziellen Bezug zur Moral angeht, haben feministische Studien gezeigt, daß es sich nicht nur lohnt, auch in der Entwicklung von Verantwortung und dem Umgang im (angeblich) menschlichen Miteinander analytisch zwischen den (möglichen) Geschlechtern zu unterscheiden. Es zu unterlassen, wird einfach auch den u.a. geschlechtlich stark differenzierten Wirklichkeiten – und den Lebensformen in ihnen – nicht gerecht: In einer Fußnote merkt Bauman an, daß er die Form des Pilgers bewußt nur maskulin verwendet und bestimmt hätte, denn „was immer bislang von der modernen Konstruktion des Lebens als Pilgerreise gesagt wurde, bezog sich ausschließlich auf Männer“ (S. 142). Und zwar weil Frauen der Selbsterschaffung grundsätzlich nicht für fähig gehalten wurden und lineare Zeit und Entfernung maskulin waren. So ist hier die Auslassung von Frauen noch begründet, wenn auch nicht entschuldigt. Als die Linearität der Moderne durch die Bruchstückhaftigkeit und Diskontinuitäten der Postmoderne abgelöst wird, fällt bei Bauman nur die Erklärung weg, aber die beschriebenen Lebensformen bleiben maskulin. Das betrifft nicht nur die Schreibweise, sondern die Typen selbst: Der Flaneur, wie Baudelaire ihn beschrieben hat, ist per se ein Mann. Ausgestattet mit der Fähigkeit, sich seine Welt selbst zu erschaffen, und gleichzeitig „das Weib“ wegen ihrer äußerlichen Schönheit anzubeten und ob ihrer inneren Leere wesensmäßig zwischen Mensch und Tier anzusiedeln. Daß Füßgängerzonen heute von Frauen wie Männern gleichermaßen bevölkert sind, widerspricht dem nicht. Von der Architektur des öffentlichen Raumes bis zur Kaufkraft der KonsumentInnen ist Maßstab zuerst der Mann, alles andere leitet sich ab. Der Spieler, für den Gewinnen im Vordergrund steht und Krieg bedeutet, ist ebenfalls ein Mann. Kreativität und Phanatsie des Kinderspiels läßt Bauman als Möglichkeit unter den Tisch fallen und orientiert sich stattdessen am Duell, dem „Spiel“ auf Leben und Tod um männliche Ehre.
Flüche und Chancen
Während Bauman immer wieder die Möglichkeiten von Fluch und Chance postmoderner Zustände und Prozesse betont, bleiben die Chancen bei der Beschreibung der postmodernen Lebensstrategien unerwähnt. Zum Beispiel bestünde die Möglichkeit, daß „Begegnungen ohne Auswirkungen“ nicht immer und von sich aus Vergegnungen sind, sondern als Begegnung ohne die Last moralischer Verantwortung durch Spontaneität wirken. Daß auch Spontaneität intensives Zusammensein hervorrufen kann, schließt Bauman von vornherein aus. Die Frage ist doch, ob Moral nicht auch ohne Berge von Verantwortung für Andere entstehen kann, und ob es Solidarität nicht auch ohne gemeinsame Leidensgeschichte geben kann. Wenn Bauman in der Postmoderne nur die „Verkümmerung“ von Moral und Politik sieht und beklagt, erscheint er selbst wie der um seine Früchte gebrachte Gärtner, der zugunsten der Emanzipation doch am liebsten kräftige Eingriffe an Entitäten vornehmen würde.
