In GWR 227 berichteten wir kritisch über die bisherigen Vorbereitungsdiskussionen des Ende Mai in Osnabrück stattfindenden europäischen Friedenskongresses 350 Jahre nach dem "Westfälischen Frieden", der den Dreißigjährigen Krieg beendete. An dieser Stelle setzen wir uns aus radikal- antimilitaristischer und antisexistischer Sicht mit dem pazifistischen Memorandum "Für eine Friedenspolitik ohne Militär" auseinander. Es wurde gewogen - und für zu leicht befunden. (Red.)
Das Friedensmemorandum des Kongresses, so heißt es im bisher dazu verbreiteten Faltblatt, „soll helfen, die europäischen und internationalen Friedensbewegungen zusammenzuführen, ihre Handlungsfähigkeit für eine pazifistische Perspektive über das Kongreßdatum hinaus zu verstärken und für gemeinsame grenzüberschreitende Aktionen und Kampagnen eine inhaltliche Grundlage zu schaffen.“ Das Memorandum ist die bisher dezidierteste inhaltliche Stellungnahme der KongreßvorbereiterInnen. Der Arbeitsausschuß, der das Memorandum verfaßt hat, setzt sich aus Mitgliedern der Grünen, des Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Evangelischen Studentengemeinde, der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, Pax Christi, des Forum Ziviler Friedensdienst sowie der Osnabrücker Friedensinitiative zusammen. Das Dokument spiegele einen 14-monatigen Diskussionsprozeß wider, soll in viele europäische Sprachen übersetzt werden und nach dem Kongreß für die Unterzeichnung möglichst vieler Gruppen, Personen und Organisationen freigegeben werden.
Die Abwesenheit der Kriegsursache Männergewalt
Zum einschneidensten Kritikpunkt des Memorandums aus radikal-antimilitaristischer Sicht zuerst: zwar betonen die Verfasser (es sind tatsächlich ausschließlich Männer!), daß bei einem europäischen Vorbereitungstreffen Mitte Dezember 1997 in Brüssel weitere Verbesserungsvorschläge für das Papier eingebracht worden seien, „insbesondere über den Zusammenhang von Pazifismus und Gleichstellung von Frauen“, doch nach einer antisexistischen Kriegsursachenanalyse fahndet man/frau im Memorandum vergebens. Lediglich bei der geforderten Erziehung zur Friedenskultur wird eine unverbindliche „Chancengleichheit“ für Mann und Frau gefordert. „Dazu gehört, daß die Rolle von Frauen, Müttern, Politikerinnen für eine Kultur des Friedens erkannt und stärker als bisher gefördert wird.“
Was mag das heißen? Ein solcher Satz läßt zumindest den Interpretationsspielraum offen, daß die „Rolle von Frauen“ – und Müttern erst! – eine quasi natürlich festgelegte Friedfertigkeit sei und daher stärker gefördert werden soll. Hier zeigen sich die Verfasser-Männer derart uninformiert über Diskussionen innerhalb der feministischen Bewegung, daß es peinlich wird. Mindestens die bereits vor Jahren geleistete Kritik, daß Frauen qua ihrer Natur weder friedfertig noch die besseren Menschen, noch menschheitserrettend sind und sein wollen, hätte aufgegriffen werden können. Feministische Gewaltfreiheit ist gesellschaftlich und bewußt zu erringen und nicht in irgendwelchen „Rollen“ tradiert. Die Nacheinandernennung von Frauen und Müttern suggeriert, daß mit der aufzuwertenden „Rolle“ tatsächlich die traditionelle geschlechtsspezifische Rolle von Frauen und Müttern gemeint sein könnte, aus der Frauenbewegungen immer wieder auszubrechen versuchten – mit enorm friedensfördernden und die Männergewalt zurückdrängenden Ergebnissen übrigens. Die Rolle der Mutter an der ehelichen Seite des Mannes ist eben keineswegs per se friedensfördernd, so oft es auch „Mütterbewegungen“ für den Frieden oder für Verschwundene gegeben haben mag. Es ist geradezu grotesk, zu behaupten, Verbesserungsvorschläge zu diesem Thema seien berücksichtigt worden und dann ein Memorandum zu präsentieren, in welchem so ein Satz der einzige bleibt und nicht einmal dezidiert ausgeführt wird, um weit verbreitete Mißverständnisse und die Gefahren eines Friedens-Biologismus zu vermeiden. Eine Frechheit geradezu – die auf die Männerdominiertheit der bisherigen Friedensbewegungen verweist und damit einen wichtigen Hinweis darauf gibt, was eine wirklich radikal-antimilitaristische Bewegung zuallererst überwinden müßte.
