transnationales

Migration und transnationale Solidarität

Ein GastgeberInnenrecht allein rüttelt nicht an den globalen Fluchtursachen

| Johann Bauer

Daß die Kluft zwischen den Reichen und den Habenichtsen dieser Weit immer größer wird und alle Versprechen, durch „Entwicklung“ werde sie geringer, falsch sind, wird jedes Jahr durch die Statistiken der Vereinten Nationen unterstrichen. Wenn der „Human development report“ vorgestellt wird, zerdrückt der Sensationsreporter, der sonst sein Brot mit Berichten über „kriminelle Asylanten“ verdient, eine Krokodilsträne und bejammert das Elend der Welt – weil es einmal dem eigenen Interesse abträglich werden könnte.

Zwanzig Prozent der Weltbevölkerung konsumieren 86 Prozent aller weltweit produzierten Güter, sie reisen als Pauschaltouristen zu Preisen in alle Welt, die manchmal unter denen liegen, die sie im gleichen Zeitraum auch zuhause für Miete, Ernährung usw. zu zahlen hätten. Und wenn einmal jemand die ökologischen Probleme des Flugverkehrs zum Thema machen und das subventionierte Kerosin besteuern möchte, so wendet sich eine kompakte Majorität gegen solch volksfeindliches Gerede. Und das Gesetz schützt den Staatsbürger gegen die, natürlich illegalen – dafür haben wir ja das Gesetz – Einwanderer aus, sagen wir, Bangladesch. Der Treibhauseffekt wird in absehbarer Zeit große Teile dieses Landes unter den steigenden Wasserspiegel des Meeres drucken und so große Fluchtbewegungen auslösen. Der Treibhauseffekt wird auch sauberes Trinkwasser weltweit weiter verknappen, nach Schätzungen der UNO könnten im Jahre 2050 bis zu 2,5 Milliarden Menschen Mangel daran leiden.

Die Weltgesellschaft wird Wirklichkeit als Weltklassengesellschaft; Soziale Normen, Konsumgewohnheiten, Leitbilder gleichen sich tendenziell international an; für die Eliten weitgehend, für die Jugendlichen stärker als für ältere Generationen. Den Lebensstil der reichsten Länder zu zeigen markiert in den Ländern der Peripherie Macht- und Statusdifferenzen. Die regionalen Kulturen und nationalstaatlichen Grenzen werden durch weltweit operierende Kapitalgesellschaften, durch globale Geld- und Warenströme, den Zugriff auf Ressourcen aller Art bis zu den Genen entgrenzt. Dabei werden jedoch Nationalstaaten nicht etwa überflüssig. Nach wie vor garantieren sie Eigentum, Recht, das Geld, politische Loyalität, staatsbürgerliche Identität. Die elektronischen Medien vereinheitlichen international Wertvorstellungen, Konsummuster und Konzeptionen des“guten Lebens“. Tatsächlich sind dadurch Menschen in Konkurrenzverhältnisse zueinander gebracht worden, die vorher durch eiserne Vorhänge und Kontinente getrennt waren. Durch weltweite Kommunikation und Transportsysteme sind sie als „Kostenfaktoren“ vergleichbar geworden. Regionen, die als „Standorte“ nicht attraktiv sind oder sogar gefährlich, werden abgekoppelt, aus der Kommunikation ausgeschlossen, die dort lebenden Menschen ihrem Schicksal überlassen. Auch innerhalb der getrennten Staatsgesellschaften verschärfen sich die Gegensätze von Gewinnern und Verlierern solcher Prozesse. Ökologische und soziale „Kosten“ des Reichtums der Metropolen werden häufig der Peripherie auferlegt oder dort zuerst sichtbar. Eine Folge der „Globalisierung“ sind Wanderungs- und Fluchtbewegungen. Wo alle Waren mobiler werden, gilt dies auch für die Ware Arbeitskraft. Wo alle Hemmnisse der Bereicherung beseitigt werden, werden auch Menschen vertrieben, die als Hindernisse angesehen werden, Wo die Konkurrenz sich steigert, wo um knappe Ressourcen oder vermutete Bodenschätze gekämpft wird, da wird für Menschen schnell der Boden zu heiß. Wo Zugehörigkeit zu einer „Ethnie“, „Rasse“ oder einem „Volk“, einer Religion oder einem Geschlecht über Lebenschancen wenn nicht gar über Leben und Tod entscheiden, da bleiben für die Ausgeschlossenen und Unterlegenen oft nur Fluchtwege offen. Fluchtbewegungen sind in jedem Falle ein Politikum; sie sind Protest und Interessenvertretung angesichts drohender oder schon eingetretener Verelendung und Verfolgung oder angesichts besserer Möglichkeiten anderswo.

