Ist es Zufall, daß der Behälter in den Wahlkabinen am 27.9. und der Sarg für einen Toten gemeinhin mit demselben Wort bezeichnet werden: der Urne? Oder steckt darin untergründig doch mehr als nur ein billiger Symbolwert? (Red.)
Der Tod ist ein Zustand der Endgültigkeit, ein eindimensionaler Fixpunkt des Lebens, der – für AgnostikerInnen und Nichtgläubige zumindest – das Ende eines Lebensweges bezeichnet, der von nun an keine Abzweigungen mehr zuläßt. Das Leben war demgegenüber viel weniger eindeutig, konnte Um- und Holzwege, Kurven und Überholmanöver beinhalten. Das menschliche Leben ist – zumindest potentiell – eine vielfältige Ansammlung von schöpferischen Möglichkeiten, eine beständige Herausforderung zur Entscheidung, diesen oder jenen Weg zu gehen – eine beständige Wahl. Der Tod dagegen ist endgültig, eindimensional, in jedem Fall alle betreffend – wir können ihm nicht aus dem Wege gehen, haben keine Wahl, auch dann nicht, wenn uns der Tod als himmelschreiende Ungerechtigkeit erscheint.
Haben also Wahlurne und die Urne für den Toten doch mehr gemein? Ich behaupte, ja. Denn was da in diesen Tagen „Wahlkampf“ genannt wird ist nämlich kein solcher, es wird den Individuen gar keine Wahl gelassen, jede potentielle Richtungsänderung der Gesellschaftspolitik wird ihnen ausgetrieben und am Ende regiert die „eindimensionale Gesellschaft“ – eine Bezeichnung, mit der Herbert Marcuse zu Zeiten der StudentInnenbewegung in den sechziger Jahren die Industriegesellschaft kennzeichnete, und die doch auch heute so zutreffend ist. Diese eindimensionale Gesellschaft, die die Individuen darauf hin konditioniert, Meinungsunterschiede so zu verhandeln, daß keine wirkliche andere gesellschaftspolitische Richtung eingeschlagen wird, ist in der Tat dem Tod verschrieben – wenn nicht dem Tod in Form von archaischen Kriegen und Religionsfanatismen, dann mindestens dem Tod der Schöpfungskraft und der Abstumpfung des Denkens. Eine anarchistische Kritik des Systems der Wahlen hat demnach heute als allererste Aufgabe, ein Bewußtsein darüber zu schaffen, daß reale Wahlen im Sinne unterschiedlicher Lebenswege wie auch Gesellschaftsordnungen gegenwärtig nicht nur kaum möglich sind, sondern eingefordert und erkämpft werden müssen.
Die Medien als Garant der Eindimensionalität
Die herrschenden Medien, die großen bürgerlichen Tageszeitungen und politische Wochenzeitungen wie die „Zeit“ oder der „Spiegel“ verdrehten in diesem Wahlkampf jedwede auch nur um Millimeter vom politischen Mainstream abweichende Meinung zum Randständigen und damit Chancenlosen und forderten die Rückkehr zur eindimensionalen Richtung der herrschenden Gesellschaftsordnung ein. Die Mittel waren einfach: Über Meinungsumfragen wurde festgestellt, daß dieser und dieser Programmpunkt etwa der Bündnisgrünen entweder ihrer Regierungsfähigkeit schade oder sie unter die 5-%-Marke bringe – wahre Todesurteile für eine Partei, die – derart abgestraft – brav die inneren Reihen säuberte und zur gewünschten Eindimensionalität zurückkehrte.
