Bernd Drücke: "Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht?" Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland. Ulm 1998, Verlag Klemm und Oelschläger, 640 S., 59,80 DM
Es gibt wohl nur wenige politische Strömungen, die wider besseres Wissen mit so hartnäckigen Klischees behaftet sind, wie der Anarchismus. Dagegen, daß Anarchie nicht Terror und Gewalt bedeutet, streut diese Zeitung allmonatlich ihren publizistischen Kiesel ins Getriebe der öffentlichen Meinungsmache. Chaos und blinder Aktionismus sind zwei ebenso beliebte Ressentiments, die in Form und Inhalt schon lange nicht mehr so gründlich widerlegt werden konnten, wie in der vorliegenden Studie zur libertären Presse in Deutschland. „Ich denke“, schreibt der anarchistische Autor und Verleger Uli Klemm, „daß diese Arbeit als ‚Steinbruch‘ noch vielen Anarchismus- Studien in den kommenden Jahren nützlich sein wird. Sie wird, so hoffe ich, in die Geschichte der deutschen Anarchismus-Forschung als ein ‚Meilenstein‘ eingehen.“ Und diese Hoffnung ist nicht unbegründet. Denn hier ist tatsächlich ein Brocken erschienen, der sämtliche libertären Verstreuungen zusammenfaßt und gliedert, und so nicht bloß ein an „Wir über uns“-Diskursen interessiertes Publikum zu beglücken imstande ist.
Der Anarchist Bernd Drücke beschäftigt sich in seiner soziologischen Dissertation mit dem, was heutige AnarchistInnen (als AnarchistInnen) vermutlich am meisten tun: Papier beschriften, zusammenheften und verbreiten. Insgesamt 484 (!) Zeitungen und Zeitschriften hat der Soziologe nicht nur gezählt, sondern auch zu einem großen Teil ausgewertet. Die infolge der Studierenden-Revolte von ‘68 erschienenen Blätter und Periodika werden dabei eingeordnet in die Geschichte des Anarchismus und seiner Presse. Im Gegensatz zu den klassenkämpferischen Druckerzeugnissen aus der Zeit des Kaiserreiches und der Weimarer Republik hat die anarchistische Gegenwartsliteratur mehr den gesellschaftlichen Reproduktionsbereich und die teilnehmende Berichterstattung aus den Neuen Sozialen Bewegungen zum Thema. Von den Kämpfen gegen die Atomenergie über antirassistische, feministische und antiimperialistische Auseinandersetzungen bis hin zu kulturtheoretischen und anthropologischen Positionen, bietet Drückes Arbeit einen detaillierten Einblick in die verschiedensten Debatten des Gegenwartsanarchismus. Wer oder welche z.B. den Vorläuferband zur anarchistischen Presse von Holger Jenrich zum Vergleich nimmt, wird in mehrerlei Hinsicht positiv überrascht sein. Drücke ist Teil der Strukturen, über die er schreibt und verdankt nicht zuletzt diesem Tatbestand seine intensive, vielseitige und genaue Recherche. Eigentlich alles, was dem Buch des heutigen taz-Sportjournalisten Jenrich, der sich dem A-Blätterwald vor 1985 gewidmet hatte, gefehlt hat, liefert Drücke nach. Daß er beispielsweise auch „autonome“ Druckerzeugnisse wie radikal, Interim oder UnZensiert mit aufgenommen hat, entspricht sicherlich den realen inhaltlichen Überschneidungen in den verschiedenen libertären Szenerien.
Nun ließe sich vielleicht doch fragen, was eine solche Studie eigentlich interessant macht für Leute, die nicht in subversiven Zirkeln oder beim Verfassungsschutz aktiv sind? Eingeleitet wird die Besprechung der verschiedenen, nach Erstveröffentlichung sortierten Publikationen jeweils mit einem Überblick über die politischen, nicht nur szenerelevanten Ereignisse des jeweiligen Jahres. So ergibt sich für den Untersuchungszeitraum (1985 bis 1995; für die Buchveröffentlichung aktualisiert bis Juli 1998) eine ungewöhnliche und leider selten gewordene Art von Zeitgeschichte – in etwa das, was sich früher „Geschichte von unten“ genannt hätte. Drücke spart nicht mit Hin- und Verweisen, die belegen, daß hier – trotz oft geringerer Auflagenstärke – nicht über ein Phänomen wie die Dackelzüchterpresse verhandelt wird (Ein Vergleich, der vom momentan wohl auflagenstärksten deutschsprachigen Anarchisten Horst Stowasser stammt). „Dem Anarchismus“, heißt es also im Resümee, „kann innerhalb des Spektrums der Ideengeschichte der Rang einer belebenden und oft progressiven Kraft nicht abgesprochen werden“.
Vielleicht bringt mich böserweise gerade Stowasser auf den ersten meiner beiden Nachschübe, die manche für überflüssig oder sogar langweilig erachten mögen, die aber zum Klischee spielenden Anfang der Rezension gehören: Bernd Drücke widerlegt mit seiner Arbeit vor allem auch zwei ziemlich haltbare anti-libertäre Vorurteile: Friedrich Engels schrieb einmal über den Anarchisten Bakunin, dieser habe von sozialer Revolution keine Ahnung, sondern nur deren politische Phrasen verstanden. Daß MarxistInnen dem Anarchismus seine Theoriedefizite vorwerfen oder ihn deshalb nicht ernstnehmen, ist seitdem eine beliebte Diskursfigur. In der anarchistischen Theorieproduktion hat es sicherlich immer auch genug Anlässe für die permanente Reproduktion dieser Figur gegeben. Mit Drückes Arbeit raunt es aus der libertären Schriftzunft dagegen nun eindeutig: Wir können auch anders! Denn eingebunden ist die ganz und gar nicht chaotische Fleißarbeit außer in Pappdeckel noch in soziologische Theorie. Und zum anderen widerlegt er ein weiteres Mal die verbreitete Annahme, politische Parteilichkeit sei nicht nur unredlich, sondern könne auch den Ansprüchen nicht gerecht werden, die eine proklamierte Wissenschaftlichkeit verlangt. Die Detailverliebtheit und Genauigkeit auch bei vermeintlichen Nebensächlichkeiten ist hier vielmehr der Verbundenheit zum Gegenstand zu verdanken. Diese Arbeit hätte kein/e Nicht-AnarchistIn besser (oder überhaupt) schreiben können.