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Gegen die organisierte Kriminalität!

| Johann Bauer

Der Deutsche Bundestag hat den lange diskutierten „Großen Lauschangriff“ beschlossen; der Bundesrat hat der Grundgesetzänderung zugestimmt, aber ein neues Vermittlungsverfahren über die Änderung der Strafprozeßordnung erzwungen. Gegenstand der in letzter Minute doch noch (von den Resten des Liberalismus in den Redaktionen von „Spiegel“ und „Zeit“, die um die Sicherheit ihrer InformantInnen fürchten) begonnenen Debatte ist vor allem, welche Berufsgruppen nicht abgehört und in welchen Fällen abgehörte Informationen nicht strafrechtlich verwertet werden dürfen. Es ist dabei zweifellos so, daß tatsächliche oder drohende Verwanzung von Redaktionen dazu dienen soll, potentielle InformantInnen abzuschrecken, Leute, die bereit sind brisante Informationen weiterzugeben – aber nur wenn sie nicht entdeckt werden und einen „Karriereknick“ fürchten müssen. Insofern ist der „Lauschangriff“ Teil der gegen die Meinungs- und Pressefreiheit gerichteten staatlichen Einschüchterungsstrategien (vgl. auch „Lex Lafontaine“ im Saarland; merkwürdig, wie Politiker vor Wahlen und je nach „Zielgruppen“ ihre Ansichten ändern).

I.

Die grundgesetzlich geschützte Privatsphäre soll den publikumswirksamen Kampf gegen „organisierte Kriminalität“ nicht länger aufhalten; auch Gespräche in Wohnungen, bei ÄrztInnen und mit AnwältInnen dürfen durch „Wanzen“ und Richtmikrofone abgehört werden, wenn die definierten Voraussetzungen von den zuständigen RichterInnen angenommen werden. Die ermittelnde Polizei wird sie schon entsprechend informieren! Nach verschiedenen Ländergesetzen waren solche Praktiken bisher schon legal, wenn es um „Gefahrenabwehr“ geht, also mit der Begründung, daß drohende Straftaten verhindert werden sollen. Nun soll aber zum Zwecke der „Aufklärung“ von Verbrechen, um Beweise zu sichern, legal auch in Räumen abgehört werden können. Merkwürdigerweise ausgenommen sind: Beichtgespräche, Gespräche mit dem Strafverteidiger und – Abgeordnete. „Jetzt bekommt unser Gespräch einen antiparlamentarischen Akzent“ (Schily im „Spiegel“ 4/98).

Dabei sind die Gruppen, die nun gesetzlich von den „Lauschangriffen“ ausgenommen werden sollen, ohnehin durch das generelle Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“ und verschiedene spezielle Schutzrechte privilegiert, vor allem aber durch ihre gesellschaftliche Stellung. Es ist klar, daß RichterInnen eher schnell einmal einen Durchsuchungsbefehl für die Redaktion der Graswurzelrevolution wegen Beleidigung Buchheims oder vergleichbarer schwerer Straftaten gegen die öffentliche Ordnung unterschreiben und daß hier die Staatsschutzabteilungen von Justiz und Polizei an Einschüchterung und „Zufallsfunden“ Interesse haben, daß die gleichen Leute aber ein schnelles Ende ihrer BeamtInnenkarriere fürchten müßten, wenn sie eine neue „Spiegel“-Affäre veranstalteten. Es ist klar, daß die KurdInnen, die in Celle Häuser bar bezahlen, sofort in den Verdacht der Geldwäsche und Schutzgelderpressung geraten und entsprechend nach Drogen, Waffen, Bargeld durchsucht werden, während man sich wohl hüten würde, bei den bundesdeutschen „Stützen der Gesellschaft“ ebenso vorzugehen; auf diese würde im gleichen Fall kein Verdacht fallen.

