gewaltfreiheit

„Revolution heißt jedem Verantwortung geben“

Zum Tod Danilo Dolcis

| Klaus Gruber

"Falls man mich umbringt
oder mein Herz eines Tages still steht,
meine Lieben, dann vermache ich euch nichts,
weder Häuser noch Ländereien noch Geld. (...)
Ich vermache euch
ein Leben, das ich unter Anstrengung entdeckte, (...)"

Diese Zeilen schrieb Danilo Dolci Ende der sechziger Jahre in Westsizilien, dort machte er seit Anfang der fünfziger Jahre mit gewaltlosen Aktionen auf die Armut und Not der Bevölkerung sowie die Verstrickungen von Mafia und Politik aufmerksam. Am 30. Dezember 1997 hat sein Herz für immer aufgehört zu schlagen. (Red.)

Als Dolci 1952 in das sizilianische Dorf Trappeto kam, war er 28 Jahre alt und von dem Willen bestimmt, aus seinen Erkenntnissen und Überzeugungen heraus zu leben. Die mögliche Karriere als Architekt, Experte für Stahlbeton, bricht er ab: „In den letzten Jahren hatte ich immer deutlicher die Notwendigkeit gespürt, endlich Ordnung zwischen den verschiedenen Stimmen zu schaffen, das in mir Gesammelte zu klären und es mit meiner eigenen Lebenserfahrung, mit meiner Wahrheit, mit meiner Intuition zu konfrontieren. (…).Mein Leben gab es fast nicht, und das wenige, was da war, entsprach nicht dem, was ich mit dem Kopf begriffen hatte. (…) Ich sah immer deutlicher Menschen um mich, die anders redeten, als sie dachten, und, zwischen beidem hin- und hergerissen, noch anders lebten. (…) Sogar die Kenntnis des Evangeliums benutzten sie als Instrument der Selbstbehauptung…“ (1). Der Norditaliener, Sohn eines italienischen Vaters und einer slowenischen Mutter, – ein Großvater stammte aus Deutschland, was „zu einer natürlichen Offenheit über „das Vaterland“ hinaus“ (2) beigetragen hat – wächst in der Nähe von Triest in einer Familie des bürgerlichen Mittelstandes auf. Unpolitisch war er jedoch keineswegs. Er hatte 1943 den Kriegsdienst in der faschistischen Armee verweigert und war aus dem Gefängnis von Genua geflohen (3).

Bevor er nach Sizilien ging, hatte er in einer Einrichtung für Waisen und Obdachlose gearbeitet. Über die Lebensbedingungen in Süditalien hat Dolci vor seiner Abreise keine klaren Vorstellungen. Er schreibt: „Ich weiß nicht mehr genau, wie und warum ich (…) nach Sizilien gegangen bin, nach Trappeto, dem ärmsten Dorf, das ich je gesehen hatte. Ich sah mich um, ich war unwissend gegenüber den Problemen des Südens, unwissend, was die Technik einer sozio-ökonomischen Arbeit betraf, (…) arbeitete ich mit den Bauern und Fischern, nahm ich an ihrem Leben teil.“ (4) Wie auf der ganzen Insel herrschte in Trappeto große Arbeitslosigkeit, war der Analphabetismus weit verbreitet und die Gewalt der Mafia allgegenwärtig. Er traf Menschen an, die verbittert und zutiefst unzufrieden waren, aber nichts Grundlegendes taten, um eine Veränderung herbeizuführen.

Vor allem das Elend der hungerleidenden Kinder, die häufig allein aufwachsen mußten, Kriegswaisen oder Kinder, deren Eltern von der Mafia umgebracht oder vom Staat inhaftiert worden waren, drängte ihn zur Aktion. 1952 machte er mit einer achttägigen Fastenaktion auf den Hungertod eines kleinen Jungen aufmerksam und forderte ein Ende der Tötung durch unterlassene Hilfe. Zwei Jahre später eröffnete er das „Borgo didio“, ein Haus, in dem bedürftige Kinder aus Trappeto versorgt und betreut wurden.

