bücher

Leben zwischen Wahnsinn und Widerstand

Algerische Frauen wehren sich gegen islamistischen Terror und staatliche Repression

| Martina Pawlowski

Bettina Rühl (Hrsg.): Wir haben nur die Wahl zwischen Wahnsinn oder Widerstand. Frauen in Algerien, Horlemann Verlag, Bad Honnef 1997, 182 S., 24 DM.

Im Frühjahr 1994 verkündete die GIA (Groupe Islamique Armée), die den algerischen militanten Untergrund dominierende islamistische und antisemitische Guerilla, ein Ultimatum: Alle Frauen, die ab dem 8. März keinen Schleier tragen, würden umgebracht. Zehntausende Algerierinnen protestierten dagegen. Am 22. März zogen sie in geschlossenen Formationen durch die Straßen Algiers und brachten den gesamten Verkehr zum Erliegen (S.19, 134). Die Sicherheitskräfte hatten die Demonstrantinnen gebeten, doch wenigstens die Hauptstraße zu räumen, aber das hat die Frauen nicht beeindruckt. Trotz der unausweichlichen Bedrohung durch die militanten islamistischen Untergrundgruppen kämpfen Algeriens Frauen weiterhin entschieden für ihre Rechte. Vereinzelt ebenso wie in Gruppen und Assoziationen organisiert setzen sie immer wieder herausfordernde und eindeutige Zeichen zivilen Ungehorsams.

Spannend und mitreißend zu lesen ist das Buch der Journalistin Bettina Rühl. Sie erzählt und berichtet von den mutigen Taten der Frauen, aber auch von ihrer Demütigung und Ohnmacht, und von den Widersprüchen und unterschiedlichen Positionen, die sie selbst vertreten, je nach dem, ob sie der verbotenen islamischen Partei FIS (Front Islamique de Salut), der Demokratiebewegung oder staatsnahen Frauenorganisationen angehören. Zweifelsohne: Opfer und Zielscheibe der Gewalt sind in Algerien vor allem – Mädchen und Frauen. Und das nicht nur aufgrund der schleichenden Islamisierung. Viele Errungenschaften und Rechte, die sich die Frauen seit dem Unabhängigkeitskrieg erkämpft haben, sind binnen des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses wieder beschnitten und vernichtet worden (S. 136). Somit richtet sich der Widerstand der Frauen – inzwischen – gegen zwei Gewaltmonopole: gegen den alltäglichen Terror der islamischen Untergrundgruppen und gegen die Repression des Regimes.

Während einer mehrwöchigen Recherchereise durch Algerien hatte die Autorin Gelegenheit, mit Frauen unterschiedlichen Alters und verschiedener sozialer Herkunft ins Gespräch zu kommen. Ob das von ihr befragte Spektrum auskunftswilliger Frauen letztendlich repräsentativ ist, muß dahingestellt bleiben, schließlich gibt Bettina Rühl ehrlicherweise selbst die Einschränkung bekannt, daß sie zwei ständige Begleiter der Regierung bei sich haben mußte, sonst wäre ihr jede Recherche verboten worden. Dadurch aber hatte sie nicht nur keinen Kontakt mit SympathisantInnen der IslamistInnen im Land selber – mit den beiden FIS-Frauen sprach sie im deutschen Exil -, sondern „auch einige der politisch unabhängigen Frauen waren wegen meiner Begleitung nicht bereit, mit mir zu sprechen.“ (S.8) Ihre trotz dieses Vorbehaltes im Buch versammelten Gesprächspartnerinnen waren nicht nur Frauen aus der sogenannten „feministischen Avantgarde“. Es war Bettina Rühl ein besonderes Anliegen, auch „… jene zu Wort kommen zu lassen, die nicht daran gewöhnt sind, das Wort zu ergreifen, denn sie spielen in dem algerischen Drama eine nicht minder wichtige Rolle.“ (S.8)