Im Umgang mit anderen ästhetischen Kriterien den Vorzug (vor moralischen) zu geben, muß nicht von sich aus menschenverachtend oder oberflächlich sein. Gustav Landauer schlug (in: Etwas über Moral, 1893) vor, persönliche Sympathie zum alleinigen Ausgangspunkt für freie Zusammenschlüsse zu machen, um Pflichterfüllung nicht zum Antrieb von Beziehungen werden zu lassen. Gwährleistet sein müßte dann allerdings ein möglichst Ausschlußfreies Netz von Zusammenschlüssen (denn sonst würden nur „die Symphatischen“ überleben). Gegen positive Bezüge zu zeitllich, örtlich und personell beschränkten Gemeinschaften aber sperrt Bauman sich auch in seinem neuen Buch. Weil er den Zusammenhang von Spontaneität und Intensität ausschließt, verwehrt er sich letztlich, wie schon in „Postmoderne Ethik“, gegen jede kommunale Alternative zum Nationalstaat: „Und was die erträumte kommunale Alternative zu dem jetzt universell verdächtigen Staat anbelangt – so verbrennen sich immer mehr Leute die Finger, während die Hitze der kommunal angefachten Emotionen die alten zivilisierten Solidaritäten dahinschmilzen läßt, um sie in neue unzivilisierte Formen zu gießen“ (S. 124). Der als abgewirtschaftet analysierte Nationalstaat – in „Moderne und Ambivalenz“ beschreibt Bauman den Staat als inzwischen arbeitslosen Gärtner -, der in der Postmoderne seine wesentliche Aufgabe der Ordnungsstiftung verliert, wird damit immer noch den möglicherweise an Identitäten entlang organisierten Gemeinschaften normativ vorgezogen.
Ethik ade – was bleibt?
Ethik, im Idealfall ein „Gesetzestext, der ‘universal’ korrektes Verhalten vorschreibt, also für alle Leute zu allen Zeiten“ (S. 23), ist in die Krise geraten. Während solche gesetzlichen Regelungen im Feudalismus noch die Ohnmacht der Beherrschten ausgleichen sollten und in der Moderne sich zur Herrschaftssicherung wandelten (vergl. S.67ff.), hat die Postmoderne ihre Anmaßung erkannt und offengelegt und könnte deshalb zur Ära der Moral werden: „Dank ihrer ‘Enthüllung’ (…) ist es nun möglich, ja unvermeidlich, die moralischen Probleme direkt ins Auge zu fassen, in ihrer nackten Wahrheit, wie sie aus der Lebenserfahrung von Männern und Frauen hervorgehen und wie sie dem moralischen Ich in ihrer unheilbaren und unlösbaren Ambivalenz gegenübertreten“ (S. 74). Das autonome Subjekt mit seiner einzelnen Handlung steht damit plötzlich im Rampenlicht der (bzw. einer!) Soziologie. Werden wir ZeugInnen einer späten Erfüllung antiautoritärer Forderungen (Das Private ist politisch)? Oder hat die vereinzelnde Marktlogik neben unseren Lebenszusammenhängen auch die wissenschaftliche Betrachtung politischer Strukturen fragmentiert und verhindert?
(1) Ich habe mich weitestgehend auf die Darstellung von Baumans neuestem Buch beschränkt. Auch die Besprechung erfolgt bewußt ohne sich aufdrängende Querverweise zu anderen "PostmodernistInnen" oder Bezüge zum historischen Anarchismus. Dabei fallen bestimmt einige wichtige Hinweise hinten rüber, die im wissenschaftlichen Diskurs um Baumans Soziologie der Postmoderne eine Rolle spielen. Andererseits dürfte aber auch ein offener Raum entstehen, den wiederum eine kollektive Diskussion füllen könnte. Ansätze, die anarchistische Ideen und postmoderne Weltsichten verbinden, zusammendenken, aufeinander beziehen, könnten aus einmal geschriebenen und dann verstaubten universitären Hausarbeiten ihren Weg in die öffentliche Diskussion finden. Oder von ganz woanders her, oder auch an anderen Punkten....
Alle zitierten Stellen stammen aus: Bauman, Zygmunt: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen; Hamburger Edition; Hamburg 1997; 270 S., 48,-DM.
(2) Die Debatte und die Konzepte zur Multikulturellen Gesellschaft sind sicherlich auch vor diesem Hintergrund zu betrachten: Statt an einer politischen Lösung für die Probleme und womöglich gegen die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu arbeiten, wird Migration von der ästhetischen Seite her angegangen. D.h., im Vordergrund steht die Perspektive der Einwanderungsländer, von der aus die Fragen gestellt werden. Maßstäbe sind dabei nicht die Lebensumstände der (potentiellen und wirklichen) MigrantInnen, sondern die Steigerung des jeweiligen Bruttosozialprodukts oder die kulinarische Bereicherung der jeweiligen "Kultur".