Ganz überwiegend ist dies zunächst „Binnenwanderung“: Vom Land in die Städte, von unsicheren Regionen in sichere, aus ökologisch zerstörten Gebieten in die nächstgelegenen Auffanglager internationaler Hilfsorganisationen. In den Metropolen wird gerne übersehen, daß es die armen Länder sind, die die meisten Flüchtlinge auffnehmen und versorgen. Das Überwinden nationalstaatlicher Grenzen ist nicht überall schwierig; wo künstliche, koloniale Definitionen Nationalstaaten abgrenzen, oft naheliegend. Schwieriger sind schon Sprachgrenzen und kulturelle Unterschiede für Flüchtlinge zu überwinden.

Den Weg in die Metropolen schaffen nur relativ wenige, sehr bewegliche und häufig relativ wohlhabende Gruppen sowie ihrer Region ohnehin Entfremdete oder besonders weitreichend verfolgte Gruppen. Aber „es kann nicht verwundern, daß die Herausbildung einer universell attraktiven, aber nicht universell verallgemeinerbaren Lebensweise (…) diejenigen Regionen zu Attraktionspolen für Migrationsstrategien macht, wo diese Lebensweise und nicht zuletzt die damit assoziierten Systeme sozialer Sicherung relativ allgemein zugänglich geworden sind.“ (1) Kößler beschreibt sehr richtig, wie problematisch die Abgrenzung verschiedener Formen der Migration ist. Auch „Flucht“ wird von der Hoffnung auf ein besseres Leben motiviert. Viele Fluchtgründe und Ursachen der Wanderungsbewegungen gibt es: ökonomische Verelendung und „Naturkatastrophen“, die durch Herrschaft verursacht sind, Krieg und staatliche Unterdrückung, gesellschaftliche Diskriminierung. Ist es nicht auch verständlich, Staatsapparaten zu entfliehen, die sich in einander bekämpfende oder korrupte Gruppen auflösen? Oft lassen sich Gründe der Migration kaum gegeneinander abgrenzen. Vor dem Entschluß zur „endgültigen“ Migration steht oft die situationsbedingte Arbeitssuche oder eine Ausreise, die durchaus die Rückkehr einplant.

Die Wohlstandsinseln versuchen sich gegen die Ausgeschlossenen abzuschotten, von der rechtlich-politischen Verschärfung von Zugangsbedingungen. bis hin zu tatsächlichen Mauern und elektrischen Zäunen und der Fahndung nach „Illegalen“ nicht nur an den Grenzen. Je bessere Mobilitätschancen zur Verfügung stehen, desto schärfer werden die Maßnahmen, die Ausgeschlossenen auch tatsächlich „draußen“ zu halten.

