ökologie

Wider den verkehrten Verkehr

Die Aktionen von Reclaim the Streets - nicht nur - in Großbritannien

| Charlie Blackfield

Viele glauben noch immer, das Linksfahren sei das schlimmste am Verkehr in Großbritannien. In Wahrheit ist das noch am leichtesten zu meistern. Ansonsten ist Großbritannien ein Paradebeispiel für eine Gesellschaft , in der der Autowahn unaufhaltsam weiterblüht, weit mehr noch als hier zulande. Erst in den letzten Jahren formierte sich dagegen Widerstand - und der wird mittlerweile immer vielfältiger. (Red.)

Jedes Jahr im August das gleiche Ritual: die neuen Nummernschilder kommen heraus. In Großbritannien ist es Regel, daß jedes Auto sein Nummernschild ein Autoleben lang behält, und dieses verrät auch das Baujahr: Ein P am Anfang der Nummer steht für 1996/97, Q wurde ausgelassen, R ist das aktuelle für 1997/98. Das „Nummernschildjahr“ wechselt immer im August, und dann geht der große Run auf die Neuwagen los. Seit einigen Jahren verzeichnen britische AutoverkäuferInnen zweistellige Steigerungsraten. Wen wundert’s, da doch nahezu jeder zweite Werbespot im Fernsehen für Autos wirbt, und solche Dinge wie Straßenbahnen, Radwege, verkehrsberuhigte Bereiche oder auch nur Parkgebühren selbst in den größten Städten noch immer eine Seltenheit sind. Das widersinnige und durch vielerlei Erfahrungen längst widerlegte Konzept „Verkehrsberuhigung durch Umgehungsstraßen“ wird kaum hinterfragt auf dieser Insel, auf der sich noch als Öko-RevolutionärIn fühlen kann, wer mit einer Baumwolltasche Einkaufen geht. In Großbritannien vereint sich die Verkehrsdichte der ausgehenden 90er Jahre mit dem Umweltbewußtsein der ausgehenden 70er.

Allgegenwärtige Autodominanz

Das Auto spielt jenseits des Ärmelkanals eine noch weitaus dominantere Rolle als in Deutschland. Das geringere Umweltbewußtsein alleine ist dafür keine Erklärung, denn so großartig entwickelt ist dies hierzulande auch nicht. Trotz einer im Weltvergleich sehr starken Öko-Bewegung ist das Auto noch immer der Deutschen liebstes Kind. – Was in Großbritannien hinzukommt, ist die Mißwirtschaft von 20 Jahren Tory-Regierung (wobei Zweifel angebracht sind, ob New Labour das jemals rückgängig machen wird), insbesondere im Zusammenhang mit der Privatisierung der öffentlichen Verkehrsgesellschaften. In vielen größeren Städten konkurrieren heute mehrere private Unternehmen im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs, die Kooperationsbereitschaft ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. In manchen Städten funktioniert die Zusammenarbeit, anderswo kann es vorkommen, daß die Busgesellschaft, deren Busse die Haltestellen anfahren, keine Fahrpläne aushängt, weil die Pfosten der Haltestellen einer anderen Gesellschaft gehören, die das Aushängen von Fahrplänen nicht gestattet. Nein, das war jetzt kein Scherz, es ist bittere Realität – oder vielleicht auch ein Beispiel englischen Humors, ich sollte mich da bei den betreffenden Gesellschaften einmal näher erkundigen.

Im Fernverkehr führte die Privatisierung erstens zu teils immensen Preissteigerungen (britische Zugreisen gehören weltweit zu den teuersten) und zum anderen zu einem absoluten Chaos, sobald es ans Umsteigen geht. Es ist schon schwierig genug, Auskünfte über die Fahrzeiten von Zügen einer anderen Gesellschaft zu bekommen, und wenn der Zug der Gesellschaft A auch nur fünf Minuten Verspätung hat, kümmert das den Zug der Gesellschaft B recht wenig, er wird nicht warten, sondern fahrplanmäßig abfahren, denn was gehen die Gesellschaft B schon die Verspätungen der Gesellschaft A an? – Zugreisende sind dabei die Leidtragenden.

