Vielversprechend sind in diesen Tagen die Meldungen aus Frankreich. Rechtzeitig zu Beginn des Eurojahres 1998 machen Arbeitslose, Obdachlose und andere sozial Ausgegrenzte deutlich, daß ihre Forderungen mit der Strategie der Regierung Jospin eine Verbesserung der Beschäftigung durchzusetzen und gleichzeitig die Maastricht-Kriterien für die Euro-Währung zu erfüllen, nicht in Einklang zu bringen sind. (Red.)
Was Mitte Dezember mit der Besetzung einiger Arbeitslosenkassen in Marseille begann, hat sich inzwischen zu einer landesweiten Bewegung ausgewachsen. Mittlerweile wurden Aktionen aus u.a. Marseille, Toulouse, der Bretagne und dem Großraum Paris gemeldet. Nicht nur die Kassen der Ämter der Arbeitslosenversicherung (ASSEDIC) wurden besetzt, die Aktionen wurden auch auf öffentliche Gebäude, wie Banken, Arbeitsämter, Sozialbehörden, Eliteschulen und sogar die Elektrizitätswerke ausgedehnt, Aktionswochen und zahlreiche Demonstrationen fanden statt. Mit den Goin’s in Pariser Nobel-Brasserien und Luxus-Hotels, oder Übernachtungsaktionen von Obdachlosen in großen Möbelhäusern bewiesen die AktivistInnen Power, Witz und Selbstbewußtsein. Angestoßen wurde die Bewegung in erster Linie durch die verschiedenen großen Arbeitslosenkomitees, wie z.B. AC! (Agir contre le chômage) und die kommunistische Gewerkschaft CGT, die jedoch schnell durch Obdachlosenverbände, soziale Initiativen, SchülerInnen- und StudentInnengruppen und die anderen Gewerkschaften unterstützt wurden. Während die sozialistische CFDT als größte französische Gewerkschaft Ende Dezember noch einer Go-in Aktion in den Pariser Louvre zugestimmt hatte, hat sie mittlerweile ihre Unterstützung für die radikalen Aktionsformen zurückgezogen. „Wir glauben nicht, daß man mit Demonstrationen Arbeitspläze schafft“, war der Kommentar ihrer Sprecherin Anne Guesdon.
Druck der Straße
Jedoch, die Strategie des „Druck der Straße“ hat bisher Erfolg gezeigt. Von Anfang an waren die Aktionen der Bewegung sehr massiv und durchaus wohlwollend in den Medien vertreten, ganz entgegen der üblichen Ignoranz der Öffentlichkeit gegenüber der Situation von Arbeitslosen. Und wenn wir den Umfragen Glauben schenken wollen, so bekunden mittlerweile 63 % der französischen Bevölkerung Sympathie für die Bewegung. Die massive öffentliche Unterstützung der Aktionen hat die französische Regierung sehr unter Druck gebracht. Erst einen Tag nach dem Beschluß der Regierung einen sozialen Notfond zu gründen, wurden die besetzten öffentlichen Gebäude polizeilich geräumt.
Realistische Forderungen?
Der große Mobilisierungserfolg der Bewegung hängt sicherlich mit der Prägnanz ihrer Forderungen zusammen. Eine einmalige Jahresendprämie von 3000 F (ca. 900 DM) für alle Arbeitslosen, die Erhöhung der sozialen Mindestleistungen wie der Solidaritätshilfe um 1500 F und die Ausdehnung des sogenannten „Mindesteinkommens zur Wiedereingliederung“ auch auf die bisher von dieser Beihilfe ausgeschlossenen Personen unter 25 Jahren, sind sehr konkrete Forderungen, die eine Identifikation mit den Zielen der Bewegung erleichtern und das Gefühl einer realistischen Chance der Durchsetzung dieser Forderungen vermitteln. Trotzdem gilt es auch, neben den zunächst pragmatischen Forderungen eine grundsätzliche Dimension in die Diskussion einfließen zu lassen. Betrachten wir die 2/3-Gesellschaft als Konsequenz des kapitalistischen Systems, so ist die Armut einiger immanent. Sie kann durch Sozialleistungen besser oder schlechter aufgefangen werden, nie jedoch wird ihr Vorhandensein grundsätzlich in Frage gestellt.
Und hier?
Die Zahlen der Arbeitslosen in Deutschland sind mit ca. 12 % im Westen und an die 20 % im Osten sogar höher als in Frankreich. Kürzungen von Sozialleistungen sind an der Tagesordnung, und die christlich-liberale Regierung tut noch nicht einmal so, als würde ihr das Schicksal von Arbeitslosen besonders am Herzen liegen. Dennoch sind die Ausgangsbedingungen für eine ähnliche Bewegung in Frankreich ungünstig. Arbeitslose sind viel weniger organisiert als in Frankreich, und auch die Gewerkschaften haben sich für die Interessen von Arbeitslosen noch nie sonderlich stark gemacht. Trotz alledem, ein Blick nach Frankreich macht Mut. Schließlich waren es auch hier zunächst wenige, die in ersten Aktionen anfingen, die Arbeitslosenkassen zu besetzen. Und das Selbstbewußtsein und die Phantasie mit der die Aktionen durchgeführt werden, können allemal ein Beispiel geben.