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Im Pool der Möglichkeiten geplanscht

Zwei Bücher, die "1968" feiern und nicht das 30jährige Dienstjubiläum der Revolte

| Johannes von Hösel

Lutz Schulenburg (Hrsg.): Das Leben verändern, die Welt verändern. 1968 Dokumente und Berichte. Edition Nautilus, Hamburg 1998, 470 S., 39,90 DM

Paco Ignacio Taibo II: 1968 - Gerufene Helden. Ein Handbuch zur Eroberung der Macht. Verlag Libertäre Assoziation und Verlag der Buchläden Schwarze Risse/Rote Straße, Hamburg/Berlin 1997 160 S., 24 DM

„Wenn wir, wie ich eben, beim Auf- und Abgehen eine Spinne, die an der Wand auftaucht, mit Zigarettenrauch beblasen, versuchen wir, sie zu vergasen. Ein Sohn Martin Heideggers, las ich heute, ist Oberst im Bonner Verteidigungsministerium. Das ist die andere Möglichkeit“

Bernward Vesper, Die Reise

Im Familienalbum gibt es ein Foto von meinem Vater, wie er als Jungingenieur bei Krupp Reza Pahlewi, den Schah von Persien, durch den Betrieb führt. Vermutlich um ihm das Aktienpaket schmackhaft zu machen, das der iranische Staat auch heute noch an Krupp hält. Als der Schah einige Jahre später, Ende Mai/Anfang Juni 1967 die BRD besucht, tritt der Prozeß offen zu Tage, den Agnoli/ Brückner als die „Transformation der Demokratie“ beschrieben haben. Bekanntlich wird auf der Gegendemonstration vor der Berliner Oper der Student Benno Ohnesorg erschossen.

Es gibt eine ganze Reihe von Büchern, die pünktlich zum Jahrestag der Revolte von 1968 solche historischen Einschnitte mit jenen persönlichen Ausschnitten aus den Fotoalben und Tagebüchern kombinieren und zur Nostalgieproduktion anbieten. Zwei davon, die zumindest dem Anspruch der Autoren nach auch noch zu anderem taugen sollen, seien hier vorgestellt. Was insbesondere die bei Edition Nautilus erschienene Sammlung von Berichten und Dokumenten zum Jubiläumsdatum und das Buch des mexikanischen Autors Paco Ignacio Taibo II meines Erachtens lesenswert macht, ist zweierlei: Zum einen die fröhliche Unverbesserlichkeit, mit denen die beiden Herausgeber die Aktualität von 68 behaupten und mit der sie das – nennen wir es ein weiteres mal – „Gespenst der Freiheit“ lebendig halten wollen. Um sich ein Bild machen zu können, wie an den verschiedensten Orten der Welt der große Spuk des Aufbruchs beflügelt wurde, bieten – zweitens – beide einige schöne und tiefere Ansichten.

„Rebellion ist gerechtfertigt“

Daß Rebellion gerechtfertigt sei, ist die Botschaft, die Nautilus-Verleger Lutz Schulenburg bei seiner Zusammenstellung in erster Linie rüberbringen will. Aus den vier Jahren von 1966 bis 1969 hat er Texte zusammengestellt, die zusammen einen Werkzeugkasten für eine „revolutionäre Perspektive“ bestücken sollen. Auch wenn Pamphlete, Flugblätter und Analysen von allen möglichen Orten der weltweiten Revolte hier versammelt sind, am zugänglichsten sind doch die, mit denen mensch vorher schon etwas verbindet. Daran zeigt sich gleich zu Beginn der Leseerfahrung eine schwäche der Kompilation, die als Stärke ausgegeben wird: Um sich einer Bewertung der verschiedenen Strömungen zu enthalten, verzichtet Schulenburg vollständig auf die Kommentierung der ausgesuchten Texte. Das macht die Einordnung nicht gerade leichter, und nimmt dem Abgedruckten sogar teils die Sprengkraft. Ohne einen Einblick in die politische Praxis der Black Panther Party beispielsweise, wirkt die feierliche Erklärung zu deren Frühstücksprogramm schon fast lächerlich. Oder warum streiken französische Fußballer und italienische FIAT-Arbeiter und was haben sie gemeinsam und was nicht? Gefüllt mit Dingen, die sicherlich irgendwie nützlich sind, ist das Buch in dieser Beziehung zu sehr Werkzeugkasten: Gezieltes, lösungsorientiertes Drin-Rumkramen ist so gut wie aussichtslos. Eine wahre Fundgrube allerdings ist die Sammlung für Wiedererkennungen. Aufschlußreich und wirklich lustig zu lesen sind zum Beispiel die hier dokumentierten „Angaben zur Person“. Was von Rainer Langhans/ Fritz Teufel einerseits und Hans Jürgen Krahl auf der anderen Seite da zu Gerichtsprotokoll gegeben wurde, ist so symptomatisch für die zwei Stränge der Revolte in Deutschland. Idealtypisch vertreten durch Kommune 1 bzw. SDS, bleibt die „rebellische Subjektivität“ (Marcuse) auf der einen Seite ebenso historische Position wie die Rede von der „antiautoritären Phase“ auf der anderen. Sie beide gehören dem großen Scheitern an, dem sie mit dieser Veröffentlichung noch einmal abgetrotzt werden sollen. Was wir nun aber damit anfangen, ist die große Frage. Denn nichts wird klarer bei der Lektüre, als daß wir heute in einer völlig anderen Zeit leben. Und ob Geschichtsbücher als Schlüssel für heutige Kämpfe und intellektuelle Abwehrschlachten von Nutzen sein können, wird sich wie immer zeigen. Als Pool von Möglichkeiten eines antikapitalistisch veränderten Lebens taugt das symbolische 1968 allemal, und das auch ganz handfest: Ohne 68 kein Neoanarchismus, keine neue feministische Bewegung, keine Gegen- oder autonomen Medien, keine graswurzelrevolution (und nichts von dem, was daran hing und hängt).