Insofern ist es vollkommen konsequent, wenn Schäuble nun mit dem Vorschlag in den Vermittlungsausschuß ziehen will, daß alle Ausnahmen gestrichen werden: Es sind nämlich Geistliche (Religionsfreiheit), Abgeordnete, JournalistInnen und AnwältInnen (Berufsgeheimnisse) nach dem Text der Verfassung und der Strafprozeßordnung geschützt – und wenn sie der Macht nahe stehen ohnehin. Und auch Informationen, die in einem Strafprozeß nicht „verwertet“ werden dürfen, hat der Apparat schließlich – und kann sie leicht an befreundete Journalisten weitergeben, die in öffentlichen Kampagnen Wirkungen erzielen, die über die einer gerichtlichen Verurteilung weit hinausreichen. Die Macht kann sich völlig auf die „Einzelfallprüfung“ durch die drei Richter der Staatsschutzkammern verlassen.

Die Debatte um die „Ausnahmen“, ist vor allem für den eigentlich Zweck des Unternehmens völlig schädlich, denn Zeitungs- und KrimileserInnen muß es irritieren, wenn gerade die besonders verdächtigen Gruppen vom Lauschangriff ausgenommen werden. Es gehört schließlich zum Alltagswissen, daß „organisierte Kriminalität“ ja gerade durch die politischen Verbindungen funktioniert und in den klassischen „Mafia“-Ländern immer Abgeordnete und Minister (wir bleiben hier bei der männlichen Form, weil es doch fast ausschließlich Männer sind) in diese Strukturen eingespannt sind oder meistens sogar Chefs der kleineren Gangster bilden, die sich die Hände schmutzig machen. Die Beispiele sind Legion in Italien, Kolumbien, Rußland…. Gerade die herausgehobene Stellung der Abgeordneten, ihre Macht als Volksvertreter Gesetze zu verabschieden, und die historische Erfahrung mit Strukturen organisierter Kriminalität müßte, rein immanent diskutiert, dazu führen, hier den wichtigsten Ansatzpunkt für Lauschangriffe zu sehen.

Sogar die gemeinsamen Richtlinien der Justiz- und Innen-MinisterInnen und -SenatorInnen definiert die zu verfolgenden Delikte so:

„Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben (!) bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln und in Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere und unbestimmte Dauer arbeitsteilig

  1. unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen,
  2. unter Anwendung von Gewalt (!) oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder
  3. unter Einflußnahme auf Politik (!), Medien, öffentlicher Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken.“

Auch in den einschlägigen Bundestagsdebatten wird die Gefahr der organisierten Kriminalität so beschrieben, daß die entscheidene Gefahr nicht Einzeltaten sind, sondern daß „ein großes Kapital Einfluß zu nehmen versucht auf die Entscheidungsträger und Entscheidungsvorgänge in der Gesellschaft und in der Wirtschaft sowie auf Entscheidungen, die dann demokratisch nicht mehr kontrollierbar sind“ (Norbert Geis, CSU; der Mann ahnt gar nicht, wie treffend diese Beschreibung ist!) Weiter, phantastisch, Geis erklärt auch noch, warum dagegen die vorgeschlagenen Gesetze nichts ausrichten können: „Durch die gigantische Finanzmacht vergiftet die organisierte Kriminalität die öffentliche Verwaltung, die Justiz , die Politik und die Wirtschaft. Die Folge ist, daß die Unabhängigkeit der richterlichen Entscheidung, die Glaubwürdigkeit der Politik und die Zustimmung zu unserer Werteordnung gefährdet sind…“(214. Sitzung des Bundestages, 16.01.98, zit n. „Parlament“ Nr 6/7 vom 30.01.98). In diesen Ausführungen wird vollkommen deutlich, daß „organisierte Kriminalität“ eine Chiffre ist – für Kapitalismus. Die Gefühle der Unsicherheit, der Angst vor Verarmung, Gewalt und Erpressung, alle vollkommen berechtigt und nur zu verständlich, werden von ihrem eigentlichen Entstehungszusammenhang getrennt und auf Außenseiter-Gruppen gelenkt, um letztlich die verursachenden Strukturen noch zu verstärken. Zum Teil geschieht das in den Massenmedien in Formen, die an Orwells „Zehn Minuten Haß“-Sendungen in „1984“ erinnern.