Man/frau muß sich einmal vorstellen, was da verhandelt wird, um die gesellschaftliche Tragweite dieser Eindimensionalität zu begreifen. Als die Grünen sich noch als „Anti-Parteien-Partei“ dünkten, hießen ihre langfristigen Zielvorstellungen „Ausstieg aus der Industriegesellschaft“, manchmal auch „Ökosozialismus“ oder ähnliches mehr. Das wäre mal eine wirkliche Wahl gewesen. Und was ist davon heute als grüne Vision, als Utopie, als langfristiges Programm geblieben, das – wie Fischer nicht müde wird zu betonen – auf keinen Fall mit einem kurzfristigen Wahlbüchlein für die nächste Legislaturperiode verwechselt werden darf? Der 5-DM-Benzinpreis! Was für eine Utopie! Was für eine grandiose Wahl wir haben! Es ist tatsächlich so, daß nach dem Wegfall der antistaatlichen, auf Selbstversorgung und auf Selbstorganisation hin orientierten Ökologiebewegung, die lange Zeit den Grünen als „Standbein“ gedient haben soll, eine bürokratische, nur über den Staat organisierbare, nur als Zwang durchsetzbare „Ökosteuer“ als der Grünen größte gesellschaftliche Vision dargestellt wird. Was für ein Todesurteil für jede libertäre Phantasie! Was für eine Austreibung des Gedankens an jedes Experimentieren, jedes Ausprobierens verschiedener Lebensweisen!
Und selbst dieses erbärmliche Stück grüner Bürokratismus, von etatistischen ÖkologInnen und Umweltverbänden noch als Minimum zaghaft verteidigt und von den Grünen selbst beständig als sowieso kommend, in der Struktur der Entwicklung dargestellt, etwas, das ja auch schon Schäuble und der und die vorgeschlagen hätte – also als etwas, zu dessen Durchsetzung wir die Grünen nun wirklich nicht brauchen! – selbst dieses Nichts an Wahl für ein autonomes, freies Individuum, wurde den Grünen noch erbarmungslos von den Medien mittels der neuesten Umfragewerte um die Ohren gehauen. Der „Spiegel“ verstieg sich gar angesichts dieser Forderung zur Erinnerung an die chaotische Gründungszeit der Grünen, wo ebenfalls die verrücktesten Forderungen kreuz und quer erhoben wurden.
Und so bei allen anderen Themen: der bayrischen Abgeordneten, die etwas Flugbenzin einsparen wollte, wurden sofort und süffisant ihre jährlichen Flugkilometer um die Ohren gehauen; Trittin, der lediglich die Tradition der Gelöbnisfeiern, keineswegs die Bundeswehr an sich in Frage gestellt hatte, wurde das Maul gestopft; Fischer setzte auch die schon von Robert Michels (1) als sehr beliebt beschriebene Drohung ein, er werde zurücktreten, falls die Grünen nicht außenpolitisch „verläßlich“ werden würden, also zu jedem zukünftigen Bundeswehreinsatz ja sagen würden; die Forderung nach der Abschaffung der lebenslänglichen Freiheitsstrafe wurde nur noch als neuester Tritt ins Fettnäpfchen am Rande vermerkt. Wer die eindimensionale Gesellschaft nicht akzeptiert und tatsächlich eine Wahlalternative zu sein behauptet (ob sie es ist, wäre dann noch zu klären!), wird von den Medien mit Nichtachtung gestraft wie die PDS – wenn sie sich für die nationalen Belange der ostdeutschen BürgerInnen einsetzt allerdings, wird sie als PDS wieder gehört und soll doch nicht „verteufelt“ werden. Jeder Dissens wird entweder ausgeschieden oder auf die Bedürfnisse der eindimensionalen Gesellschaft zugeschnitten. Auf diese Weise wird jeder Regierungswechsel zur Kursänderung um Zentimeter und tangiert die Gesamtrichtung des Systems hin zur Sarg-Urne einer abgetöteten, zu alternativem Denken unfähigen Gesellschaft kein bißchen.
Die neue Regierung will die Reform!
