anti-psychiatrie

„Euthanasie“ im Nationalsozialismus

Warum das öffentliche Gedenken an die NS-Psychiatrisierten und T4-Opfer überfällig ist

| Petra Storch

Unmittelbar mit der „Machtergreifung“ der NSDAP 1933 begann die offene Hetze gegen sog. „Asoziale“, psychisch Kranke, Behinderte, gegen sog. „Gemeinschaftsunfähige“, was immer darunter zu verstehen war. Diese Kategorien, die zur Klassifikation der Bevölkerung gebildet wurden, erfaßten all jene, welche nicht dem „arischen“ Ideal entsprachen, aber nicht in die rassistische Schablone des „Ewigen Juden“ paßten. Asyliert wurden Nichtseßhafte, AlkoholikerInnen, „asoziale“ Tuberkulosekranke, um den „gesunden Erbstrom“ der „Volksgemeinschaft“ nicht zu schädigen. „Jugenschutzanstalten“ wurden eingerichtet, in denen sog. „Schwererziehbare“ interniert wurden; auch dies ein dehnbarer Begriff, dem alle dem „gesunden Volksempfinden“ Zuwiderhandelnden zum Opfer fielen, so auch junge Frauen, die auf sexuelle Selbstbestimmung bestanden. So fielen unter den Terminus „Asoziale“ alle AusländerInnen, Angehörige politisch Verfolgter, Familien, aus denen ein Angehöriger sterilisiert worden war, Vorbestrafte, Rauschgiftsüchtige, Prostituierte, LandstreicherInnen, „Unwirtschaftliche“, „Arbeitsscheue“, Sonderlinge, „Nichtsnutze aller Art“, VerkehrssünderInnen und „Raufbolde“. 1938 sprach man von „getarntem Schwachsinn“, unter den vor allem Fürsorgezöglinge fielen, von „moralischem Schwachsinn“, womit vor allem unangepaßte Frauen und Mädchen gemeint waren. (1) Die Begrifflichkeit „asozial“ wurde zunehmend mit „Psychopathie“ ineinsgesetzt und lieferte so die darunter subsumierten Menschen der „Euthanasie“ (2) aus.

Am 14. Juli 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, damit die zwangsweise Massensterilisierung legalisiert. Kriterien für die Sterilisierung waren körperliche Behinderung, Schizophrenie, „angeborener Schwachsinn“, ebenso die sog. „Psychopathien“, deren schlichtweg alle, die nicht in „geordneten Verhältnissen“ lebten, ihren Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen bestreiten konnten, verdächtig waren. Die staatlichen Fürsorgestellen leisteten zur „Untersuchung“, Internierung und zur Zuführung zur Zwangssterilisation bereitwillig und eifrig ihren Arbeitsanteil. Alle für das Gesetz relevanten Personengruppen wurden über die zuständigen Behörden systematisch erfaßt und auf evtl. vorliegenden „Schwachsinn“ hin überprüft und gegebenenfalls der Sterilisierung zugeführt, wobei diese Überprüfungen sich bei geistiger oder körperlicher Behinderung und bei der Schizophrenie nach Ansicht des Gesetzgebers erübrigten. Nichtseßhafte wurden in den bereits bestehenden Kzs inhaftiert.

Ideologie der „Euthanasie“

Ideologisch ging es dabei um die „Reinigung und Heilung des Volkskörpers“, um die „Aufartung“ des „Erbstroms“. Das Individuum als evtl. krankes und hilfsbedürftiges Wesen war im Zuge der „Gleichschaltung“ aus der Medizin in exorbitanter Geschwindigkeit verschwunden. Mit Heilung war nun nicht mehr die Gesundung oder Zustandsbesserung des Einzelnen gemeint, sondern die des „arischen Volksganzen“. Das Ich hatte seine Existenzberechtigung verwirkt, es sollte aufgehen im „völkischen“ Wir. Dieser Blickwinkel, der von der Medizin größtenteils wohlwollend, wenn nicht gar euphorisch aufgegriffen wurde, hatte sich bereits vor 1933 innerhalb dieser Wissenschaft und innerhalb der Biologie in weiten Kreisen etabliert, wenn auch nicht unumstritten. Mit der „Machtergreifung“ wurde dieses ideologische Gebilde zugespitzt, unliebsame KritikerInnen und SkeptikerInnen von der Berufsausübung ausgeschlossen, in die Emigration getrieben, verfolgt.