Der Globalisierungsprozeß schafft „Fremde“ in einem nie zuvor gekannten Umfang. Die Möglichkeiten von Menschen, ihr Leben zu planen, eine einigermaßen gesicherte Zukunft vor sich zu sehen, sich selbst zu versorgen sind überall bedroht; auch in den Metropolen nehmen die Marginalisierten zu. Häufig ist die Antwort auf bedrohliche Unsicherheiten der Appell an den Staat, der schützen soll und seinen Bürgern allein qua Staatsbürgerschaft gewisse Garantien verspricht. Der Nationalstaat wird gerade von Gruppen, die selbst von sozialem Abstieg und internationaler Konkurrenz bedroht sind oder das glauben, als territorial definierte Schutzmacht verteidigt. Er soll auf seinem Staatsgebiet Lebenschancen stabilisieren und die Zahl der Berechtigten nicht so groß werden lassen, daß das Ziel sozialstaatlicher Absicherung zu teuer oder gefährdet werden könnte. Im Tausch gegen Loyalität („Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“), soll der Staat materiellen Wohlstand garantieren. Dies entspricht der historischen Entwicklung der Staaten, erkämpft von den sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Politische Teilhabe (aber gegen Loyalität), soziale Sicherung (aber nur für die Zugehörigen). Staatsgesellschaften definieren, daß nur Bürger dieses Staates der minimalen „Sozialverpflichtung“ teilhaftig werden, die dem Kapital auferlegt wird. Die territorial-staatsbürgerliche Abgrenzung verhindert zugleich, sich mit dem Elend der Welt zu konfrontieren und sich dafür verantwortlich zu fühlen. Die Ausgrenzung von Armutsflüchtlingen ist im Sinne einer Standortkonkurrenz konsequent und entspricht materiellen Interessen. Das Umzuverteilende sollte für die staatsbürgerlich Zugehörigen reserviert bleiben. Gerade in der Bedrohung des Steuer- und Wohlfahrtsstaates durch die Möglichkeiten, Kapital abzuziehen, den „Standort“ stillzulegen, den reformistisch-fordistischen Konsens eines „Modell Deutschland“ zu kündigen, erscheint jenes Modell besonders erhaltenswert. Auch in den reichen Industrieländern wird dieses Modell jedoch demontiert, und der politische Diskurs geht nur darum, ob das nicht schnell und radikal genug getan wird (wie im Modell Thatcher und unter Reagan in den USA) oder ob gerade die „Sozialpartnerschaft“ als ein so wertvolles Kapital und ein wichtiger Standortfaktor zu begreifen ist, daß sie gepflegt werden sollte. Noch der Wahlslogan der SPD wies ja darauf hin, es gäbe in Deutschland viele schöne Plätze (Naturfoto dahinter), aber das schönste seien doch Arbeitsplätze. Heimatverbundenheit auf den Begriff gebracht – aber haben die Verfasser solcher Slogans schon einmal einen der Arbeitsplätze gesehen, an denen Millionen Gesundheit und Glück geraubt werden? Aber wohin auswandern? Der soziale und ökonomische Druck verhindert jeden Gedanken an Sinn und Verteilung und Gestaltung dieser „Arbeit“, die Selbstzweck der Selbsterhaltung geworden ist.

In der Krise und unter den Bedingungen hoher Arbeitslosigkeit und schneller Verarmung der Abgekoppelten, klammern alle von sozialem Abstieg bedrohten sich an ihre Zugehörigkeiten und Sicherungen. Und je weniger man wagt, gegen die Strukturen zu opponieren, je stärker diese als „natürlich“ und ohne Alternative gesehen werden, desto schärfer wird der Kampf gegen Mitbewerber, Naturkatastrophen wie die „Asylantenflut“. Der Staat wiederum findet in den Außenseiter-Gruppen Sündenböcke, die er für seine Zwecke geradezu ideal instrumentalisiert; Angst vor Kriminalität? vor Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, Fremdheitsgefühle gegenüber sich schnell verändernden sozialen Situationen können auf die unerwünschten Fremden zurückgeführt werden. Die Krise des Steuerstaates und der sozialen Sicherungssysteme wird diesen angelastet, das Loyalitäts“wir“ der Staatsbürger gegen „sie“, die Fremden verstärkt. Bis zu offen rassistischer Verfolgung und der Bereitschaft, sich mit militärischen Mitteln der Migranten zu erwehren, geht diese in allen Ländern stärker werdende chauvinistische Position. In allen reichen Industriestaaten hat sich diese Haltung im letzten Jahrzehnt verstärkt. Es wird keineswegs über die Situation von Menschen diskutiert, die in die reichen Länder einwandern wollen, sondern es werden fortgesetzt rechtliche und polizeiliche Strategien verfeinert, den „Mißbrauch“ zu bekämpfen. Und die symbolischen Formen Nicht-Zugehörigkeit auszudrücken (Warengutscheine statt Geld für nicht anerkannte Asylsuchende) werden verfeinert. Daß in Wirklichkeit aber Zwangslagen bestehen bleiben, die das politisch-juristische System ignorieren möchte, drückt sich in den steigenden Zahlen von „de facto“-Flüchtlingen aus, die keine Asylberechtigten sind, aber aus anderen Gründen nicht abgeschoben werden dürfen und also „geduldet“ werden. Aber auch deren Situation wird stetig verschlechtert – weil es sonst zu viele worden.

