„Es gibt einen Wettlauf der Schäbigkeit in Europa, und Deutschland hält in diesem Wettlauf den Spitzenplatz. Jüngster Beleg ist die Bundesratsdrucksache 691/1/97, ein Gesetzentwurf, den der Bundesrat vor einer Woche (Anm.d.V.: am 6.2.98) verabschiedet hat. Man soll mit dem Wort „Ungeheuerlichkeit“ zurückhaltend umgehen – aber ein anderes Wort paßt zu diesem Gesetzesvorhaben nicht, das von CDU/CSU und von SPD-regierten Ländern gleichermaßen getragen wird: Danach soll den geduldeten Flüchtlingen in Deutschland künftig keinerlei Leistung mehr gewährt werden. Sie sollen weder Geld- noch Sachmittel erhalten. Man will sie so zur freiwilligen Ausreise zwingen. Man kann diese Methode auch Aushungern nennen. Beschwichtigend reden die Innenminister von „Illegalen“, gegen die sich diese Maßnahme richtet; doch das ist falsch. Es geht um Menschen, die zwar irgendwann ausreisen müssen, die aber wegen der Gefahren in ihrer Heimat einen Aufenthaltstitel, eine „Duldung“ haben. Es geht also um Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien oder Algerien, um ehemalige Vertragsarbeiter der DDR aus Vietnam, um Frauen aus Afghanistan, es geht um insgesamt 250 000 Menschen. Zwangsweise abschieben kann man in diesen Fällen nicht, also zwingt man zur „freiwilligen“ Ausreise. Diese Menschen – überwiegend Familien mit Kindern – sollen künftig keinen Pfennig Geld mehr für Lebensunterhalt und keine medizinische Versorgung mehr erhalten.
Schon bisher, nach den derzeit geltenden Vorschriften, erhalten sie weniger Mittel, als es dem Sozialhilfegesetz und dem Existenzminimum entspräche. Das Minimum für Flüchtlinge war also schon bisher minimaler als das für andere Menschen. Kinder sollen Flüchtlinge ohnehin nicht bekommen. Eine Baby-Erstausstattung zum Beispiel erhalten schon bisher nur deutsche Sozialhilfe-Empfängerinnen, nicht aber Flüchtlingsfrauen. Der katholische Caritas-Verband hat dagegen heftigst protestiert. Doch Politik hört nicht auf die Caritas.
Im Gegenteil: Künftig wird es noch viel schärfer. Künftig erhalten die Flüchtlinge nur noch ein Zehrgeld für die Rückreise zur Verfügung gestellt – Butterbrot und Fahrkarte also. „Mehr an Hilfe gibt es nur, wenn es „unerläßlich“ ist und auch nur soviel, wie unerläßlich ist. Das heißt: Notfalls gibt es Wassersuppe und Übernachtung in der Turnhalle. Das Vorhaben nennt sich „2. Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes“. Man sollte es finales Leistungsverweigerungsgesetz nennen.“
(Heribert Prant, Süddeutsche Zeitung, am 14.02.1998 im NDR4)
Betroffen von der „finalen Leistungsverweigerung“ durch den Bundesratsbeschluß vom 6.2.98 sind vor allem die Flüchtlinge, die die Behörden gerne deportieren würden, aber aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht deportieren können. Das sind z.B. Flüchtlinge mit Duldung oder sog. Grenzübertrittsbescheinigung, und Flüchtlinge ohne Papiere.
Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Fritz Rudolf Körper, erfindet dafür eigens eine neue kriminelle Kathegorie: “ … ausreisepflichtige Ausländer … die sich dem Ausländerrecht zuwider im Bundesgebiet aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufhalten.“ (Körper; Schreiben GE/Boe v. 10.2.98)
Tatsächlich handelt es sich durchweg um Menschen, für die die Ausländerbehörden keinerlei Rechtsgrundlage zur Deportation finden können.
Zwei Beispiele:
Der entgeisterte Einwand des UNHCR, daß der Gesetzentwurf auch Flüchtlinge mit Duldung nach §§ 53 und 54 AuslG beträfe, die wegen konkreter Foltergefahr nicht abgeschoben werden dürften, wurde im Bundesrat kackfrech mit dem Hinweis abgetan, daß die Modalitäten eines Abschiebestopps von der Leistungsstreichung nicht betroffen seien. (Protokoll der 721. Sitzung)
Matthias Lange (PRO ASYL) hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das Zerreißen etwa eines nigerianischen Passes nur in Nigeria eine Straftat darstellt. Thilo Weichert, niedersächsischer Datenschützer, hat das niedersächsische Innenministerium anläßlich des Kirchenasyls für Nigerianer in Hannover nachdrücklich ermahnt, daß es keinerlei Rechtsgrundlage für Beugehaft oder ähnliche Sanktionen bei Verweigerung der Kooperation mit der eigenen Botschaft gibt. (Man stelle sich im übrigen einen geflüchteten Antifaschisten vor, der gezwungen worden wäre, mit der Nazi-Botschaft zwecks Rückführung zu kooperieren…) Das Niedersächsische Innenministerium zog daraufhin in rechtschöpferischer Weise dreist das Allgemeine Gefahrenabwehr-Gesetz als Joker.
Der Bundesrats-Gesetzentwurf wurde praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit, unter Umgehung der Kabinette (in Niedersachsen z.B. wurde weder das Sozial- noch das Frauen-Ministerium, geschweige denn die Ausländerbeauftragte beteiligt) und der Fraktionen von den Ministerialbürokratien des Inneren in einer „sehr angenehmen, sehr sachlichen Atmosphäre“ (Senatorin Hübner, Berlin) gepuscht. Tatsächlich jedoch konnte kein Beteiligter hinterher öffentlich oder in Gremien (z.B. Ausländerkommission des Nds. Landtags am 10.02.98) erklären, was dort tatsächlich unterschrieben worden war.
