Hans Jaeger: Die Bibel der Anarchie. Gifkendorf, Merlin-Verlag, 1997, 446 S., 29,80 DM
Eine ganz prinzipielle Gegnerschaft zu Eigentum und Geld und das alte anarchistische Programm „jedem nach seinen Bedürfnissen“ spricht aus der jetzt deutsch veröffentlichten „Bibel der Anarchie“ des norwegischen Anarchisten Hans Jaeger (1854-1910).
Jaeger wurde 1885 berühmt als er seinen Roman Kristiania-Boheme veröffentlichte, der Sexualunterdrückung, Trennung der Geschlechter und heuchlerische „Moral“ als Ursache lebenslangen Unglücks behandelte und für freie Liebe und soziale Reformen eintrat. Der stark autobiographische Text wurde am Tag nach der Veröffentlichung beschlagnahmt, verboten, eingestampft und Jaeger zu einer Arreststrafe verurteilt. Das Buch galt als gotteslästerlich und obszön; der Autor wurde lebenslang von der Universität relegiert und seiner Arbeit als Parlamentsstenograph beraubt. Jaeger verließ Norwegen und ließ sich nach manchen Irrwegen 1982 in Paris als Versicherungsbeamter der „New York Life Insurance Company“ nieder. Hier lernt er, kafkaeske Situation, das Geld hassen – und anarchistische Theorien und Aufrufe kennen. In Kopenhagen erscheint zuerst 1906 seine Bibel der Anarchie, kein Verkaufserfolg und kein Gegenstand staatlicher Repression. Die Predigt gegen Werte, die doch alle heiß begehren, erschien wohl nicht gefährlich, und auch Jaegers Zeitungen Korsaren (1907) und Revolten waren nur kurzlebig.
In einer Zeit, in der gegenüber dem Entstehungsjahr des Buches (1906) der Handel mit Derivaten und Optionen, die Standortkonkurrenz und globalisierte Produktion die Diktatur des Kapitals noch unvorstellbar verschärft haben, wird die Kritik daran eher matter, eine Alternative immer weniger vorstellbar. So ist Jägers Philippika als ein Versuch zu lesen, scheinbare Selbstverständlichkeiten nochmals distanziert zu betrachten und zu fragen, ob es denn so sein muß. Übrigens ist das Buch vorbildlich gedruckt und gebunden und ansprechend gestaltet, auch dies in den Zeiten der Kostensenkung und der „schnellen Mark“ alles andere als selbstverständlich.
Das große Thema dieses Buches ist, daß das ganze Leben der Menschen zu einer ausweglosen Qual wird durch das Privateigentum und die Diktatur der „Geldpeitsche“. Der Abstand zwischen den Möglichkeiten, ein reiches, produktives und befriedigendes Leben zu erreichen, wie es in den Träumen und Hoffnungen existiert, und der zermürbenden, auf ein zwanghaftes und elendes Vegetieren eingestellten Realität wird in zahllosen Variationen und für verschiedene Gesellschaften, zum Teil etwas langatmig, entwickelt. Alle Segnungen der Zivilisation führen in immer ausweglosere Verdammnis, in die Idiotie gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen der größte Reichtum Arbeitslosigkeit, Hunger und nicht endenden Kampf ums Dasein produziert. Über dieser Welt thront der Gott Mammon und amüsiert sich köstlich. Dieser Satan diskutiert mit Gott, daß doch längst jeder Geistfunke aus den Menschen ausgetrieben ist, eine Revolte gegen die Idiotie des Kapitals ausgeschlossen, nur noch Wiederholung zu erwarten. Wäre es da nicht besser, eine neue Sintflut spülte das alles hinweg, „misch die Karten und gib sie neu, und laß uns eine Runde spielen … laß uns mit einem neuen Adam und einer neuen Eva beginnen, die du ein wenig besser ausstatten sollst, sonst wird das ganze viel zu langweilig.“ (S. 37) Es werden die Mechanismen diskutiert, wie die Eigentumslosen ihren Glauben an ein System bewahren, das sie unglücklich macht und wie sie einander im Reiche Mammons festhalten. Sogar die Fähigkeit, wütend zu sein über ihr ungelebtes Leben geht den Menschen verloren.
Gott aber gibt sich noch nicht geschlagen, beharrt darauf, daß der Funke der Revolte noch nicht erloschen ist und die Sintflut nicht der einzige Ausweg. Eine neue, anarchistische Zivilisation kann entstehen; zum Ende der Streitschrift wird dabei sogar dem Parlamentarismus eine gewisse Propagandafunktion zugewiesen. Und Gott verheißt dem Satan Mammon nach seinem langen Monolog über die Schrecken der Geldwirtschaft, daß das Ende nahe ist, die Anarchisten (es sind hier Männer; „zielbewußt wie ein Mann zusammenstehen“ gehört zu den Hoffnungen der Arbeiterbewegung bei Jaeger) sich öffentlich zeigen werden und das Evangelium der Eigentumslosigkeit und einer herrschaftslosen Zivilisation sich nach dem Schneeballprinzip verbreitet und zum Schluß als reißende Lawine die alte Ordnung hinwegfegt. Der Teufel bleibt irritiert zurück und fragt sich, ob der Alte auch diesmal die Wahrheit geweissagt hat. Dieser aber ruft den ehemaligen (von 1875 bis 1887) entlassenen Parlamentsstenographen Jaeger zu sich, um ihm das Gespäch zu diktieren, das nur dadurch und jetzt schließlich durch die Veröffentlichung des Merlin-Verlages auf uns arme Tänzer ums goldene Kalb gekommen ist.
Da das Buch nicht ohne Wiederholungen auskommt, sollte man sich vornehmen, immer zu Wochenanfang ein Kapitel zu lesen und den weltfremden Blick auf den Geldpeitschen-Alltag möglichst lange beizubehalten.