Aber es gibt auch solidarische Großzügigkeit in vielen Ländern. Es gibt viele Menschen, die sich für die Flüchtlinge einsetzen, sogar mit Handlungen, die „ihr“ Staat als „illegal“ definiert. Die Grundlage ihrer Solidarisierung kann höchst unterschiedlich sein: christliche Nächstenliebe oder andere religiöse Überzeugungen, daß jeder Mensch das Ebenbild Gottes ist, ein humanistischer Glaube an das gleiche Recht aller Menschen, ohne Angst vor Verfolgung zu leben, persönliches Interesse an bestimmten verfolgten Menschen, die prinzipielle Verneinung staatlicher Grenzen und wohlfahrtschauvinistischer Abschottung. Auch bestimmte internationale Normen tragen dazu bei, daß es nicht mehr ganz einfach ist, die Elenden ihrem Schicksal zu überlassen oder auch Menschen, die für sich ein besseres Leben suchen, abzuweisen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention sind hier vor allem zu nennen. Da die Genfer Konvention weniger als der Artikel 16 GG auf „politisch“ Verfolgte abhebt, die Asyl genießen, sondern den Schutz derer in den Mittelpunkt stellt, die „begründete Furcht“ vor Verfolgung haben, erfaßt sie immerhin mehr Fluchtgründe als das – zumal hinweg“reformierte“ – Asylrecht. Aber angesichts der Weltprobleme, die Fluchtursachen sind und die sich wahrscheinlich noch verschärfen werden, ist die bisherige Praxis und der theoretische Rahmen der Diskussionen häufig zu eng. Die Tendenz der Ausgrenzung und Abschottung muß vielmehr umgekehrt werden, daran sollten wir festhalten, auch wenn sogar viele von denen, die gegen die Änderung des Asylrechts waren, das allmählich stillschweigend akzeptieren. Dabei sollten allerdings nicht die Schwierigkeiten und Probleme leicht abgetan werden, die einer Ausdehnung transnationaler Solidarität im Weg stehen (viele habe ich oben angedeutet). Alle Probleme sollten dabei offen ausgesprochen werden; so finden wir am ehesten eine überzeugende Konzeption. In der letzten Graswurzelrevolution hat Jan Stehn einen Ansatz vorgestellt, der sich manchen offenen Fragen stellt und einen konstruktiven Vorschlag macht (2). Ich will nun einige Einwände und Ergänzungen zu dieser notwendigen Diskussion beitragen, in der Hoffnung, daß auch andere ihre Sichtweisen und Vorschläge äußern.

