bücher

„… immer zum Abschied bereit.“

Anläßlich einer Neuerscheinung zum 20. Todesjahr von Jean Améry

| Antisemitismus-AG Frankfurt/Main

Harry Rosina: Jean Améry - PRAUST oder: Der Letalfaktor. Edition Anares Bern / Espero (Espero-Sonderheft Nr. 5), Bern 1998, 62 S., 10 DM.

Sich des Lebens und Wirkens des Schriftstellers und Auschwitz-Überlebenden Jean Améry (31.10.1912, Wien-17.10.1978, Salzburg) zu vergegenwärtigen, bedeutet zugleich auf die schrecklichen, unfaßbaren Erfahrungen in diesem Jahrhundert zu blicken: auf die Shoah, die Ermordung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen durch die Deutschen während des Nationalsozialismus – zweifelsohne das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Zur Kenntnis nehmen sollten dies endlich auch diejenigen, die diesen Genozid rasch mit anderen Greueln relativieren und den Nazi-Massenmorden mit diesen Verallgemeinerungen „den Status der Einzigartigkeit und Einmaligkeit (…) verweigern.“ (1)

Auch für die nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Deutschen ist es unerläßlich, sich mit dem Nationalsozialismus und Auschwitz im Zentrum sowie dessen gesellschaftlichen Folgen über 1945 hinaus zu beschäftigen. Noch immer leben unter uns Menschen, die von NS-Deutschland zum Tode bestimmt waren; und nach wie vor leben hier viele NS-Täter, die, inzwischen hochbetagt und ohne erkennbare Schuldgefühle, nicht selten hohe Pensionen und Kriegsentschädigungen beziehen, während viele Opfer entweder leer ausgingen oder nach jahrelangen Kämpfen mit kümmerlichen Beträgen (sog. ‚Wiedergutmachung`) ‚abgespeist‘ wurden. Darüber hinaus wird der Holocaust am europäischen Judentum bis heute von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung verdrängt, während die Überlebenden mit ihen traumatischen Erfahrungen und qualvollen Erinnerungen zumeist auf sich allein gestellt sind.

Zu denjenigen Überlebenden, die ihre Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Auschwitz intellektuell verarbeiteten und letztlich doch an Deutschland zerbrachen, gehörte der Grenzgänger Jean Améry. An ihn erinnert eine Broschüre von Harry Rosina, die zur Beschäftigung mit Jean Améry anregen möchte. Prägnant wird Amérys Lebensweg skizziert und in den Mittelpunkt seine traumatische Erfahrung mit der NS-Folter gestellt, die ihn seines ‚Weltvertrauens‘ beraubte und ihm das Weiterleben nur unter anhaltendem Leidensdruck ermöglichte, bis er schließlich 1978 seinem Leben ein Ende setzte: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. Das (…) in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht.“ (2)

Daß erlittene Folter durch die Nazis gewissermaßen Jean Amérys ‚persönlichen‘ Zivilisationsbruch darstellte, wird bereits im Titel der vorliegenden Broschüre deutlich: ‚Praust‘ ist der 1892 in Berlin-Charlottenburg geborene Metzger Arthur Prauss, Mitglied der NSDAP, SA und SS, zunächst SS-Scherge im KZ Sachsenhausen-Oranienburg, später verantwortlich für den Zwangsarbeitereinsatz im KZ Breendonk (Belgien) und dort berüchtigt als bestialischer Folterer. Nach 1945 verliert sich die Spur dieses Verbrechers – wie bei vielen NS-Tätern. Dieser Arthur Prauss war es, der das Mitglied der belgischen Widerstandsbewegung Jean Améry in Breendonk im Sommer 1943 der Tortur unterwarf, die der Gefolterte später präzise beschrieben hat. (3)

Für Jean Améry war die Folter keine Erfindung des Nationalsozialismus, sondern seine „Essenz“ (4): „Sofern überhaupt aus der Erfahrung der Tortur eine über das bloß Alptraumhafte hinausgehende Erkenntnis bleibt, ist es die einer großen Verwunderung und einer durch keinerlei spätere menschliche Kommunikation auszugleichende Fremdheit in der Welt. Staunend hat der Gefolterte erlebt, daß es in dieser Welt den anderen als absoluten Herrscher geben kann, wobei Herrschaft sich enthüllte als die Macht, Leid zuzufügen und zu vernichten.“ (5)

Harry Rosina weist wiederholt auf die Kontinuität zwischen dem NS-Regime und der Zeit nach 1945 hin: keine Kontinuität der Verbrechen – der rassistische Vernichtungsantisemitismus endete mit der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus, aber eine weitreichende personelle Kontinuität in Form der „Übernahme fast des gesamten nationalsozialistischen Beamtenapparates in die Staatsdienste der Bundesrepublik Deutschland.“ (6) Ende der fünfziger Jahre „war fast die gesamte Funktionselite des Dritten Reiches wieder in gleichwertigen oder gar höheren Stellungen als in der Nazizeit.“ (7) Im Nachkriegsdeutschland herrschte der „große Friede mit den Tätern.“ (8)

Ganz anders dagegen die Situation der Überlebenden der Shoah: Nachdem etwa Jean Améry nach annähernd zweijähriger Lagerhaft Mitte April 1945 seine wundersame Befreiung vom NS erlebte, hatte er sich neu einzurichten in dieser Welt – einer Welt, die nichts wissen wollte von den Überlebenden des Holocaust und kaum bereit war, die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dessen Massenmorden einzubeziehen in die Überlegungen einer europäischen Nachkriegsordnung – eine der nachhaltigen Enttäuschungen nicht nur Jean Amérys.

Mit Schreiben versuchte er nach 1945 die Welt zu bewältigen. Als radikaler Aufklärer und linksorientierter Humanist bemühte er sich einer weitverbreiteten Schlußstrich-Mentalität und dem Verdrängen des Zivilisationsbruchs Auschwitz anhaltendes Erinnern an die Verbrechen der Deutschen während 1933 und 1945 entgegenzuhalten – zumeist vergebliche Erwartungen, denen er sich schließlich, wie Paul Celan, Peter Szondi und Primo Levi, nicht länger aussetzen wollte, als er den ‚Weg ins Freie‘ fand.

Auch zwanzig Jahre nach seinem Freitod ist Jean Améry einer breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Es bleibt zu hoffen, daß die Lektüre der vorliegenden Broschüre zur Beschäftigung mit seinem Denken anzuregen vermag.

(1) Dan Diner: Zivilisationsbruch, Gegenrationalität, 'Gestaute Zeit'. Drei interpretationsleitende Begriffe zum Thema Holocaust. In: Hans Erler, Ernst Ludwig Ehrlich, Ludger Heid (Hg.): "Meinetwegen ist die Welt erschaffen". Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. Campus Verlag, Frankfurt / New York 1997, S. 513.

(2) Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Klett-Cotta, Stuttgart 1980, S.73; vgl. hierzu auch: Siegbert Wolf: Von der Verwundbarkeit des Humanismus. Über Jean Améry. Dipa-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S.64ff.

(3) Anm. 2, S.46ff. (Die Tortur)

(4) Ebd. S.50.

(5) Ebd. S.72.

(6) Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Rasch und Röhring, Hamburg 1987, S.96.

(7) Ebd. S.102.

(8) Ebd. S.11.