Die Autolobby hat in Großbritannien eine mächtige Fürsprecherin: die British Roads Federation (BRF). (1) In ihr hat sich alles zusammengeschlossen, was vom Autowahn profitiert. Neben den großen Automobilclubs AA und RAC und den Ölgesellschaften BP, Mobil, Shell und Total gehören der BRF zahlreiche Unternehmen des Straßen- und Autobaus an, sowie die dazugehörigen Gewerkschaften. In der Führungsriege der BRF sitzen ehemals führende Mitglieder der beiden großen Parteien, und so findet die Föderation bei Tories wie bei Labour stets Gehör für ihre umweltzerstörerischen Anliegen.

Neben der BRF gibt es noch zwei kleinere Verbände, die Freight Transport Association (FTA), die auch Mitglied der BRF ist, und die Road Haulage Association. Die FTA engagierte sich vor einigen Jahren erfolgreich für die Erhöhung des zulässigen Lkw-Höchstgewichtes von 40 auf 44 Tonnen, während zur gleichen Zeit die BRF für die Verstärkung von Autobrücken eintrat.

Ob in einem kleinen Dorf oder in London – die Dominanz des Autos als Verkehrsmittel Nummer Eins ist längst allgegenwärtig. Zu Fuß geht nur, wer sich kein Auto leisten kann, ähnliches gilt für die öffentlichen Verkehrsmittel. Das Fahrrad ist lediglich in den klassischen Universitätsstädten eine häufige Erscheinung.

Vom konventionellen zum bunten Widerstand

Der Widerstand gegen den Autowahn war lange Zeit nichts weiter als einer unter vielen Aktionsbereichen der großen Umweltverbände wie Greenpeace und Friends of the Earth. Wenn es um Straßenneubauten ging, insbesondere neue Autobahnen, führte dies manches Mal zur Entstehung von BürgerInneninitiativen vor Ort, wie wir sie auch bei uns kennen („Autobahn ja – aber bitte nicht hier!“). Es wurden Unterschriften gesammelt, Gutachten erstellt, Briefe an Abgeordnete geschrieben, juristische Hebel in Bewegung gesetzt und so weiter. Auf diese Weise versuchte die Twyford Down Association bei Winchester rund zwanzig Jahre lang, den Ausbau der Autobahn M 3 zu verhindern – vergebens, wie sich herausstellte: „Sie hatten eine konventionelle Schlacht geführt, auf dem Gerichtsweg und durch öffentliche Anhörungen, in dem Glauben, daß sie mit den richtigen Argumenten auf ihrer Seite gewinnen würden. David (Croker, von der Twyford Down Association, d.Verf.) gab zu, daß sie nicht mit den zahllosen schmutzigen Tricks gerechnet hatten, mit denen die Behörden die Straße durchboxen würden. Er riet Gruppen in einer ähnlichen Situation, unkonventionelle Aktionsmethoden anzuwenden.“ (2)

Derartige Erfahrungen führten zu einem Umdenken bei vielen StraßenbaugegnerInnen. „Alarm UK“, die „National Alliance against Road Building“ (Nationale Allianz gegen Straßenbau) schwamm anfangs im Strom des konventionellen Protests mit. 1993, wenige Jahre nach ihrer Gründung, beschloß sie jedoch, direkte Aktionen zu fördern, wenngleich zu bedenken gegeben wurde, daß die Aktionsformen ortsansässige „NormalbürgerInnen“ nicht vor den Kopf stoßen sollten. (3)