Hinzu kommt die kommentarlose Nennung von „Politikerinnen“, deren Rolle angeblich stärker gefördert werden müsse. Als wenn es inzwischen nicht genügend Erfahrungen mit solchen Politikerinnen gegeben hätte, um diese einmal selbstkritisch auszuwerten. Welche „Friedenspolitik“ hat denn eine Margaret Thatcher bitte schön durchgeführt, nicht nur im Falklandkrieg? Welche kriegsverhindernde „Rolle“ sollten wir denn bei Außenministerin Albright in ihrer Rolle bei der letzten Golfeskalation „erkannt“ haben? Zu dieser patriarchale Rollenklischees bedienenden, vollkommen illusionistischen „Friedenspolitik“ der systemimmanenten Gleichstellung und Gleichberechtigung paßt denn auch die Einladung der ehemaligen Frauenministerin Rita Süßmuth zu der modernen Talkrunde am Eröffnungsabend des Kongresses.
Selbstverständlich wird die der vermeintlich friedensfördernden Rolle der Frauen komplementäre kriegsfördernde Rolle von Männergewalt im Memorandum mit keiner Silbe erwähnt. Friedenspolitische Gleichstellung suggeriert eben die Angleichung der Frauen an das politische Niveau der Männerpolitik – daß die gesellschaftliche Rolle von Männern, ihrer Gewalt und ihrer Priviliegien, sich ändern müßten, kommt nicht vor. Da kann in den neuen konventionellen Kriegen wie etwa in Bosnien die Diskussion um Massenvergewaltigung in Kriegen an entscheidender Stelle neu aufflammen wie sie will, da kann, mit brutaler Männergewalt konfrontiert, aus offensichtlicher Ohnmacht sogar zur internationalen Militärintervention aufgerufen werden, da kann dieses Thema für genau diesen Zweck in den Medien instrumentalisiert und darüber vergessen werden, daß Massenvergewaltigungen tatsächlich zu jedem Krieg gehören, da kann völlig idealistisch genau jene männerbündische Institution Militär zum Retter vor Vergewaltigung hochstilisiert werden – doch den Verfassern des Memorandums ist diese Kriegsursache keine Zeile wert. Es ist nicht zu fassen. Wo leben sie, zu welcher Zeit? Im 17. Jahrhundert? Zur Zeit des Friedensvertrages von Osnabrück und Münster? Aber halt: gab es dazumal etwa keine Männergewalt? Die Frage muß lauten: in welcher Gesellschaft leben sie? Von der Antwort haben sie anscheinend nie gehört: in einer patriarchalen!