Autoanalisi popolare = Selbstanalyse des Volkes

Dolci und seine MitarbeiterInnen gründeten in dieser Zeit nicht allein soziale Einrichtungen, sondern versuchten darüber hinaus die Ursachen der Armut systematisch zu ergründen und zu dokumentieren. Mit den Büchern Umfrage in Palermo und Banditen in Partinico machten sie die Ergebnisse Mitte der fünfziger Jahre öffentlich. Die Publikationen erlangten große Aufmerksamkeit. Die darin dokumentierten Beschreibungen der armseligen Lebensbedingungen auf Sizilien, von in Hunger und Not lebenden Menschen selbst geschildert, machten die Ungleichzeitigkeit der ökonomischen und sozialen Entwicklungen in Europa eindrücklich deutlich. Dolcis soziologische Untersuchungen der Armut und sein gleichzeitiges leidenschaftliches Bemühen, die SizilianerInnen zu befähigen und zu ermutigen, selbst aktiv zu werden, um eine Verbesserung der Lebensbedingungen zu erreichen, stießen auf reges internationales Interesse. Zur Wirkung der Bücher Dolcis schreibt Eduard Wätjen in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe von Banditen in Partinico: „Der Klasse der Miserablen behilflich zu sein, entsprach auch der Notwendigkeit Danilo Dolcis, der sich von der ihm durch eigene Arbeit gesicherten Lebenslage eines jungen, begabten und dank seiner Veröffentlichungen bereits bekannten Architekten und Architektur-Lehrers freiwillig getrennt hatte und selbst zu den Elenden gehörte. Nur wer das erkennt, begreift die Ursache des Eigentümlichen der Wirkung jener Bücher, die Danilo Dolci verfaßte, Bücher, die die Elenden Siziliens selbst durch die Feder eines Mannes schreiben, der ihr Leben zumal teilt und reflektiert.“ (5) Die Veröffentlichungen wurden in viele Sprachen übersetzt und es entstand ein internationaler UnterstützerInnenkreis zu dem u.a. Paulo Freire, Robert Jungk, Jean Goss, Aldous Huxley, Noam Chomsky und Jürgen Habermas gehörten.

Es stellte sich heraus, daß eine wesentliche Ursache der unbeschreibliche Not und Armut der Bevölkerung das Fehlen eines ausreichenden Bewässerungssystems war. Das Wasser floß größtenteils ungenutzt ins Meer oder war unter der Kontrolle der Mafia. Abermals mit einem Hungerstreik machte Dolci 1955 auf die Notwendigkeit eines Staudamms am Fluß Jato aufmerksam. Durch eine intensive Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung über den Sinn und Zweck des Staudamms gelang es, den Druck, der zunächst nur von wenigen ausging, immer mehr zu verstärken, so daß die Regierung in Rom den Bau des Staudamms 1962 schließlich genehmigte. Die mit dem Kampf um den Staudamm verbundenen Veränderungen im Herrschaftsgefüge der Region beschreibt Dolci so: „Über die verzweifelte Bevölkerung herrschte die Mafia mit ihren starken politischen Verbindungen. (…) Man prüft die Notwendigkeit und Möglichkeit für den Bau eines großen Staudamms zur Bewässerung des Gebietes. (…) Der Druck geht zuerst von wenigen aus, verbreitet sich dann immer weiter und läßt nicht nach, bis mit dem Bau des Staudamms begonnen wird. Unter den Arbeitern der Großbaustelle entwickelt sich eine Gewerkschaft. Beschlüsse werden nicht mehr durch die Mafia gefaßt, die an Prestige verliert. (…) Es entstehen die ersten, wenn auch rudimentären Zentren zur Bildung einer demokratischen Bewässerungsgenossenschaft, um demokratisches Wasser zu bekommen und kein Mafia-Wasser.“ (6)