Die von David Croker geforderten „unkonventionellen Aktionen“ waren seinerzeit für einige andere Gruppen nichts Neues mehr. Earth First!, Road Alert! und Reclaim the Streets! machten mit direkten Aktionen (nicht nur) gegen den Autowahn auf sich aufmerksam. Ende 1992 von Alarm UK noch als ExotInnen betrachtet (4), gestand das Netzwerk schon Wochen später ein, daß von den radikaleren Gruppen einiges zu lernen war. Sogar die großen Umweltverbände blieben nicht unbeeindruckt: Im Juli 1995 trafen sich VertreterInnen von Earth First!, Road Alert!, Reclaim the Streets! und Greenpeace sowie nahezu die gesamte Führungsriege von Friends of the Earth in der FoE-Zentrale in London, um die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auszuloten. Hauptkritik der Graswurzelgruppen gegenüber den „Großen“ war und ist deren Tendenz, Kampagnen stets ihren „Markennamen“ aufzudrücken, und natürlich die hierarchischen Entscheidungsstrukturen. Bei dem Treffen wurde vereinbart, auf „Markennamen“ zugunsten einer engeren Zusammenarbeit künftig zu verzichten. Friends of the Earth zeigte sich außerdem bereit, direkte Aktionen der Graswurzelgruppen finanziell zu unterstützen. (5)

Allerdings scheinen direkte Aktionen für FoE lediglich die ultima ratio zu sein. Die Organisation vertraut nach wie vor auf konventionelle Methoden oder wenigstens darauf, es mit diesen zuerst zu versuchen. Bei Greenpeace ist die Sache etwas komplexer, eine Kritik dieses Verbandes würde locker einen eigenen Artikel ergeben. An direkten Aktionen von Greenpeace mangelt es nicht, doch die Kooperationsbereitschaft mit Graswurzelgruppen ist dort um einiges geringer ausgeprägt als bei FoE, da auch die Struktur des Verbandes meilenweit von ihnen entfernt ist. (6)

Reclaim the Streets!

Für „Reclaim the Streets!“ gibt es leider keine eingängige deutsche Übersetzung. „Beansprucht die Straßen zurück!“, die wörtlichste Übertragung des englischen Originals, dürfte als Slogan einer Bewegung nicht sonderlich geeignet sein. – Die Idee, die dahinter steckt, ist sehr simpel: Straßen sollten wieder so werden, wie sie einst waren, als Karl Benz, der Erfinder des ersten Autos, sich dagegen wehrte, seine Produkte schneller als 30 km/h fahren zu lassen. (7) Damals wurden die Straßen von zahlreichen Menschen bevölkert, die wir heutzutage „FußgängerInnen“ nennen und auf schmale Gehwege und in spezielle autofreie Zonen evakuieren. Es waren Menschen, die sich direkt begegnen konnten, nicht getrennt durch Glasscheiben an einer Blechkiste. Und der Begriff „StraßenkünstlerIn“ erinnert uns noch vage daran, daß auch diese Gruppe von Menschen einst nicht in die erwähnten Zonen verbannt war; daher die Vorsilbe “ Re“ bei Reclaim the Streets!

Ebenso simpel wie die Idee ist die Aktion: Wir besetzen eine Straße, machen dort ein Picknick, feiern, tanzen, und vieles mehr. In vielen Fällen wurden Aktionen von Reclaim the Streets! zu großen Rave-Parties, mit phantasievollem Outfit, vielen StraßenkünstlerInnen, und nicht selten begleitet von zeitgleichen Fahrraddemos. Gerade 1997 war für Reclaim the Streets! ein bedeutendes Jahr. Die Aktionen, in Großbritannien begonnen, schwappten über auf den europäischen Kontinent.

Die Friedlichkeit von Aktionen hält die lokale Presse freilich nirgendwo davon ab, über die AktivistInnen herzuziehen: „Das lokale Nonsensblatt von Sheffield beschrieb die Straßenparty als ‚eine aggressive feindselige Gruppe, der es erlaubt ist, Leute festzuhalten‘ und entschied sich dafür, sich auf eine alte Dame zu konzentrieren, die ihren Bus nach Hause verpaßt hatte.“ (8) Und das, wo dieselben RaverInnen einen in die Party hineingeratenen Jaguar-Fahrer passieren ließen, ohne dessen Gefährt auch nur anzufassen! (9)

Reclaim the Streets! ist ein klassisches Beispiel für die Macht von unten. Alles, was es braucht, ist die Aufkündigung des Gehorsams gegenüber dem Autowahnwitz. Das Konzept ist lächerlich einfach, die Aktionen machen viel Spaß, und daher ist es kaum verwunderlich, daß Reclaim the Streets! immer weitere Kreise zieht.