Bezogen auf die psychische Erkrankung läßt sich feststellen, daß die Geisteskrankheit bereits mit der Aufklärung zu den Belangen der Medizin gehörte, was in voraufklärerischen Zeiten so nicht gegeben war. Aus der medizinischen Zuständigkeit entstand mit der Eugenik (sog. „Erbgesundheitslehre“) der biologisch- genetische Blick auf den Wahnsinn. Gleichzeitig wurden soziale Tatbestände, so die Armut, aus dieser Perspektive betrachtet. Das menschliche Bewußtsein wurde aus religiösen Sphären entthront und im Zuge des Materialismus des 19. Jh. zu einer Funktion des „Keimplasmas“. So wurde Armut, und ebenso die Geisteskrankheit, als genetischer Abfall definiert. Die Anwendung der Vererbungslehre auf soziologische Zusammenhänge lag nahe, da man bereits eine genetische Ursache für abweichendes Verhalten konstruiert hatte, und man nun Armut nur noch als ebenso abweichendes Verhalten zu kategorisieren brauchte. Diese pseudowissenschaftlichen Verquickungen legten den Grundstein für die spezifisch nationalsozialistische Bedeutung der „Psychopathie“, welche tausenden, sehr unterschiedlichen Menschen zum Verhängnis wurde.

Über den Darwinismus, und nicht nur über diesen, wurde der Anspruch auf Heilung innerhalb der Medizin mehr und mehr vom kranken Individuum weggelenkt hin zur „Heilung“ einer ganzen Gesellschaft, welche erbbiologisch als eine Einheit betrachtet wurde. Die Menschheit als Ganzes sollte genesen, organisiert nach der „natürlichen“ Norm des patriarchalen Familien- und Arbeitslebens, gereinigt von allem „minderwertigen Ballast“. So begrüßten viele MedizinerInnen und BiologInnen den Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft im Deutschen Reich als Möglichkeit, ihre „rassehygienischen“ Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen.

„Aktion T 4“ – Vorbild für die Shoah

Die systematische Internierung sog. „Asozialer“ und „Arbeitsscheuer“ begann 1938, nachdem diese bereits vor diesem Zeitpunkt sporadisch immer wieder der Freiheit beraubt worden waren. Spätestens ab diesem Zeitpunkt geschah diese Internierung in KZs mit dem klaren Gedanken an die Vernichtung. Zeitgleich wurde verstärkt Propaganda lanciert für die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, als „Gnadentod“ schöngefärbt. Bereits 1936 fanden die ersten Verlegungen psychiatrischer und heilerzieherischer PatientInnen aus kirchlichen Einrichtungen hin zu staatlichen statt, die ersten Todesnachrichten wurden an die Angehörigen verschickt. Der Terminus „Verlegung“ war ab 1939 gleichbedeutend mit dem sicheren Tod der davon Betroffenen. In diesem Jahr begann die Tötung von AnstaltsinsassInnen im großen Stil. Die ausführenden Ärzte und das Pflegepersonal waren hierzu durch eine Autorisierung Hitlers, rückdatiert auf den 1.9.1939, einige Zeit nach diesem Tag verfaßt, ermächtigt. Die Organisation der „Euthanasie“ oblag einer Zentrale in Berlin, welche ab April 1940 fast vollständig in der Tiergartenstraße 4 untergebracht war, mit dem inoffiziellen Namen „T4“. Hiernach wurde die „Euthanasie“-„Aktion T4“ ganannt. Ein Gutachter-Stab wurde eingesetzt, zu dem namhafte medizinische Kapazitäten gehörten. Sie erhielten die Aufgabe, auf der Basis eigens zu diesem Zweck entworfener „Meldebögen“, über Leben und Tod zu entscheiden. Ebenso bereisten sie die verschiedenen „Anstalten“, um den Fortgang der „Aktion“ zu kontrollieren. In der Folgezeit wurden tausende von PatientInnen vergast, erschossen, durch Spritzen überdosierter Medikamente getötet. Ärzten oblag es, eine „geeignete“, d.h. plausible Todesursache zur Mitteilung an die Angehörigen „festzustellen“. Immer mehr Schizophrene, EpileptikerInnen, Manisch-Depressive, Körperbehinderte, „Schwachsinnige“, „Psychopathen“ etc. fielen unter die Rubrik „unheilbar“.