„Bulldozerschaufelweise Sehnsucht“ häuft Mythen an

Vor dem großen Scheitern war natürlich diese großartige Zeit, kulturrevolutionär bis in die letzten Artikulationsformen, von dem beide Bücher einen Eindruck vermitteln wollen. Oder war ’68 doch nur einer dieser krisenausbügelnden Modernisierungsschübe?

Aus dem Dilemma der Entscheidungsfähigkeit eine Tugend zu machen, geht zum Beispiel ganz gut damit, die Grenze zwischen Realität und Fiktion zu einer „künstlichen“ zu erklären. Um sich dann in wagemutigen Überschreitungen zu üben, und einfach drauf los zu erzählen. Von dem Entschluß beispielsweise, nie wieder Hesse zu lesen, von Schreibmaschinenfarbbändern, die, weil sie schwarz-rot waren, um Institutsmauern gewickelt wurden. Und von tausend liebenswerten Kleinigkeiten, die Notizbücher und Erinnerungen der historischen Niederlage abgeluchst haben. Paco Ignacio Taibos Buch besteht aus zwei Teilen, einem Erfahrungsbericht und einem Roman.

Man muß schon, wie Paco Ignacio Taibo II, MexikanerIn sein (oder französisch, keinesfalls deutsch), um bei all dem zu resümieren, die StudentInnenbewegung bedeutete vor allem „das Zurückgeworfensein einer Studentengeneration in ihre eigene Gesellschaft“. In Mexiko hatte es auch keinen Holocaust gegeben, der die sogenannte Rückeroberung einer nationalen Geschichte von vornherein zu dem Antirevolutionären schlechthin hätte machen können. Der Völkermord an den UreinwohnerInnen zählt nicht zur Geschichte der mexikanischen Nation. Er gehört zumindest nominell als mahnender, kollektiver Schmerz zur Kolonialgeschichte. Die These von 1968 als einem globalen Generationenkonflikt zerfällt hier an den Tatsachen: Der Abgrenzung von der Generation der Väter in Deutschland steht krass die Aneignung des Vaterlandes in Mexiko entgegen.

Als das mexikanische Militär im Vorfeld der Olympischen Spiele über 400 StudentInnen nach 123 bewegten Tagen auf dem ‚Platz der drei Kulturen‘ massakriert, endet auch Taibos spannender Erfahrungsbericht. Was dann kommt, ist die blutige Rache und doch nur ein kurzer Roman mit dem Untertitel „Handbuch zur Eroberung der Macht“: Zum Glück kehrten die kenyanischen Mau-Mau-Krieger früh genug von ihrem Touri-Trip aus Teotihuacan zurück. So konnte Nestor doch noch den Umsturz mit den anderen gerufenen Helden organisieren. Mit von der Partie sind allerlei jugendgeliebte Mannsbilder, von Sandokan bis Winnetou, Sherlock Holmes an der Seite von Wyatt Earp und Doc Holliday. Wir werden ZeugInnen ihrer Anreise nach Mexiko-Stadt, und bekommen währenddessen anhand von Briefen dokumentiert, wie es zu Nestors Hilferuf kam. Das mexikanische 1968 ist auch und, je weiter fortgeschritten die Jahreszeit, vor allem eine Repressionsgeschichte. Für so ein Handbuch läßt sich natürlich auch die Macht nicht ohne den König denken, wie Foucault anriet. Daß der Hund von Baskerville (oder einer seiner Nachfahren) dem Präsidenten gezielt an den Hals fällt, nützt insofern also gar nichts. Schafft aber den Geschlagenen außer Genugtuung auch den Freiraum, zurückzukehren. In die verlorene Geschichte, die Geschichte als den von der regierenden „Partei der institutionalisierten Revolution“ besetzten Ort. Was die Texte vom „Aktionsrat zur Befreiung der Frau“ aus Schulenburgs Lesebuch und Taibos Mythologisierungen gemeinsam vermitteln können, ist jedenfalls der Ansatz einer emanzipatorischen Kritik, die aus der Veränderung des Lebens entwickelt wird.