Die gesellschaftspolitischen Schwächen des Pazifismus
Neben der bereits traditionell zu nennenden, vollkommenen Abwesenheit einer antisexistischen Kriegsursachenanalyse besticht das Memorandum durch weitere traditionelle Positionen und Schwächen der politischen Ideologie des Pazifismus. Das Papier macht ungewollt deutlich, warum durchaus Verschiedenes gemeint sein kann, wenn die Begriffe Pazfismus auf der einen und gewaltfreier Anarchismus/Antimiltarismus auf der anderen Seite benutzt werden. Der Pazifismus setzt als vordringlichste Strategie auf die Verhandlung zwischen Staaten und Staatenbündnissen zur Verhinderung von Kriegen. Das kann durch soziale Bewegungen und Antikriegsbewegungen, die auch im Memorandum beiläufig erwähnt werden, unterstützt werden, muß aber nicht. Was zählt, ist letztenendes nicht die soziale Bewegung, sondern pazifistische „Politik“. Und die spielt sich auf einer ganz anderen Ebene ab. Es ist eine Ebene, die vom anarchistisch-antimilitaristischen Ansatz her gerade bekämpft werden muß, wenn es zu wirklichem Frieden kommen soll. Der anarchistisch-antimilitaristische Friedensbegriff ist nicht nur unwiderruflich an eine soziale Bewegung gekoppelt, sondern auch an eine Gesellschaftsutopie, die erreicht werden soll, und zwar durch nichts weniger als durch eine revolutionäre Veränderung der bestehenden Gesellschaft. Gesellschaftliches Ziel ist bei diesem Ansatz nicht nur der pazifistische Verhandlungsfriede als „Abwesenheit von Krieg“, sondern der „gerechte Friede“, der zum Beispiel einen gesellschaftlichen Zustand der Abwesenheit von Nationalstaaten aufgrund ihres Zusammenhangs mit Militär und Krieg einfordert. Es versteht sich daher von selbst, daß im Memorandum der Begriff des „gerechten Friedens“ fehlt.
Dabei dreht sich pazifistische Politik seit Jahrzehnten wider besseres Wissen im Kreis: auch im Memorandum wird deutlich und sogar benannt, daß der Westfälische Friede als Verhandlungsfriede eben gerade nicht zu einer Überwindung der Gewaltstrukturen führte, sondern sogar „lediglich eine Etappe im kriegsträchtigen Prozeß der Herausbildung von Nationalstaaten und dem damit eng verbundenen Militarismus war.“ So weit, so gut. Doch bei den pazifistischen Handlungsperspektiven ist von diesen Einsichten kaum noch was übrig. Da wird zwar den Regierungen selbstbewußt und angesichts gegenwärtiger Ohnmacht als soziale Bewegung schon etwas omnipotent „das Recht“ abgesprochen, den „militärischen Weg zur Methode der Friedenssicherung“ zu erklären. Doch schon im nächsten Satz wird an genau diese Regierungen appelliert, doch eine Friedenspolitik ohne Militär bis hin zur Finanzierung des zivilen Friedensdienstes zu unterstützen. Der Pazifismus als soziale und politische Strömung hat noch nie begreifen wollen, daß beides nicht geht: erst die Nationalstaaten als kriegsfördernd darzustellen und dann gerade von ihnen die Abschaffung des Krieges zu erwarten. Das ist der inhärente Idealismus des Pazifismus – ein schlechter Idealismus, weil er genau das nicht ist, was er immer zu sein behauptet: realistisch!
Daß der Pazifismus als politische Strömung die notwendige radikale, grundsätzliche, revolutionäre – um den genauen Begriff geht es hier nicht – Gesellschaftsveränderung gerade umgehen will, verrät die im Memorandum benutzte Begrifflichkeit auf allen Ebenen: da wird im ökonomischen Bereich als Kriegsursache von „einem ungezügelten Kapitalismus“ gesprochen – der Begriff suggeriert bereits, daß also der Kapitalismus „gezügelt“ werden könne, womit sozialdemokratischer Politik Tür und Tor geöffnet wird und die historische Erfahrung der militaristischen Politik nach innen (Atom- und Polizeistaat) und nach außen (NATO-Nachrüstung usw.) völlig ignoriert wird, die die reformorientierte SPD-Regierung in den siebziger Jahren verfolgte. Da wird weiter gefordert „UNO und OSZE zu stärken“, später wird immerhin wenigstens dazu gesagt, daß sie „durch demokratische Reformen“ gestärkt werden sollen – daß die UN in Ex- Jugoslawien nur der Steigbügelhalter für die NATO war und daß OSZE-Vermittler wie Mazieoviecki nach ihren Inspektionen immer nur die Militärintervention gefordert haben, berücksichtigen die Verfasser nicht.
