Elke Boumans/Arif Ünal: Die geteilte Menschenwürde. Flüchtlingsalltag und soziale Arbeit nach der Änderung des Grundrechts auf Asyl. IKO-Verlag für interkulturelle Kommunikation, Frankfurt/M. 1997, 270 S., 42 DM.
Der klassische Schlußsatz diesmal gleich vorweg: Diesem Buch sind zahlreiche LeserInnen zu wünschen. Es ist im Grunde nichts als eine nüchterne Bestandsaufnahme, wirkt aber, allein durch die Wucht der Tatsachen, wie ein Schlag vor den Kopf. Und zwingt uns hoffentlich, den tagtäglich unter unseren Augen, vor unserer Haustür sich abspielenden Skandal des staatlichen Umgangs mit Flüchtlingen endlich wahrzunehmen. Die detaillierte Darstellung der Fakten in einer konzisen, oft regelrecht dürren Sprache gerät zum denkbar aufrüttelndsten Aufruf, ja Aufschrei, etwas zu tun, und zwar jetzt, sofort, auf der Stelle, weil die beschriebene Mißachtung der Menschenrechte nicht irgendwann geschehen ist oder geschehen wird, sondern jetzt geschieht, jeden Tag, heute, in diesem Augenblick.
Die Fülle des in diesem Buch gesammelten und theoretisch allgemein zugänglichen Materials macht ganz deutlich: Wir haben Zugang zu Informationen. Es ist nicht so, daß wir nichts wüßten. Stellt sich also die Frage: Warum können diese Dinge geschehen? Warum können Menschen massenhaft und systematisch gezwungen werden, unter krankmachenden Bedingungen zu leben? Wie ist es möglich, daß Flüchtlinge durch die RepräsentantInnen des Staates in Bürokratie, Polizei und Justiz in einer Art und Weise behandelt werden, die sich weder mit den Menschenrechten noch – was häufig der Fall ist – mit den geltenden Gesetzen vereinbaren läßt? Warum können Männer, Frauen und Kinder auf legalem Wege in Staaten abgeschoben werden, in denen sie Verfolgung, Folter und Tod erwartet?
Die Arbeit von Elke Boumans und Arif Ünal gibt mehrere Antworten. Eine davon besteht in der staatlich forcierten räumlichen Isolierung von in der BRD ankommenden Flüchtlingen in Sammellagern, die die betroffenen Menschen und die „Lebens“-Bedingungen, denen sie ausgesetzt werden, der öffentlichen Wahrnehmung entzieht. Die bewußte Marginalisierung und der Ausschluß aus der Gesellschaft durch diese Art der Unterbringung und die mit ihr einhergehende „soziale Stigmatisierung“ (S.97) lassen es als „die Absicht der Flüchtlingsbürokratie (erscheinen), daß Flüchtlinge und Abschiebehäftlinge nur noch als statistische Masse und nicht mehr als Menschen dargestellt und wahrgenommen“ werden (S.117). Zugleich erfüllt die Kasernierung eine ganz unmittelbar gegen die Flüchtlinge gerichtete Funktion, denn es ist „bekannt…, daß für die Menschen bei längerem Aufenthalt (in den Lagern) die Gefahr besteht, psychisch zu erkranken und nervenärztlicher… Behandlung zu bedürfen. Trotz dieses Wissens wird die Planung und der Bau von Großlagern weitergeführt. Hier stellt sich uns die Frage, ob diese Vorgehensweise als ein Teil der Abschreckungspolitik bewußt betrieben wird und die psychische Zerstörung der Menschen ebenfalls Teil der Abschreckung sein soll. Das bedeutet jedoch nichts anderes, als daß diese Art der Unterbringung in Verbindung mit Arbeitsverbot eine systematische Heranziehung von tausenden Menschen zu sozialen und psychischen Krüppeln (sic!, darstellt)“ (S.66).
Eine weitere Antwort ist aber auch in unserer eigenen Gleichgültigkeit zu suchen, in der Passivität oder gar aktiven Zustimmung der deutschen Bevölkerung, die dazu führte, „daß fast keine gesellschaftlich relevante Gruppe in der BRD für die Flüchtlinge Partei ergriffen hat. Nur so erklären wir uns, daß der ‚Asylkompromiß‘ ohne nennenswerten Widerstand durchgesetzt werden konnte.“ (Einleitung S.I)
Die AutorInnen von „Die geteilte Menschenwürde“, die als SozialarbeiterInnen selbst jahrelange Erfahrung in der praktischen Arbeit mit Flüchtlingen haben, haben sich das Ziel gesetzt, diese Indifferenz durch die Vermittlung von politischem, soziologischem und juristischem Wissen, vor allem aber durch Aufdeckung der staatlichen und medialen Propaganda und Konditionierung und deren Konfrontation mit der Realität, durch aufrüttelnde Fallbeispiele und eigene Stellungnahmen aufzubrechen. Damit wird die Grundlage für eine Sensibilisierung und für die Schaffung eines Bewußtseins bei den LeserInnen bereitgestellt, die die Voraussetzung für entschlossenes politisches Engagement bilden müssen.
Da das Buch sowohl eine große Zahl von Beispielen und Einzelfällen als auch umfangreiches statistisches und analytisches Material dokumentiert, diese Informationen aber nie als bloße Auflistung zusammengetragener Fakten stehenläßt, sondern immer um die theoretisch fundierte Einordnung in den politischen und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang bemüht ist, muß es ein riesiges Themengebiet abdecken. Dies gelingt – angesichts der begrenzten Seitenzahl – inhaltlich auch in bewundernswerter Weise, allerdings müssen dafür manche Sachverhalte, die mensch sich näher ausgeführt wünschen würde, nur angerissen bzw. in unvollständiger Form stehen bleiben; außerdem leidet stellenweise die Textstruktur darunter, indem nämlich neben bemerkenswert klar aufgebauten Abschnitten (darunter die für die Orientierung sehr hilfreiche Einleitung) auch zufällig wirkende Aneinanderreihungen oder Brüche in der Argumentation und Gedankenführung sowie strukturelle Unstimmigkeiten (als Beispiel sei hier nur die teilweise verwendete, aber nicht durchgehaltene Feminisierung der Sprache genannt) zu finden sind, die allerdings eher auf Zeitdruck beim abschließenden Redigieren als auf Fehler im Konzept oder inhaltliche Überlast zurückzuführen sein mögen. Sie tun der Wichtigkeit und Qualität der mit diesem Buch geleisteten Arbeit jedenfalls keinen wesentlichen Abbruch.