Ihre authentischen Berichte und Reportagen präsentieren ein Spiegelbild der algerischen Gesellschaft. Aktuelle politische Ereignisse und Entwicklungen sind von der Autorin fließend mit einbezogen worden. Die sogenannte dritte Kraft, nämlich die zivile Gesellschaft Algeriens; der aktive und passive Widerstand aus den Kreisen und Gruppen der Bevölkerung selbst, ist in der Berichterstattung der westlichen Medien bisher vernachlässigt worden. So gut wie gar nicht berücksichtigt wurde bisher die Tatsache, daß es seit den 80er Jahren innerhalb der zivilen Gesellschaft dieses nordafrikanischen Landes zusätzlich eine eigenständige und überaus dynamisch wirkende Kraft gibt: die algerische Frauenbewegung. „Innerhalb der zivilen Gesellschaft spielen die Frauen eine wichtige Rolle; sie haben sich in den vergangenen Jahren in Dutzenden von Assoziationen zusammengeschlossen, während die Männer eher in politischen Parteien organisiert sind.“ (S.8)

Eine Welle von Gewalt und Terror durchzieht das Land

Bewaffnete Übergriffe auf Dörfer, verstümmelte Leichen und Bombenattentate zählen mittlerweile zu den Alltagserfahrungen der Menschen in Algerien. Im verstärkten Maße ist die Landbevölkerung der unmittelbaren Todesdrohung ausgesetzt. Aber auch in den Städten eskaliert die Gewalt immer mehr; insbesondere in der Hauptstadt Algier. Menschen aus allen sozialen Schichten und politischen Gruppierungen sind alltäglich vom Terror bedroht. „Im Laufe der Jahre ist immer undurchsichtiger geworden, wer für die Bombenattentate, Massaker und Morde im einzelnen verantwortlich ist: Islamistische Untergrundkämpfer, getarnte Sicherheitskräfte des Regimes, Todesschwadronen, Kriegsherren lokaler Milizen oder kriminelle Banden, die von der unsicheren Lage profitieren und die Bevölkerung mit Erpressungen und Schutzgeldforderungen terrorisieren.“ (S.15)

Viele Menschen wurden gezielt ermordet, und die Mörder hatten sehr detaillierte Informationen über ihre Opfer (S.147). Es ist ganz offensichtlich das makabre Kalkül des Regimes und der Regierung selbst, durch Terror unter dem falschen Etikett der Islamisten deren Ansehen bei der Bevölkerung weiter zu diskreditieren. Durch diese Eskalation des Schreckens soll das Volk gewissermaßen auf die Seite der Armee und des Regimes gezwungen werden. „Im Kampf gegen die bewaffnete Opposition scheint der Regierung jedes noch so barbarische Mittel Recht zu sein.“ (S.16) Andererseits sind es tatsächlich im extremen Maße militante islamistische Untergrundgruppen, welche das algerische Volk ihrer Gewalt unterwerfen wollen.

Angaben und Berichten algerischer Journalistinnen zufolge verstärkte sich das Ausmaß der Massenvergewaltigungen an Frauen und Mädchen im Verlauf der letzten Jahre vehement (S.19f). Der Haß der Islamisten hat sich von Anfang an auf die selbstbewußt lebende Frau konzentriert. „Eine Vielzahl von Verhaltensregeln sollte sie zu einem Lebenswandel zwingen, der nach Lesart der radikalen Islamisten vermeintlich der islamischen Moral entspricht.“ (S.19) Algerische Frauenrechtlerinnen gaben an, daß über 700 Frauen und Mädchen nur deshalb ermordet wurden, weil sie sich diesen Vorschriften widersetzt hatten: weil sie geschieden waren oder in die Schule gingen, weil sie westlich gekleidet waren oder ihre Arbeitsstelle nicht aufgeben wollten (S.19). „Hunderte von Mädchen und Müttern wurden von bewaffneten Gruppen entführt, vergewaltigt und verstümmelt, weil sie die sogenannte ‚Lustehe‘ (zauedj el mutaa) verweigerten, die ihnen Mitglieder der Untergrundgruppe aufzwingen wollten.“ (S.19) Die ‚Lustehe‘ ist ein schiitisch tradierter ‚Brauch‘, nach dem ein Vertrag über einige Monate zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen wird, was den Massenvergewaltigungen islamistischer Kämpfer einen Anstrich religiöser Legitimität gibt; der mehrheitlich sunnitische Islam in Algerien widerspricht aber dieser Tradition; d.A.)

Frauen wurden aus abgelegenen Dörfern entführt und monatelang in lagerähnlichen Zuständen festgehalten und mehrmals täglich vergewaltigt. Die Köpfe einiger der getöteten Frauen wurden zur ‚Warnung‘ in die Dörfer gebracht und vor Schulen auf Stöcke gespießt.