Die massenhaften „Verlegungen“ erregten in der Öffentlichkeit Aufsehen; es kam zu Gerüchten, die sich zunehmend den tatsächlichen Vorgängen annäherten. Vereinzelt wurde, auch von kirchlicher Seite, Einspruch erhoben. Am 24. August 1941 stoppte Hitler persönlich die „Aktion“ in dieser Form des Ablaufs, was aber keineswegs das Ende der „Euthanasie“ bedeutete. Die „freigewordenen Kapazitäten“ der „Aktion T4“ wurden nun für die Tötung kranker, nicht mehr arbeitsfähiger Häftlinge in den Kzs „genutzt“. T4- Gutachter reisten von KZ zu KZ, um zu „selektieren“. Der Völkermord begann unter Einsatz des T4-Personals. Doch auch in den Krankenanstalten fand das Morden kein Ende. Nunmehr wurden die Opfer durch Gabe von Überdosierungen, insbesondere von Luminal, getötet. Eine weitere „Methode“ war das Verhungernlassen der InsassInnen. Die Opfer starben einen qualvollen, langsamen Tod.

Nur ein geringer Teil des medizinischen Pflegepersonals in den Anstalten war erschüttert von den Vorgängen, versuchte, die Pfleglinge vor der „Verlegung“ zu bewahren, meist erfolglos. Die aktiv an den Tötungen Beteiligten wurden nicht zur Täterschaft gezwungen, das Ablehnen der persönlichen Beteiligung führte nicht zu negativer beruflicher oder privater Sanktionierung. Doch war es zu keiner Zeit für die Organisatoren der „Aktion“ problematisch, zum Morden bereite HelferInnen zu finden. Kaum ein aktiv Beteiligter entwickelte nach Kriegsende, auch nicht im Zusammenhang mit den z.T. folgenden Straf- und Kriegsgerichtsprozessen, Schuldbewußtsein.

(1) vgl. Ernst Klee: Euthanasie im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt/M. 1985, und Angelika Ebbinghaus (Hrsg.): Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus, Hamburg 1987.

(2) Die gesetzten Anführungszeichen beziehen sich weitgehend auf NS-Termini und sind nicht, soweit nicht anderweitig ausgewiesen, als direkte Zitate zu verstehen.

Der Text wurde von der Red. gekürzt. Wir bedanken uns beim "Freundeskreis des Museums 'Haus des Eigensinns'" für die Zurverfügungstellung des Textes. In voller Länge und mit weiteren Texten zur Geschichte der "Euthanasie", zum Kunstbegriff des "Entarteten" und zur politischen wie rechtlichen Begründung des "Haus des Eigensinns" ist er abgedruckt in zwei Broschüren zur Projektvorstellung, zu bestellen über: "Haus des Eigensinns", Vorbergstr. 9a, 10823 Berlin, Tel: 030/7874334, Fax: 030/7828947