Der umgekehrte Streik

Die hohe Arbeitslosigkeit, unter der die Menschen litten, war ein weiteres Thema, dem sich Dolci und seine MitarbeiterInnen in dieser Zeit widmeten. Sie waren der Ansicht, daß die Menschen Selbstachtung und Eigeninitiative verlieren, wenn sie vom produktiven Arbeitsprozeß ausgeschlossen sind. Ein Thema, das auch heute wieder an Aktualität gewinnt. Die spektakuläre Aktion, die Dolci 1956 organisierte, ist aber wohl kaum auf heutige Verhältnisse übertragbar. Dolci rief die 7 000 Arbeitslosen des Ortes Partinico, in dem er jetzt lebte, auf, eine für die lokale Infrastruktur wichtige Straße instand zu setzen. Die Politik hatte diese dringliche Angelegenheit seit Jahren nicht in Angriff genommen. Die Menschen, die sich schließlich daran machten, die Straße wieder herzurichten, verlangten keinen Lohn, sondern klagten das in der Verfassung verankerte Recht auf Arbeit ein und stellten damit die Unfähigkeit der Politik bloß. Die Polizei löste die Aktion auf, Dolci wurde später zusammen mit 21 anderen angeklagt und wegen „widerrechtlicher Besetzung eines Grundstücks“, also „Hausfriedensbruch“ verurteilt! Er mußte für zwei Monate ins Gefängnis.

Johann Galtung versuchte 1956 in einem Aufsatz Parallelen zwischen dem Wirken Gandhis und Dolcis aufzuzeigen, so daß Dolci danach auch als „sizilianischer Gandhi“ bezeichnet wurde. Das war sicher eher als Anerkennung gemeint, denn als Ausdruck für die Annahme, Dolci sei eine Art europäische „Wiedergeburt“ des Mahatma. Ohne Zweifel hatte Gandhi Dolcis Ansichten und Arbeit beeinflußt, so war auch für ihn die Gewaltlosigkeit nicht nur eine Methode oder eine Taktik. Seine Aktionen waren Ausdruck der Erkenntnis, daß grundlegende gesellschaftliche Veränderungen notwendig seien, um Armut, Not und Ungerechtigkeit und vor allem gewaltförmige Beziehungen und Abhängigkeiten endgültig abzuschaffen. Als er und seine MitarbeiterInnen soziale Einrichtungen, Bildungszentren und Produktionsgenossenschaften gründeten, war damit mehr als „nur“ Sozialarbeit zur Linderung der akuten Not verbunden. Dolci strebte eine gewaltlose Revolution an, die das Mafia-Klientelsystem und die damit einhergehende Gewalt aufbrechen sollte. Auf Sizilien wirkte seiner Ansicht nach ein Klientelsystem, in das Politiker verstrickt waren, deren Macht und Prestige von „einflußreichen Wählern“ grundlegend bestimmt wurde, die für die nötigen Stimmen sorgten. Also ein System der Abhängigkeit und Erpressung: „gibst du mir was, dann geb ich dir Wählerstimmen.“ Nach Dolcis Ansicht sind die Grundbedingungen dieser Struktur: „- das niedere ökonomische Niveau der breiten Massen, aufgrund dessen die Suche nach Brot und Arbeit so dringlich ist, daß alles übrige zweitrangig wird; – das niedere kulturelle und politische Niveau breiter Kreise der Bevölkerung: sie verfechten kurzsichtig ihre eigenen Interessen, handeln egoistisch nur für sich selbst, ohne sich dabei auch nur im geringsten um das Interesse aller zu kümmern; – die mangelnde Fähigkeit zu einem neuen Leben der Gemeinschaft und Zusammenarbeit: dieses Terrain ist fruchtbar für jedes autoritäre Abenteurertum, für jede Art von Faschismus, Monopolismus und Oligopolismus.“ (7) Die Klientelsysteme sind, so Dolci, in dem Maß möglich, in dem die Einzelnen, die Isolierten, aus Unkenntnis nicht in der Lage sind, ihre Rechte geltend zu machen und untätig bleiben.

Gewaltförmige Beziehungen und Klientelsysteme sieht Dolci aber nicht nur in Westsizilien am Werk, sondern auch in den scheinbar demokratischen Systemen. Das Verständnis des sizilianischen Klientelsystems ist für ihn daher beispielhaft. Die Überwindung dieser Verhältnisse macht revolutionäre Veränderungen notwendig, die im Bereich der Erziehung, der Organisation, der Technologie und der Konflikte anzusetzen haben. Unter revolutionär versteht Dolci: Die Erziehung wird revolutionär, wenn es ihr gelingt, Einzelne oder Gruppen zu befähigen, die eigenen Probleme zu erkennen und Lösungsinstrumente zu finden. Überwunden werden muß die Auffassung, daß Erziehung für die Heranbildung geeigneten Personals zu sorgen hat, das den Anforderungen der Industriegesellschaft entspricht. Vielmehr soll sie die Menschen durch Selbstanalyse und Selbstbefähigung sensibilisieren und zu BürgerInnen einer neuen Gesellschaft machen, die sich nur so weit anpassen, wie sie es für annehmbar halten.