Meiner Ansicht nach ist es, auch wenn die meisten Menschen in „meiner“ Gesellschaft das nicht gerne hören, schlichtweg inakzeptabel, daß sie sich selbst Rechte und Lebenschancen sichern möchten, die sie anderen nicht zugestehen. Wer die ganze Welt zu Billigpreisen bereisen will, darf nicht die Einreise der „Besichtigten“ hier unterbinden wollen. Wer gar Waren und Waffen in andere Länder schickt, darf nicht auch noch die Opfer dieser Prozesse, die sich vor den Waffen in Sicherheit bringen wollen, als Störfaktoren ausgrenzen. Die weltweite Angleichung von Lebenschancen ist unverzichtbar. Das ist die prinzipiell-moralische Seite. Demgegenüber geht Jan Stehn im Guten (viele Menschen helfen Flüchtlingen in großen Kampagnen und im privaten Bereich) wie im Bösen (kein geringer Teil der Menschen in unseren Gesellschaften will diese gegen Flüchtlinge abschotten, will selbst nicht an Zahlungen für diese beteiligt werden usw.) von den Konflikten in Deutschland aus und macht einen Vorschlag für einen gesellschaftlichen Kompromiß: Die alte Institution des GastgeberInnenrechts soll Menschen berechtigen, Flüchtlinge aufzunehmen, wenn für dessen Unterkunft und Verpflegung gesorgt wird. Damit würde potentiell jeder Einheimische ermächtigt, einem anderen Menschen Asyl zu gewähren und die tatsächliche gesellschaftliche Bereitschaft zur Solidarität statt abstrakten staatlichen Quoten wäre die Grenze der Aufnahmefähigkeit. Ansätze in dieser Richtung gibt es. Beispielsweise wird Jugendlichen aus Bosnien, die zunächst ausreisen sollten, in Hannover von der Ausländerbehörde eine Ausnahmegenehmigung erteilt, bis zum Abschluß ihrer Ausbildungen in Deutschland zu bleiben, wenn Spender die Kosten des Aufenthalts übernehmen. Schlimm genug, daß sie eigentlich ausreisen sollten, schlimm genug, daß es nicht einfach war, ein Bleiberecht durchzusetzen. Aber erfreulich war die öffentliche Resonanz und die Hilfsbereitschaft von „Paten“, Gastfamilien und Sponsoren (Haz vom 11.09.98).

Ich fürchte jedoch, daß in aller Regel die gutwilligen Menschen in dieser Gesellschaft zu sehr belastet sind, um individuell diese Verantwortung in einem dem Problem angemessenen Umfang auf sich nehmen zu können. Das fängt damit an, daß abhängig Beschäftigte an Steuern und Sozialabgaben soviel zahlen müssen, daß sie kaum in der Lage sind, solch ein Gastrecht auszuüben. Mindestens müssen also (immanent betrachtet) auch staatlich eingezogene Zwangsabgaben dann in einem angemessenen Verhältnis bei den solidarischen Bürgern belassen werden. Aber müßte das dann nicht auch in anderen Fällen geschehen, daß den Bürgern einzuräumen wäre, selbst zu entscheiden, wofür ihr Geld ausgegeben wird? Alle Ansätze in dieser Richtung sind für den Steuerstaat unakzeptabel; es dürfte schwierig sein, auch nur eine Steuerermäßigung durchzusetzen.