Die Arbeit der Frauenassoziationen

Einige der Assoziationen der Frauenbewegung haben sich auf die eher praktische soziale Arbeit mit Frauen konzentriert. Die feministische Organisation SOS (Femmes en detresse / Frauen in Not) ist eine derjenigen Basisvereinigungen, die in den 80er Jahren aus den konspirativen Frauengruppen entstanden. Sie ist darum bemüht, vergewaltigten und in schwere soziale Not geratenen Frauen zu helfen. Es ging ihr zunächst darum, einen Schutzraum (Frauenhäuser) und dann ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ zu gewährleisten. SOS verstand sich anfangs bewußt als unabhängige Nichtregierungsorganisation (NGO).

Die soziale Arbeit von SOS hatte allerdings in erster Linie eine radikal-transformierende Intention. In einem ersten Schritt galt es, die Masse der ins Unrecht gesetzten Frauen aufzufangen. Im zweiten Schritt sollte, wenn möglich, politische Aufklärungsarbeit geleistet werden. Allgemein ging es darum, den aufgenommenen Frauen zu Selbstbewußtsein und wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu verhelfen. Allerdings ist die Zahl der in Not geratenen Frauen so groß, daß die Arbeit von Gruppen wie SOS nur ein Leuchtfeuer ist. Mit dem verbreiteten Analphabetismus und der Frauenarmut konnten die Projekte gar nicht Schritt halten. Ein besonderer Beweis von Zivilcourage war die Arbeit von SOS anfangs deshalb, weil die Organisation eigentlich im Untergrund arbeiten mußte. Zwar konnte durch ‚Mund-zu-Mund-Propaganda‘ betroffenen Frauen eine Anlaufstelle genannt werden, doch trotzdem mußten sie ständig mit islamistischen Terrorangriffen rechnen. Ihr Zentrum sowie einige Frauenhäuser befinden sich in Algier. Frauen, die auf dem Lande wohnen, haben erschwertere Möglichkeiten, einen Weg zu den humanitären und feministischen Organisationen zu finden.

Im zivilen Untergrund besteht ein Verbindungsnetz, vorrangig zwischen den unabhängigen Assoziationen. Das ist schon deshalb notwendig, um gegebenenfalls Massendemonstrationen sowie Großveranstaltungen auf den Plan zu rufen (S.123ff u. 159f).

Die algerischen Familiengesetze: legalisierte Frauendiskriminierung

Die weitaus meisten Frauen, die von der SOS aufgenommen wurden, waren Opfer des Familiengesetzes. Dieses Gesetz erlaubt dem Mann, seine Frau praktisch ohne jeden Grund zu verstoßen. Außerdem legalisiert es die Polygamie. Frauen, die sich weigern, neben zwei weiteren Ehefrauen zu leben, landen mit ihren Kindern auf der Straße, denn der Mann hat das Anrecht auf die eheliche Wohnung. Die Wohnungsknappheit ist in Algerien überdurchschnittlich hoch. Hinzu kommt, daß die meisten Frauen in der Regel keine ausreichende Schul- oder berufliche Bildung erhalten haben. Dadurch wird es ihnen doppelt erschwert, eine eigene Existenz aufzubauen (S.20, 123). Für die Frau ist also das Recht auf Scheidung so gut wie beschnitten. Sie darf sich nur scheiden lassen, wenn der Mann impotent ist oder wenn er einen schweren Fehler begangen hat, der den Ruf der ganzen Familie schädigt – ein Umstand, der in den meisten Fällen nur schwer nachzuweisen ist.

Dieses Gesetz ist von fundamentalistischen IslamistInnen entworfen worden. Im Prinzip leugnet es alle Rechte der Frauen. Selbst heiraten kann eine Frau nur, wenn ihr Vormund das erlaubt. Das ist sogar der Fall, wenn sie eine beruflich selbständige Position innehat, etwa als Ärztin. Die Masse der Frauen hat dieses Gesetz wieder ‚an den Herd‘ getrieben und an einer beruflichen Selbstverwirklichung gehindert (S.104f). „Fast 60 Prozent der Algerierinnen können weder lesen noch schreiben, während nur ein Drittel der Männer Analphabeten sind.“ (S.21)