Eine Organisation ist dann revolutionär, wenn sie ohne Hierarchie auskommt und durch neue zwischenmenschliche Beziehungen ein Netzwerk von freiwilligen Zusammenschlüssen geschaffen wird, das so lange Druck ausübt, bis das politische Leben die fortschreitende Entwicklung dieser „organischen Zellen“ nicht mehr behindert, sondern begünstigt. Durch lokale Entwicklungsarbeit wird ein Netz geknüpft, das sich von verschiedenen Punkten aus immer weiter verzweigt. Professionelles Politikmachen muß überwunden und die Trennwand zwischen Bürokratie und Bevölkerung eingerissen werden.

Die Technologie ist revolutionär, wenn es ihr gelingt, den Menschen stärker zu machen und die wesentliche Entwicklung zu begünstigen, anstatt sie zu verstümmeln oder zu zerstören; und wenn es ihr gelingt, eine Beziehung herzustellen, die die Natur nicht ausraubt, sondern achtet und vernünftig verwertet.

Die Zerstörung der parasitären Beziehungen des Klientelsystems, wird nicht ohne dauernden harten Kampf zu erreichen sein. Dieser Kampf ist aber nur revolutionär, wenn er geführt wird, ohne daß getötet wird. Wird das Wort „Revolution“ im Sinne radikaler, umfassender Veränderungen verwandt, kann der Krieg – auch wenn man den relativen Beitrag anerkennt, den Gewaltaktionen leisten können – nicht als etwas wirklich Neues, Revolutionäres anerkannt werden. (8)

Und zusammenfassend schreibt Dolci: „Die Selbstverwaltung der Bevölkerung ist etwas anderes, als das Volk zu regieren und ihm vielleicht Wahlen zu erlauben, um jedes Risiko auszuschalten. Der Wunsch, lediglich den Platz der alten Macht einnehmen zu wollen,ist etwas anderes, als in jedem Einzelnen Macht zu schaffen. Bewußtseinsbildung genügt nicht. Die Massen, die an einer Veränderung interessiert sind, müssen driingend sich selbst erkennen und sich zusammenschließen. (…) umfassende, tiefgreifende Selbstanalysen in die Wege leiten, um die genaue Kenntnis der Situationen, der Ursachen und der besonderen strukturellen Hindernisse für den Fortschritt zu erwerben; Dokumentationen veröffentlichen und die Anklage in der Weise führen, daß alle die Lage genau begreifen können; durch experimentelle Initiativ-Zentren die Lösung der Probleme in die Wege leiten und zusammen mit den schon bestehenden Kräften in Angriff nehmen; bei den Einzelanalysen minutiös verfahren, ohne das Gesamte aus den Augen zu verlieren; diejenigen herausfinden, die an Veränderungen interessiert sind, und sich mit ihnen verbünden, aber nicht durch bürokratische Schliche, sondern indem man eine neue, notwendige Organisationsform sucht; Vorstellungen, Gruppen, Techniken der Gruppenarbeit und die fehlenden Instrumente in ein System bringen (anstatt jene weiter zu stärken, die die gegenwärtigen Strukturen aufrecht erhalten; speziellen Druck ausüben, um das zu erreichen, was nicht unmittelbar von uns abhängt: von einem Punkt ausgehend andere miteinbeziehen und so allmählich eine Verbreiterung erreichen, – das ist die Methode, an die ich glaube.“ (9)