Was auffällt, ist die Maßlosigkeit, mit der die eindimensionale Gesellschaft voranschreitet und alles, was nach Dissens aussehen könnte, gnadenlos zermalmt! Selbst ein so abgeschmackter, antirevolutionärer und von mir keineswegs befürworteter politischer Begriff wie derjenige der „Reform“ verliert völlig seinen alten Bedeutungszusammenhang und wird im Wahlkampf zum Mittel der Integration in die eindimensionale Gesellschaft. Es gibt derzeit praktisch keine Partei, die nach einem eventuellen Wahlsieg keine Reform machen wollte.
Hatte der Begriff noch in den siebziger Jahren den impliziten Inhalt der sozialen Reform, der mit der sozialdemokratischen Regierungskoalition gleichgesetzt wurde und mühte sich die revolutionäre und anarchistische Kritik damit ab, in der sozialen Reform nur die Verhinderung der sozialen Revolution zu sehen, ist heute im allgemeinen Bewußtsein völlig inhaltsoffen, was denn nun unter einer „Reform“ verstanden wird. So bedeutet eine kommende „Reformregierung“ für die CDU ebenso wie für die SPD beispielsweise die Auflösung des gegenwärtigen „Reformstaus“, der wahlweise entweder der „Blockade“ der SPD oder der „Verbrauchtheit“ der CDU angelastet wird. Nichts ist weniger falsch. Noch vor der Sommerpause jagten CDU und SPD ein Gesetz nach dem anderen durch den Bundestag, unter anderem den großen Lauschangriff oder ein Gesetz, das es dem Bundesgrenzschutz erlaubt, „auf allen Flughäfen, Bahnhöfen und in allen Zügen ohne weitere Voraussetzungen BürgerInnen zu kontrollieren, auszufragen, im Zweifel zu durchsuchen und erkennungsdienstlich zu behandeln.“ (2)
Hier „staut“ sich gar nichts. Die Regierung regiert wie eh und je und die parlamentarische Opposition regiert gleich mit! „Reform“ bedeutet hier inhaltlich „Verschlimmerung der politischen und sozialen Zustände“. Und wirklich wissen im Wahlkampf alle Parteien, daß die eindimensionale Gesellschaft nach den Bundestagswahlen schon von der Struktur ihrer weiteren Entwicklung her kaum anderes als soziale Verschlimmerung bedeuten kann: die Renten werden noch mehr gekürzt, die sozialstaatlichen Agenturen müssen noch mehr einsparen, die Leute müssen noch mehr zahlen, der Gürtel muß noch enger geschnallt werden. All dies wird nach den Wahlen als „Reform“ auf die WählerInnen zukommen. Doch was wirklich zählt, ist hier zweierlei: erstens wird den Menschen die Forderung nach einem emanzipatorischen, sozialen Inhalt von „Reformen“ geradezu ausgetrieben, sie werden unfähig, an so etwas als einem Spezifikum von „Reform“ überhaupt nur zu denken. Es wird ihnen verunmöglicht, für soziale Reformen als einer tatsächlichen, bewußten Wahlentscheidung einzutreten. Und zweitens wird der Begriff der „Reform“ in die eindimensionale Gesellschaft so eingepaßt, wie ihn diese heute am besten gebrauchen kann. „Reform“ bedeutet nun „Strukturanpassung“ – also das Gegenteil dessen, was einmal mit dem sozialdemokratischen Mythos von der strukturverändernden Reform gemeint war. Und wenn die SPD heute das erstere unter „Reform“ versteht, darf die PDS als die bessere Sozialdemokratie wieder nachrücken und den letztgenannten Mythos auch öffentlichkeitswirksam aufkochen, von welchem die AnarchistInnen immer schon sagten, „strukturverändernde Reformen“ könne es nicht geben, denn entweder werde die Struktur verändert, dann aber sei das eine Revolution, oder aber die Reform siege, dann aber werde die Struktur gerade nicht verändert. Aber wem ist solch eine Diskussion heute noch geläufig? Ihre Relevanz ist völlig aus der eindimensionalen Gesellschaft ausgeschieden worden. Sie stört nur die „Reformpolitik“!