Unter den gegebenen Bedingungen ist leider die Gruppe, die – aus welchen Gründen auch immer – einen „Gast“ aufnimmt und sich dies finanziell leisten kann, klein – und u.U. gesellschaftlich verdächtig, Gründe zu haben, die Jan Stehn und ich vielleicht nicht zu den besten zählen würden. Es dürften auch die individuellen Überforderungen schnell erreicht sein, wenn ein Mensch sich tatsächlich für einen Flüchtling einsetzt; es kann ja sehr viele Gründe für Traumatisierungen und Konflikte geben, und die dauerhafte Nähe und Verantwortung, die in Jan Stehns Vorschlag begründet ist, ist nicht leicht zu ertragen, besonders wenn man berücksichtigt, daß es ein kleiner Teil dieser Gesellschaft ist, der ohnehin ehrenamtlich sehr viele Probleme bearbeitet und die oppositionellen Strukturen aufrechterhält, die der Ausgrenzung und Ungerechtigkeit Paroli bieten sollen. Es gibt ja bereits Versuche des Staates, Leuten, die Flüchtlinge aufgenommen haben, dafür Kosten in Rechnung zu stellen. So fordert die Stadt Hannover 55000 DM von Heidi Lippmann Kasten (früher Grüne, jetzt PDS), weil sie einen 68jährigen Afghanen eingeladen und eine Bürgschaft für ihn übernommen hatte, damit er seinen Sohn besuchen konnte. Der Mann hatte ein Besuchervisum für drei Monate bekommen und stellte nach der Einreise einen Antrag auf Asyl, der abgelehnt wurde. Es entstanden auch Krankenhauskosten. Das Sozialamt der Stadt, offenbar angeregt durch Bonner Ausländerbehörden, die ein Exempel statuieren wollen, fordert nun von der Einladerin Geld. Es liegen mehrere ähnliche Fälle zur Entscheidung beim Bundesverwaltungsgericht. Die Politikerin ist bereit, einen Teil der Kosten zu tragen, allerdings nur für die ersten drei Monate. Wenn wir uns einmal überlegen, wieviele Menschen bei dem genannten Betrag schon deshalb zusammenzucken, weil er ihr Jahreseinkommen übersteigt, dann wird die Absicht dieser Verfahren schnell klar. Insofern bin ich der Ansicht, daß die unwillige Mehrheit, der Staatsapparat und vor allem die verursachenden Strukturen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden dürfen. Damit meine ich nicht, an sie zu appellieren und Forderungen an sie zu stellen, denen sie ohnehin nicht folgen werden, aber genügend Druck zu entfalten, daß Probleme der Weltgesellschaft auch auf dieser Ebene als Problem anerkannt werden müssen. So gesehen könnte ein Gastrecht eher als ein Mittel dienen, Einzelnen Unterstützung zu geben und das Grundproblem einmal mehr öffentlich zu machen. Wichtiger noch als ein privates Gastrecht erscheint mir, daß Kommunen sich als „flüchtlingsfreundliche“ Städte erklären. Auch hier setzt das jedoch eine größere Verfügung über finanzielle Mittel und größere Entscheidungskompetenzen voraus. Mit einer größeren sozialen Nähe zu Flüchtlingen, das zeigen viele Erfahrungen, geht eine größere Bereitschaft einher, deren Rechte dauerhaft zu sichern. So könnten ganze Gemeinden eine Kultur der Solidarität entwickeln. Aber dazu müßten sie sich politisch überhaupt erst einmal wieder als Gemeinde konstituieren; unter den derzeitigen ökonomischen und politischen Bedingungen kann davon kaum die Rede sein und es erscheint auch nicht sehr wahrscheinlich, daß die Einkaufs- und Schlafstädte sich noch einmal erholen. Vor allem müßten sie dem Staat Steuern wegnehmen, um eine selbständige Politik machen zu können und nicht nur als unterste Verwaltungseinheit zu dienen. Daß der Staat in solch einem Umfang Steuern und Abgaben erhebt (was war den Bauern früher der Zehnte für eine Last!) und die Gegenleistung oft genug in einer Umverteilung von unten nach oben besteht, müßte auch hier Konfliktstoff werden. Programmatisch wie praktisch ist meine Hoffnung auf solch eine Entwicklung gering. Sagen wir es ihnen trotzdem: Die Annäherung von Lebenschancen weltweit und die Beseitigung der Fluchtgründe in den Strukturen sind die einzigen gerechten Forderungen. Die Menschen haben das Recht auf Leben, Freiheit, Streben nach Glück. Wenn sie dafür eine Revolution machen müssen – müssen sie sie machen.

(1) Reinhard Kößler: Globalisierung, internationale Migration lind Begrenzungen ziviler Solidarität. Versuch über aktuelle Handlungsformen von Nationalstaaten, in: Ludger Pries (Hrsg.): Transnationale Migration. Baden-Baden 1997 (Soziale Welt Sonderband 12), S. 329ff, hier 332. Kößler bezieht sich hier auch auf Elmar Altvater; Der Preis des Wohlstands. Münster 1992

(2) Jan Stehn: Gastgeberlnnenrecht? Asyl ohne Staat; Das gesellschaftliche Engagement stärken in GWR 231 S. 13