II.

„Organisierte Kriminalität“ ist als Thema sicherlich keine reine Erfindung, aber doch ein Thema, das seit Jahren die notwendigen Ängste in der Bevölkerung schürt, um eine Politik der „inneren Sicherheit“ mit ihren Kontrollinteressen zu begründen. Die Debatte um organisierte Kriminalität ist zudem mit rassistischen Diskursen verknüpft. Gewalt und Kriminalität werden als „importiert“ behandelt: chinesische Triaden, die Russen-Mafia, rumänische und polnische Einbrecher-Banden, die vietnamesischen Zigaretten-Händler, kolumbianische Kokain-Connections, kurdische Schutzgeld-Erpresser, Schlepper-Banden und schwarze Dealer bevölkern die Schlagzeilen seit beinahe zehn Jahren. Besonders die Flüchtlinge sind einem General-Verdacht ausgesetzt, für den sich mit zunehmender Illegalisierung auch reichlich Beweise erzeugen lassen. Noch bei jedem Wahlkampf machen CDU und SPD die „Ausländerkriminalität“ oder „Asylanten“ zu einem „Law-and-order“-Thema, um Menschen mit billigen Erklärungen zu versorgen, warum sie sich hier bedroht und ausgebeutet fühlen (zu Schröders kalkulierten Ausfällen vgl. GWR 221). Damit niemand auf den Gedanken kommt, von deutschen Unternehmen bedroht und von deutschen PolitikerInnen zu Schutzgeld-Zahlungen (Steuern) erpreßt zu werden, wird das ebenso alte wie wirksame Schema mobilisiert, daß „Fremde“ und „Schwarze“ bedrohlich sind, nicht aber die „eigene“ Polizei, Justiz, Politik und Firma.

Damit wird die tatsächliche Existenz von Drogendealern, Menschenhändlern, Gewaltunternehmern aller Art weder geleugnet noch verharmlost. Ihre Gefährlichkeit hat aber mit gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Interessen zu tun, die gerade eine kapitalistisch-staatliche Organisation der Gesellschaft erzeugt. Und je stärker gesellschaftliche Gegenbewegungen stranguliert oder sogar durch organisierte Kriminalität bedroht werden, desto weniger läßt sich gegen legale wie illegale Bewegungen ausrichten, die mit aller Gewalt auf individuelle Bereicherung abzielen. Auch dies läßt sich immer wieder beobachten: Nach den sozialrevolutionären Gewerkschaften, die mit aller Repression zerschlagen werden, kommen die Mafia-Gewerkschaften, die unter anderm die Ware Arbeitskraft verdealen. Nach den ausgegrenzten, kriminalisierten oder kommerzialisierten gegenkulturellen Bewegungen der Hippies, der Schwarzen und Chicanos – kommt Heroin, Crack, die kriminelle Contrakultur, die mit der etablierten Gesellschaft viele Werte gerade teilt und sie nicht wie die emanzipatorischen Gegenkulturen verwirft.

III.

Schon die verbreitete sprachliche Wendung „Unrechtsstaat“ läßt erkennen, daß gerade Staaten – vorzüglich organisierte Kriminalität sein können. Kapitalistische Unternehmen finden organisierte Kriminalität wegen der hohen Profite attraktiv; manche Unternehmer, die in geschäftliche Probleme geraten, denken über Drogenhandel nach, wenn der Versicherungsbetrug schon gelaufen ist; oder sie suchen politische Unterstützung. Daß alle „typischen Delikte“ organisierter Kriminalität: Drogenhandel, Waffenhandel, Prostitution, Glücksspiel etc. von staatlichen Institutionen oder Möchtegern-Staaten regelmäßig betrieben, gefördert oder monopolisiert werden, wird sich in einer weiteren historischen Perspektive schwerlich bestreiten lassen.