Viele Aspekte dieses Konzeptes sind denen der Idee der Graswurzelrevolution sicher ähnlich: die Gewaltlosigkeit und die Notwendigkeit eines radikalen Bruchs mit den überkommenen, im Kern autoritären, Herrschaftsstrukturen z.B. Etwas fraglich ist allerdings, ob die Bedeutung, die den pädagogischen Maßnahmen zur Selbstanalyse und Selbstbefähigung, sowie die angenommene sich selbst verstärkende Kraft eines Netzwerkes von lokalen Initiativen verallgemeinerbar sind. Ohne Zweifel waren die Projekte und Initiativen, die von Danilo Dolci und seinen MitarbeiterInnen in Westsizilien verwirklicht wurden, Kristallisationspunkte für Auseinandersetzungen, die die Lebensbedingungen verbessert haben. Aber viele Maßnahmen sind wohl doch sehr stark von den spezifischen lokalen und regionalen Bedingungen bestimmt worden. Die Unterschiede zwischen den eher überschaubaren Strukturen einer Dorfgemeinschaft und den anonymeren und unübersichtlicheren einer Großstadt sind doch erheblich und beeinflussen die Möglichkeiten zur organisierten Selbstanalyse und zur Ausbildung eines Selbstbewußtseins durch selbstorganisiertes Handeln. Vor allem um die ungemein beständigen und stabilisierenden bürokratischen Strukturen zu durchbrechen, ist ein langer Atem notwendig. Niederlagen sind unvermeidbar; viele Erfolge des Anfangs werden von den Klientel-Strukturen zu einer Teil- Modernisierung der alten Machtverhältnisse benutzt und in ihrer radikalen Perspektive eingedämmt Der Erfolg von lokal und regional begrenzten Initiativen ist möglich, aber vermutlich von spezifischen, nicht übertragbaren Bedingungen abhängig. Ganz abgesehen vom globalen Maßstab, in dem sich gegenwärtig viele Veränderungsprozesse abspielen. Die Probleme, mit denen Dolci und etwa auch die in vieler Hinsicht mit ihm sehr vergleichbaren Aktivisten Cesar Chavez (vgl. GWR 180) und Paolo Freire (vgl. GWR 220) konfrontiert waren, sind geblieben und verschärfen sich in den Modernisierungsprozessen z.T.: Analphabetismus, Angst der Unterdrückten vor Terror, sozialer Ausschluß und geringe Fähigkeit zur Selbstorganisation. Deshalb müssen die Erfahrungen mit Versuchen des sozialen Widerstands und kreativer Veränderung, die sie gemacht haben, aufgenommen, überdacht und kritisiert werden. Die neue Mafia erzeugt ihre „Kultur des Schweigens“ nicht mehr durch „Familien“-Loyalitäten, sondern durch Massenmedien und die Auflösung traditioneller Weltbilder und Einstellungen. Die desorientierten und atomisierten Individuen sind die leichte Beute von „Führern“, „Managern“ und ähnlichen „Interessenvertretern“. Die alten Mafia-Regeln und zu Lebensweisheiten gewordenen Erfahrungen der Ent-Solidarisierung gelten stärker als je: „Wer allein spielt, verliert nie“. Aber es bleibt auch dabei: „Wenn die Herrschenden gesprochen haben, werden die Beherrschten sprechen. Wer wagt zu sagen: niemals?“

Die Erfolge und die vielleicht unterschwellig oder an anderer Stelle „auftauchenden“ Wirkungen der Bildungszentren und anderen Projekte sollen nicht geschmälert werden, vielleicht werden sie auch erst vor Ort verständlich. Eine Besucherin schreibt 1983 über die sichtbaren und sichtbaren Wirkungen der Arbeit: „Sichtbar, weil sich tatsächlich vieles in der Region geändert hat, und zwar auch im Zusammenhang mit der Selbstanalyse und Selbst-Bewußtwerdung der Bevölkerung; verborgen, weil die Arbeitszentren so unsicher wie eh und je (…) Es gibt seit Jahren Cooperativen für Weinbauern, Handwerker und Künstler, die in direktem oder indirektem Zusammenhang mit dem Centro stehen. Die Menschen sind nicht zu zählen, die aus dem Wissen um und der Mitarbeit am Staudamm Mut geschöpft haben (…) Da aber das Prinzip der ‘organischen Planung’ darin besteht, Geburtshilfe für die jeweils eigenständige Arbeit zu leisten, dauert es lange, bis einem Besucher von draußen deutlich wird, welche Kraftquellen in den paar bescheidenen Gebäuden und einfachen Organisationsformen gesprudelt sind und jederzeit wieder in neue Richtungen fließen können.“ (10)

In den siebziger Jahren, als die nationale und internationale Aufmerksamkeit nachgelassen hatte, konzentrierte sich Danilo Dolci auf die pädagogische Arbeit. Er gründete 1972 ein Erziehungszentrum. Ein Schulbetrieb wurde aufgenommen, der mangels finanzieller Unterstützung vorübergehend eingestellt werden mußte, bis 1983 die staatliche Genehmigung der Scuola Materna erreicht wurde.