Der Gesetzentwurf stieß nach Veröffentlichung auf den einmütigen Widerspruch von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften, Kommunen, Ausländerbeauftragten und migrationspolitischen Organisationen. Kern der Kritik war die Einbeziehung bestimmter Gruppen, insbesondere der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und die Belastung der Kommunen durch den bürokratischen Aufwand.
Wenige Proteste richteten sich gegen den Mißbrauch des Sozialrechts als Vollzugsrecht (so etwa die AWO am 3.2.98).
Keiner der Proteste erfaßte die faktische Einführung der Zwangsarbeit für Flüchtlinge.
Staatssekretär Gustav Wabro (Baden-Württemberg): „Wir wollen den Leistungsanspruch ausschließen für alle, die sich weigern, gemeinnützige Arbeit zu verrichten.“ und „Für eine Privilegierung von Asylbewerbern gibt es keinen vernünftigen Grund.“ (Protokoll der 721. Sitzung des Bundesrats)
„Gemeinnützige Arbeit“ für deutsche Arbeitslose ist im Einzelfall dann möglich, wenn sie die jeweils vorgeschriebenen „Bemühungen um Arbeit“ nicht nachweisen. Leistungseinschränkung durch die Sozialbehörden ist gegenüber deutschen Arbeitslosen dann möglich, wenn diese schließlich die „gemeinnützige Arbeit“ verweigern.
Die demagogisch propagierte „Privilegierung“ der Flüchtlinge besteht darin, daß sie einem Arbeitsverbot unterliegen.
Da somit jeder sozialrechtlichen Sanktion wegen „Arbeitsverweigerung“ die faktische Grundlage entzogen ist, deklariert die Androhung des Leistungsentzugs und der Lagereinweisung bei Verweigerung der „gemeinnützigen Arbeit“ diese zur Pflichtarbeit, die sich in dieser Form nicht einmal in den Knästen findet.
Das einzige Vorbild dafür findet sich bei den Nazis: wer den Auflagen zur „Fürsorgepflichtarbeit“ im Arbeitslager nicht nachkam wurde aus dem Unterstützungsbezug gestrichen. In Hamburg etwa wurde 1937 auf diese Weise die Zahl der Sozialhilfeempfänger auf ein Viertel reduziert.
Diese Methode will der Bundesrat zunächst auf Flüchtlinge anwenden. In einigen deutschen Kommunen wird die Pflichtarbeit aber durchaus auch heute schon als Waffe gegen Nichtseßhafte eingesetzt.
Außer dem nds. Flüchtlingsrat erfaßte keiner der offiziellen Proteste den Kern der Gesetzesinitiative, nämlich die Vorbereitung eines Internierungsgesetzes für die betroffene Bevölkerungsgruppe, obwohl doch offenkundig sein mußte, daß ein Leistungsentzug bis aufs nackte Überleben nur unter bewaffnet gesicherten Lagerbedingungen durchzusetzen ist.
Das Bundesgesundheitsministerium nahm am 17.2.98 mit einem Referentenentwurf dem Protest der Verbände die Spitze, indem die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien bis 1999 aus dem Gesetz herausgenommen werden, und indem die Kommunen durch die Unterbringung der Betroffenen in Lagern entlastet werden.
Der Referentenentwurf sieht für die Betroffenen ausschließlich Unterkunft und Verpflegung in Gemeinschaftsunterkünften vor, kein Taschengeld, kein Tabak, kein Telefon; medizinische Behandlung soll nur gewährt werden, „soweit dies im Einzelfall unabweisbar geboten ist“.
Mit dieser unverwechselbaren Beschreibung eines Internierungslagers ändert der wildwüchsige „Wettlauf der Schäbigkeiten“ seine Qualität: er entpuppt sich als Übernahme eines zentralen sozialpolitischen Elements der Nazis zur Befestigung der „Volksgemeinschaft“ und zur Ausgrenzung sog. Gemeinschaftsfremder.
Die Nazis übernahmen zum gleichen Zweck den Begriff der „geschlossenen Fürsorge“ aus § 13 der Reichsgrundsätze zur Reichsfürsorgeverordnung der Weimarer Republik und beschränkten für „asoziale und politisch widersetzliche“ Unterstützungsempfänger die Fürsorgeleistungen auf „Anstaltspflege“. Dazu wurden scharf bewachte Arbeitslager eingerichtet mit kasernenähnlichem Reglement, Massenschlafsälen, entweder Mindestkalorienverpflegung oder Zwangsarbeit gegen Taschengeld, strikte Trennung der Geschlechter, restriktive Besuchsregelung, Brief- und Postzensur, amtsärztliche Zwangsuntersuchung. Als Sanktionsmittel gab es in diesen Lagern Haftstrafe in besonderen Zellen, ohne Bettzeug bei Wasser und Brot. (Hinweise und weitere Literatur in Wolfgang Ayaß: „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart, 1995).
Die Geschichte des Asylbewerberleistungsgesetz seit 1993 zeigt, daß die von Staats wegen verordnete Armut und Entrechtung bei Flüchtlingen einen Modellversuchs-Charakter hat. Dieser staatliche Versuch führt vor, übt ein und gewöhnt daran, wie leicht Menschen aus unserem Sozialsystem herausdefiniert und ausgegrenzt werden können.
Es braucht heute längst keine Neofaschisten mehr, um Flüchtlinge zu terrorisieren; deren Forderungen sind längst zu Recht und Gesetz geworden.
Mit dem „finalen Leistungsentzug“ propagieren die Innenministerien nunmehr direkt und unverblümt faschistische Sozialpolitik.