Historisch und aktuell läßt sich jederzeit verfolgen, wie Staaten und Parteien sich in Mafia-Unternehmen verwandeln – oder umgekehrt in bestimmten Situationen „organisierte Kriminalität“ sich als Quasi-Staat oder Staat etabliert. Über Bulgarien etwa berichtet Angelika Schrobsdorff, „daß eine ganze Reihe von Funktionären direkt aus ihrer hohen Stellung im kommunistischen Apparat in die Mafia gewechselt sind“ (Taz-Interview, 4.2.98, S. 15). Autos werden nun bei der Mafia versichert: Streifen mit dem Emblem der Organisation kennzeichnen die Autos, für die die BesitzerInnen bezahlt haben; diese sind gegen Diebstahl geschützt. In Japan sind die Gangster über die „gelben Seiten“ (Warum fragen Sie nicht jemanden, der sich mit sowas auskennt?) erreichbar, regeln kleinere Streitigkeiten, treiben Schulden ein und stehen der konservativen Partei nahe.

Schon vor zehn Jahren hat der bekannte Historiker Charles Tilly einen in seinem Fach wenig „anschlußfähigen“ Aufsatz veröffentlicht, in dem er argumentiert, daß Krieg und Staat die bedeutendsten Beispiele für organisiertes Verbrechen darstellen (1). Danach sind die europäischen Staaten aus militärischen Unternehmungen und solchen Prozessen, wie man sie heute gerne als „organisierte Kriminalität“ beschreibt, entstanden, nicht auf der Grundlage etwa eines Gesellschaftsvertrags oder offener Märkte. Aus Krieg, Piraterie, bewaffneten Formen von Ausbeutung aller Art entwickelte sich die moderne Territiorialherrschaft. Schutz mußten die Bewaffneten den Unbewaffneten versprechen, um sich zu legitimieren und um ihre Macht zu stabilisieren. Tilly geht soweit zu sagen, daß die gleichen Handlungen „organisiertes Verbrechen“ genannt werden, wenn sie in ihren Ausmaßen beschränkter und weniger erfolgreich bleiben. Erfolgreiche Konzentration und Monopolisierung von Gewalt bedeutet schließlich glaubwürdige und unwiderstehliche Staatsgewalt.

Hinter den Piraten des 16. Jahrhunderts standen Städte, die sie schützten und ausrüsteten, hinter Räuberbanden Adelige. In Kriegszeiten wurden Banditen angeworben; reguläre Truppen plünderten, und der Krieg finanzierte den Krieg. Entlassene Söldner setzten ihr Handeln fort, nun wieder als Räuber oder Freibeuter. Erst mit den stehenden Heeren, die eine entsprechende Finanzierung voraussetzten, wurde legitime von illegitimer Gewalt deutlicher geschieden. Im Frankreich im 17. Jahrhundert wurde zunächst das königliche Gewaltmonopol effektiv. Bald bildeten sich symbiotische Beziehungen zu Bankiers heraus, die die Unternehmungen des Königs finanzierten. Bis ins 16. Jahrhundert durften in England Steuern nur im Kriegsfall erhoben werden, aber auch später wurden Steuern vor allem in Kriegszeiten erhöht – und danach nicht unbedingt gesenkt. Durch die zunehmenden Kosten der Kriegführung stiegen seit dem 17. Jahrhundert Staatsschulden und Steuern in allen Ländern. Tilly unterscheidet vier typische Staatstätigkeiten:

  1. Kriegsführung: die Beseitigung oder Neutralisierung von Rivalen außerhalb des kontrollierten Territoriums
  2. Staatsführung: die Beseitigung oder Neutralisierung von Rivalen innerhalb des kontrollierten Territoriums
  3. Schutz: Beseitigung oder Neutralisierung der Feinde der Klienten des Staates
  4. Bereicherung: die Beschaffung der Mittel, um die ersten drei Zwecke möglich zu machen.