In den achtziger Jahren war Danilo Dolci selbst in Italien vielen, die sich in der Friedensbewegung engagierten, unbekannt. Ob er sich bewußt von dieser Bewegung zurückhielt, sich andere Schwerpunkte gesetzt hatte oder von seiten der Friedensbewegung keine Interesse an seinen Erfahrungen, Ideen und Methoden bestand, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.

Dolci hat in dieser Zeit offenbar weiterhin an Analysen von Macht- und Gewaltverhältnissen und Alternativen zur gegenwärtigen Gesellschaft gearbeitet. 1987 veröffentlichte er „Die Massenkommunikation gibt es nicht“, ein Jahr später „Vom Übertragen des Herrschaftsvirus zum Kommunizieren in einer kreativen Struktur“ und 1989 den Entwurf eines Manifestes. (11) Alle diese Titel sind bislang nicht auf deutsch erschienen und somit in unserem Sprachraum kaum wahrgenommen worden. Vielleicht ist der Tod Danilo Dolcis ein Anlaß, sich erneut mit seinen älteren sowie jüngeren Arbeiten zu beschäftigen und sich von seinen Analysen und Ideen für eine gewaltlose Revolution inspirieren zu lassen.

(1) Dolci, Danilo: Die Zukunft gewinnen. Gewaltlosigkeit und Entwicklungsplanung, Bellnhausen über Gladenbach, 1969, S. 9

(2) Dolci, Danilo: a.a.O., S. 8

(3) Vgl. den biographischen Essay von Peter Müller in: Dolci, Danilo: Sizilianische Geschichten, Köln, 1987, S. 10

(4) Dolci, Danilo: a.a.O., S. 10f.

(5) Dolci, Danilo: Banditen in Partinico, Freiburg, 1962, S. 265

(6) Dolci: Die Zukunft gewinnen, a.a.O., S. 67f.

(7) Dolci, Danilo: a.a.O., S. 19

(8) Vgl. Dolci, Danilo: a.a.O., S. 112-118

(9) Dolci, Danilo: a.a.O.,S. 113, S. 122f.

(10) Frommann, Anne: Besuch in Partinico. In: Gugel, Günter: Gewaltfreiheit - ein Lebensprinzip, 1983. Zit. nach: Müller, Barbara: Historische Beispiele gewaltfreier Kampagnen für soziale Gerechtigkeit. Vortrag anläßlich der Mitgliederversammlung des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV) am 8.3.1997 in Bonn

(11) Vgl. Mangano, Antonio: Erziehung und Gewaltfreiheit bei Danilo Dolci. In: Sozialpädagogik. Zeitschrift für Mitarbeiter, Gütersloh, 34. Jg., 1992, S. 28-38

Literatur

Dolci, Danilo: Sizilianische Geschichten, Köln, 1987

Dolci, Danilo: Der Himmel ist aus Rauch gemacht. Sizilianische Erzählungen, Berlin/Weimar, 1976

Dolci, Danilo: Poema umano = Der Menschen Gedicht, Bern, 1974

Dolci, Danilo: Vergeudung. Bericht über die Vergeudung im westlichen Sizilien, Zürich, 1965

Dolci, Danilo: Umfrage in Palermo. Dokumente aus der sizilianischen Elendshölle, Olten, 1959

Ammann, Walter: Danilo Dolci. 20 Jahre Sozialarbeit in Westsizilien. Bern 1972

Bujard, Otker: Danilo Dolci (geb. 1924), die Kraft, Leben zu entfesseln, in: Wider den Krieg. Große Pazifisten von Immanuel Kant bis Heinrich Böll. Hrsg von Christiane Rajewsky ... München 1987, S. 385-394

Vonèche, Jaques: Sprechen um zu wachsen. Die Pädagogik von Danilo Dolci. In: Sozialpädagogik. Zeitschrift für Mitarbeiter, Gütersloh, 29. Jg., 1987, S. 14-21