Überhaupt ist es ein Phänomen, wie im Memorandum gerade die Desaster des Pazifismus im 20. Jahrhundert zu angeblichen Erfolgen umgelogen werden: das 20. Jahrhundert sei „nicht nur eine Schreckensgeschichte“, heißt es da unter anderem, „erste Schritte“ einer „pazifistischen Politik“ seien „Vereinbarungen, die die Grausamkeiten des Krieges eingrenzen sollen“, die „Ächtung von Angriffskriegen“, das „Verbot der Anwendung besonders grausamer Waffen.“ In der „Zeit“ vom 16. April 1998 wird über „Rote Kreuz“-HelferInnen berichtet, die von der besonderen Grausamkeit der jüngsten Kriege von Bosnien über islamistische Massaker bis Ruanda reden. Sie reden davon, daß auf den Schlachtfeldern keine Regeln mehr gelten, daß die Genfer Konvention nicht nur das Papier nicht wert ist, auf dem sie steht, sondern daß sie den meisten Kombattanten weltweit nicht einmal bekannt ist. Die Kriege heute, so meinen sie, lassen sich „eher mit der Barbarei des Dreißigjährigen Krieges“ vergleichen (Zeit, 16.4., S.3). Nichts dokumentiert das historische Scheitern der Genfer Konvention – des Versuches, die Kriegsführung zu „humanisieren“ und besondere Grausamkeiten zu vermeiden, ohne den Krieg selbst abzuschaffen – deutlicher als solch ein Statement.
Doch das Memorandum spricht unbeeindruckt von den historischen Erfolgen pazifistischer Politik, Zweifel sind nicht erwünscht und werden nicht formuliert. Aktuelle Entwicklungen wie der Rechtstrend der ganzen Gesellschaft, die rechtsextreme Entwicklung in der Bundeswehr kommen nicht vor. Dafür ist ein aktuell gebräuchlicher, aber systemintegrierender Begriff wie der einer „nachhaltigen Weltwirtschaft“ natürlich sofort aufgenommen worden. Die Frage, wie zukünftig der Wandel von traditionellen Strategien der Kriegsdienstverweigerung bei einer Wehrpflichtarmee zu einer Bekämpfung von Berufsarmeen bewerkstelligt werden soll, wird nicht beantwortet, abgesehen davon, da an einer Stelle naiv vermerkt wird, auch der „Dienst in einer Berufsarmee“ solle abgelehnt werden. Mit Propaganda- oder wirklichen Erfolgen der Militärs wird sich gar nicht erst konfrontiert. Anstelle dessen wird die Wirklichkeit umgelogen, bis sie ins Weltbild paßt. So heißt es zum Ex-Jugoslawien-Krieg tatsächlich:
„Konflikte wie auf dem Balkan müssen eingedämmt werden, bevor sie zum Krieg eskalieren. Wenn Großmächte unfähig sind, dies zu leisten und zum Mittel der militärischen Intervention greifen, ‚um Völkermord zu verhindern‘, dokumentieren sie damit das Scheitern ihrer Politik.“
Das Schlimme ist doch, daß mit der militärischen Intervention im Falle Ex-Jugoslawien die Politik der Großmächte gerade nicht gescheitert ist, sondern sie damit öffentlichtkeitswirksam jede pazifistische Politik zum Scheitern brachten! Aber zu solchen Wahrnehmungsverzerrungen – der Selbstdarstellung eines Wahlkämpfers nicht unähnlich – muß eine pazifistische „Politik“ wohl gelangen, die sich seit Jahren ohne den selbstkritischen Druck einer antimilitaristischen Bewegung entfalten kann und der Rückbindung an sie längst entbunden fühlt.