Natürlich überschneiden sich diese Staatsaufgaben vielfach, etwa wenn die geschäftlichen Rivalen der „eigenen“ Bourgeoisie in einem Nachbarland durch Krieg geschwächt werden: auch dies schützt die Bourgeoisie. Und natürlich ist der Schutzaspekt eine einseitige Bevorzugung bestimmter Klassen der Staatsgesellschaft. So verschiedenartig die konkreten historischen Formen auch sein mögen, verstärken sich die vier Aspekte gegenseitig, soweit sie effektiv durchgesetzt werden. Alle diese Staatstätigkeiten führen zur Ausbildung stabiler Organisationsformen, Strukturen, die die Ziele ermöglichen und kontrollieren und sich ebenfalls gegenseitig verstärken. Idealtypisch beschreibt Tilly den Prozeß so, daß ein das Territorium durch Krieg kontrollierender Herr (ein war lord also) die Mittel der Kriegführung aus diesem eroberten Land herauszieht und dabei seine Fähigkeiten, sich zu bereichern, steigert. Dabei schwächt, unterwirft oder beseitigt er seine lokalen Rivalen und baut so den Staat auf. Als Nebenfolgen entstehen Organisationen, um Steuern einzutreiben, Polizei, Gerichtshöfe, ein Staatshaushalt, der vom Privatvermögen des Herrn getrennt ist sowie andere ausdifferenzierte staatliche Institutionen. Die Kriegsführung erfordert wiederum staatliche Organisationsformen: das stehende Heer, Kriegsindustrien, eine Bürokratie, die Wehrpflichtige einzieht und später Schulen. Das kann nicht ohne Allianzen mit sozialen Trägern solcher Institutionen geschehen. Diese stellen die notwendigen Ressourcen und die politische Unterstützung im Tausch gegen Schutz vor Rivalen und Feinden. Diese vielen Kämpfe und verschiedenen Kräfteverhältnisse bestimmen die konkrete Gestalt und wechselnde Aggressivität der europäischen Staaten. Wenn Widerstände in den Bevölkerungen stark waren, mußten Zugeständnisse gemacht werden, die demokratische Rechte und Kontrollinstanzen institutionalisierten. Diese Institutionen und Gewohnheitsrechte beeinflußten natürlich wieder alle weiteren Staatsaktivitäten, ebenso wie Bündnisse mit Fraktionen der herrschenden Klassen.

Vor dem zwanzigsten Jahrhundert wurden Staaten, die sich nicht im Krieg „bewährten“ aus einer entscheidenden Machtrolle verdrängt oder verschwanden ganz. Im 20. Jahrhundert gibt es Bündnissysteme, die militärische Macht auch kleineren Staaten leihen oder verkaufen. Die Verbreitung des europäischen Staatenmodells auf der ganzen Welt seit den Dekolonialisierungs-Prozessen hat dazu geführt, daß die ganze Welt aus unabhängigen Staaten besteht, aber nicht aus solchen Staaten, wie sie aus den jahrhundertelangen Kämpfen in Europa schließlich hervorgegangen sind. Hier gibt es eine relative zivile Kontrolle der militärischen Gewalt und parlamentarische Kontrollen; die Regierungen sind in ihrer Macht beschränkt durch zivile Gegenmächte und Legitimationsprobleme, die letztlich auf den Gebrauch gesellschaftlicher Ressourcen für militärische Macht, die Erfahrungen damit und Auseinandersetzungen darüber zurückgeht. Die Staaten, die aus Entkolonialisierungsprozessen entstanden sind, beziehen ihre militärische Macht oft von anderen Staaten, die Stützpunkte unterhalten, Berater schicken, Bündnispartner sind und militärische Ausrüstungen stellen. Innerstaatliche Gegensätze und Beschränkungen spielen häufig eine geringe Rolle für die Bewaffnung der Staaten. Die Grenzen werden von anderen militärischen Mächten garantiert; die Armee als Machtfaktor im Innern einzusetzen und die überlegene Macht der militärischen über jede andere gesellschaftliche Macht auszunutzen, erscheint verführerisch. Die europäischen Staaten haben nach Tilly, obwohl der Krieg so eine große Rolle im Entstehungsprozeß dieser Staaten spielte, niemals solche Ungleichgewichte zwischen militärischen und allen anderen Organisationen gekannt wie die abhängigen Staaten heute überall auf der Welt. Und so findet er die Analogie zwischen Kriegsführung und Staat einerseits und organisierter Kriminalität andererseits dort wiederum eng.