Das Familiengesetz und seine bereits früh vorhersehbaren Folgen standen im Brennpunkt der Auseinandersetzungen und des Engagements der Frauenbewegung. Die ersten Ansätze und Details waren bereits 1980 erkennbar. Öffentlich thematisiert wurden die Gefahren des Gesetzes zuerst von Frauen aus der Gruppierung der Moudjahidattes (der ehemaligen Partisaninnen, welche im Unabhängigkeitskrieg mitgekämpft haben). Eine dieser Frauen berichtet: „Weil wir damals keine Assoziationen gründen durften, haben wir im Untergrund gearbeitet.“ Sie haben zusammen mit Studentinnen Demonstrationen und Sitzstreiks organisiert, „denn von Anfang an war klar, daß dieses Gesetz unsere Minderwertigkeit festschreiben sollte.“ (S.159)

Seit Ende der 80er Jahre wurde der Konflikt mit diesem Gesetz – innerhalb der Frauenbewegung – zu einer Art „Kernspaltungsfrage“. Die einen waren konsequent für die Bekämpfung und Abschaffung des Gesetzes; die anderen hofften auf eine Reformierung. In dieser Diskussion hat sich dann die SOS für den reformerischen Weg entschieden. Die Regierung war bisher allerdings nicht bereit, das Gesetz wieder zu ändern. Als die Organisation ihren Status als Nichtregierungsorganisation aufgab, vom Sozialministerium finanziell unterstützt wurde und sogar dem Übergangsparlament der Militärregierung beigetreten ist, verließen einige Mitbegründerinnen die Organisation (S.123ff). Dieser Schritt war nötig, denn jegliches Zugeständnis mit dem Regime beschneidet den mühsam erkämpften Eigenraum, um den die Frauen kämpfen. Die Entwicklung der SOS zeigt jedoch das Dilemma, in dem sich einige Frauenprojekte in Algerien befinden.

Besonders ausschlaggebend für die dynamische Entwicklung der Frauenbewegung war, daß einige Frauen aus den Reihen der ehemaligen Partisaninnen ihre Erfahrungen an die jüngere Frauengeneration weitergaben. Ehemalige Moudjahidates arbeiten oft in mehreren Assoziationen gleichzeitig, vermutlich schon deswegen, um die Flexibilität des Untergrund-Kontaktnetzes aufrechtzuerhalten. Sie waren auch diejenigen, die zusammen mit Studentinnen der Universität Algier Ende der 70er Jahre die erste Keimzelle, genannt „Das Kollektiv der Frauen“, der algerischen Frauenbewegung ins Leben gerufen haben, die neben den offiziellen Regierungsorganisationen existierte (S.115-123, 145- 154). Ihre eigene Beteiligung an der Seite der Männer beim bewaffneten Unabhängigkeitskrieg idealisieren sie noch immer. Manche ihrer Aussagen belegen, daß auch im Krieg eine geschlechtliche Arbeitsteilung vorherrschte, und die Peinlichkeit mancher Statements fällt ihnen kaum auf: „Während des Krieges waren wir alle bereit, zu sterben, damit ein Mann überlebt.“ (S.152) Daß sie ihre Idealisierungen angesichts des neuerlichen Krieges nicht revidieren, hat wohl mit einer spezifischen Identität zu tun, die sie sich bei ihrer Durchsetzung als Partisaninnen im männerdominierten Umfeld während des Unabhängigkeitskrieges aneigneten.

Die hauptsächlichen InitiatorInnen der Bewegung sind jedoch die Frauen, die der sogenannten Bildungselite angehören. Beruflich arbeiten sie zumeist als Lehrerinnen, Journalistinnen, Medizinerinnen usw. Von Anfang an waren die Frauen dieser sogenannten feministischen „Avantgarde“ darum bemüht, sich nicht elitär abzusondern. Das Kontaktbündnis zu den Frauen aus der Arbeiterinnenschicht gelang weitestgehend.

Das Buch von Bettina Rühl will nicht in erster Linie einen theoretischen Überblick über die Frauenbewegung Algeriens geben. Entscheidend ist, daß hier engagierte Frauen selbst erzählen, aus ihrem Alltag und ihrer eigenen Biographie. Die Geschichte der Frauenbewegung Algeriens ist auf diese Art und Weise lebendig und transparent dargestellt.