Die Bewegung lebt von dem aktiven Engagement aller, die sich einbringen wollen, und das Maß an Institutionalisierung beschränkt sich auf das Minimum, das für die Organisation der Aktionen unabdingbar ist. Die Bewegung ist für alle Menschen offen und erfordert weder ein Bekenntnis zu einer bestimmten Ideologie noch ein tiefgehendes anarchistisches Bewußtsein. Die Aktionen sind jedoch eindeutig anarchistischer Natur. Statt vergeblichen Überredungsversuchen gegenüber politischen RepräsentantInnen nehmen die AktivistInnen das Heft selbst in die Hand, verwirklichen eine positive Vision hier und heute und entwickeln dadurch Macht, ohne daß diese in Herrschaft ausarten würde. Die Macht, die hier entsteht, ist nicht Macht über andere, sondern Macht, etwas zu tun, durch das Sand ins Getriebe der menschenfeindlichen Autogesellschaft gestreut wird. (10) Es ist auch die Zurechtrückung von Prioritäten: erst die Menschen, dann die Autos. Schließlich wurden Autos einst erfunden, um den Menschen zu dienen – und nicht umgekehrt.

Das einfache Konzept und der Spaß sind sowohl Stärke als auch Schwäche der Bewegung. Bei der Love Parade in Berlin im Sommer 1997 war deutlich erkennbar, was passiert, wenn von Reclaim the Streets! nur noch die Rave-Party übrigbleiben sollte: ein überdimensionales Medienspektakel, die politische Botschaft zu einem platten „Wir lieben uns alle“ reduziert , und das Umweltbewußtsein der meisten TeilnehmerInnen ließ sich am Zustand der Tiergartenwiese deutlich ablesen. Doch es muß nicht zwangsläufig so kommen. Wenn es gelingt, die Zielsetzung klar vor Augen zu behalten, wird Reclaim the Streets! von einem solchen Schicksal verschont bleiben.

Zurück in deutsche Lande

Warum dieser ausführliche Blick nach Großbritannien? – Es läßt sich aus den Erfahrungen auf der Insel zweierlei lernen: zum einen das abschreckende Beispiel einer noch autozentrierteren Gesellschaft, als wir sie hierzulande schon haben; zum anderen die positive Vision einer Bewegung, die sich nicht mit dem bei vielen UmweltschützerInnen häufigen Reservatsdenken á la FußgängerInnenzone zufriedengibt, sondern radikalere Veränderungen anstrebt und sogar bereits verwirklicht – und dies auf friedliche und uranarchistische Weise.

(1) Die folgende Darstellung nach: Corporate Watch, No.3/Februar 1997, S. 18

(2) Bericht über die Konferenz von Alarm UK im Januar 1993 in Birmingham, zit. in: Alarm Bells, vermutlich Nr.6/Frühjahr 1993 (Titelblatt fehlt), S.4; Übers. cb

(3) Ebd.

(4) Vgl. eine kurze Darstellung in Alarm Bells, No.5/Dezember 1992, S.3

(5) Earth First! Action Update, August 95, S.2

(6) In der Darstellung über das Treffen, vgl. Anm.5, liest sich der Optimismus von Earth First! gegenüber Greenpeace wesentlich verhaltener als gegenüber FoE.

(7) Ein Relikt aus dem Wissensschatz des Autors, als dieser sich noch vorwiegend mit der Lektüre von Autoliteratur beschäftigte. Karl Benz, der 1886 das erste Auto baute, hat in der Tat um die Jahrhundertwende heftigst gegen den "Geschwindigkeitswahn" im Automobilbau protestiert, bis er aus seiner eigenen Firma geworfen wurde. Literaturangaben auf Anfrage.

(8) Earth First! Action Update, No.40/Juni 1997, S.2; Übers. cb

(9) Ebd.

(10) Zum Thema Macht im gewaltfreien Widerstand siehe u.a. PeaceNews, No. 2422/Februar 1998, S.10f.