IV.

Die monopolisierte Gewalt schafft gesellschaftliche Räume und Institutionen, die es für viele Bürger statistisch unwahrscheinlich werden läßt, Opfer direkter physischer Angriffe zu werden. Aber die Gewaltbilanz der Staatengeschichte, der modernen Herrschaft ist insgesamt besonders erschreckend, denn die Effektivität des Verfolgungs- und Gewaltpotentials ist weitreichender und schlagkräftiger als in jeder anderen Gesellschaft. Durch die organisierte Verantwortungslosigkeit, die der Gewöhnung an Befehle und Anweisungen entspringt, durch die bürokratische Maschinerie und die Erfolgs- und Interessenlogik kapitalistischer Ökonomie wurden alle alten Grenzen auch der Gewalt niedergerissen und die Vernichtung zahlreicher Menschen nicht nur abstrakt möglich gemacht, sondern in den zentralistischen Diktaturen und in Kriegen tatsächlich organisiert.

Die Geschichte des Staates, so eng mit Krieg nach innen und außen verknüpft, kann ohne Feinderklärungen und Krieg kaum vorgestellt werden. Die Kampagnen um die „innere Sicherheit“ erfüllen deshalb allgemein wie im Streit der Parteien wichtige legitimierende Funktionen. Es entspricht dem Zustand passiver und ratloser Bevölkerungen, nur noch zwischen „starken Männern“ auswählen zu wollen und gerne die Kampagnen in den Massenmedien zu verfolgen, die von erschreckenden und z.T. entstellten „Fällen“ kurzschlüssig Forderungen nach „hartem Durchgreifen“ erheben. Die Irrationalisierung gesellschaftlicher Probleme zeigt sich schon darin, daß jede Frage nach Ursachen schon in Verdacht steht, das Problem leugnen oder vertuschen zu wollen. Die von der offiziellen Politik angebotenen „Lösungen“ müssen sich hingegen jährlich erneuern, weil ganz offensichtlich der erwartete Erfolg nicht eintritt – oder die Konzeption des präventiven Sicherheitsstaates eben noch lange nicht durchgesetzt ist. Neuerdings entstehen gar „Bürgerinitiativen“, die Strafverschärfungen und Härte von Polizei und Justiz verlangen oder selbst womöglich praktizieren wollen. Die „organisierte Kriminalität“ ist nur eine Facette des allgemeinen Sicherheitsdiskurses. Dieser speist sich jedoch z.T. daraus, daß die kapitalistisch-staatlichen Gesellschaften tatsächlich erschreckende Formen des moralischen Verfalls und der Brutalisierung zeigen. Interessenverfolgung mit allen Mitteln. Und das hat mit ihren Imperativen viel zu tun. Und die TäterInnen erfreuen sich durchaus oft staatlicher und gesellschaftlicher Protektion (das ist keineswegs neu: Was für den belgischen Kinderschänder gilt, war auch schon im Fall des Massenmörders Haarmann zu beobachten). Aber was hat die Mafia wirklich bekämpft? Mutige Einzelne (vgl. den Artikel über Danilo Dolci in GWR 226), Öffentlichkeit und Entzug der Unterstützung, kurz: gesellschaftliche Gegenbewegungen. Deshalb sollten wir, die antiautoritären SozialistInnen, eine andere öffentliche Diskussion über Unsicherheiten und Ängste in der Bevölkerung (was ist daran berechtigt, was beruht auf einseitigen Informationen, falschen Statistiken und Stimmungsmache der Medien) und die staatliche Politik des Abdrängens von Armen und aus den staatlichen Sozialleistungen ausgegrenzten Menschen in den Knast beginnen.

(1) Charles Tilly: War Making and State Making as Organized Crime, in: Bringing the state back in. Ed by Peter B. Evans ... Cambridge 1987, S. 167-191. Einige der Sätze in der folgenden Zusammenfassung sind fast wörtliche Übersetzungen aus dem Text (eine Übersetzung ist mir nicht bekannt).