Oliver Todd: Jacques Brel - Ein Leben. Achilla Presse, Bremen/Hamburg 1997, 790 S., 68 DM
Jacques Brel ist einer der bekanntesten Chansonniers. In diesem Jahr gab es anläßlich seines 20. Todestages eine Reihe von Würdigungen und Aufführungen seiner Lieder. Der französische Schriftsteller und Journalist Olivier Todd hat bereits 1984 eine umfangreiche Biographie geschrieben, die nun in einer wunderschönen, mit vielen Textübersetzungen versehenen deutschsprachigen Ausgabe vorliegt.
Jacques Brel wird 1929 geboren. Seine Familie stammt aus der bürgerlichen Mittelklasse. Standesgemäß schickt sein Vater seine Söhne in eine Privatschule. In der Schule bleibt Jacques ein paar Mal sitzen. Der Zweite Weltkrieg beeinflußt den jungen Brel stark. 1947 wird er von der Schule befreit und entgeht so dem Rauswurf. Brel arbeitet im Geschäft der Familie, der Kartonagenfabrik Vanneste & Brel. Angeblich wird er später „bedauern, den klassischen Bildungsweg abgebrochen zu haben“ (S. 51). Kurz danach taucht er bei Hector Bruyndonckx auf, der die Jugendbewegung der Franche Cordée ins Leben gerufen hat – auf die ausdrückliche Bitte eines Pfarrers hin, der die Jugend vom rechten Weg abgekommen sah. Das Motto der Jugendlichen heißt „Plus est en toi“ (In dir ist mehr!). Jacques Brel wird sein Leben lang nach diesem Mehr in sich selbst suchen. Jacques findet in Hector einen spirituellen Mentor. Die beiden werden eine Art Vater-Sohn-Beziehung eingehen – mit all ihren Euphorien und Mißverstandnissen. In der Franche Cordée singt Brel seine ersten Lieder zur Gitarre. Dort lernt er auch Thérèse Michielsen, genannt „Miche“, kennen. Sie heiraten im Juni 1950. 1953 zieht Brel nach Paris, weil er überzeugt ist, daß sein Talent in Belgien nicht anerkannt werden wird. Es beginnt die Karriere des großen Chansonniers, Theaterschauspielers und Kinoregisseurs Jacques Brel.
Todd ordnet die fünfzehn Kapitel seiner Biographie sowohl thematisch als auch chronologisch an. Auf Grund mancher Überschneidungen wird der Zeitrahmen manchmal etwas unklar. Hilfreich wären zudem ein Inhaltsverzeichnis, eine Lebenschronologie und auch eine Auflistung von Brels Liedern mit der Zeit ihrer Entstehung gewesen.
Olivier Todd will objektiv erzählen und betont immer wieder sein Anliegen, nicht den Mythos Brel darzustellen, sondern den Menschen, wie er eben war, mit seinen Qualitäten und Schwächen. Zum Teil ist ihm das gut gelungen, insbesondere im letzten Abschnitt seines Buches. Allerdings trägt dieser Hang zur Objektivität auch oft zur Verwirrung bei. So anerkennt er Brels anarchistische Einstellung zum Leben, gleichwohl ist sie in den Beschreibungen von Todd kaum zu bemerken. Zwar erwähnt er, daß Brel den Staat, die Kirche und die Armee beschimpft (S. 276), aber er beschreibt diese Kritik nicht innerhalb des politischen Kontextes, wodurch die Bedeutung von Brels Äußerungen abgeschwächt wird.
Die Biographie von Todd zeichnet einen Brel, der politisch letztendlich keine Ahnung hat. So habe der Flame Brel angeblich nichts von der Geschichte des flämisch-wallonischen Konflikts in Belgien verstanden, was ihm viele Flamen übel genommen hätten. Alles was Brel weiß, scheint von seinem besten Freund Georges Pasquier, genannt „Jojo“, her zu stammen. Allerdings ist „Jojo“ Sozialdemokrat, im Gegensatz zu Brel. Insgesamt äußert sich Brel wenig über diese Unterschiede, um seine Freunde nicht zu kränken. Todd behauptet, Brel wolle keine politische Botschaft durch seiner Lieder verbreiten: „Der Künstler Brel spürt, daß die rauhe politische Wirklichkeit in seinen Werken nichts zu suchen hat. Er ist kein engagierter Sänger und will es auch niemals werden – Chansons wie Les Bourgeois und Jaurès bilden Ausnahmen in seinem Repertoire“ (S. 384). Ist es wirklich so? Wie bewertet denn Todd Les Singes, Ces gens-là, Au suivant, Sur la place, La colombe est blessée? Außerdem ist Brel oft provokativ und fordert die ZuhörerInnen auf, sich und ihr Leben kritisch zu betrachten. Ist das etwa nicht politisch? Todd sagt selbst, daß Brel gerade durch seine „anarchistische Lebenseinstellung“ (S. 235) mit dem acht Jahre älteren libertären Chansonnier Brassens verbunden ist.
Todd verwirrt uns nicht nur bei Brels politischen Haltungen, sondern er zeichnet auch sehr widersprüchliche Bilder von Brels Beziehungen zu Frauen. Spätestens ab 1954 „betrügt“ – wie die bürgerliche Bezeichnung lautet – Brel seine offizielle Ehefrau Miche immer wieder. Aber was bedeutet Jacques’ und Miches Satz, das sei „our way of life“? Ist Miche einverstanden? Ist es das, was später im Buch als „Vereinbarung“ (S. 539) bezeichnet wird? Miche hat länger als Jacques gelebt, aber Todd läßt weder sie noch die anderen Frauen in Jacques’ Leben oft zu Wort kommen. Nirgendwo gibt es einen Brief oder Kommentare von Miche in dieser Biographie, abgesehen von dem einen offiziellen Interview auf S. 261. Brel ist zweifellos ein Macho gewesen, ein schlechter Vater, und war egoistisch gegenüber nahestehenden Freundinnen. Gleichzeitig liebte Brel mit seinem ganzen Körper und seiner ganzen Seele und weniger als leidenschaftlich wollte er auf keinen Fall sein. Übertreibt Todd nicht etwas, wenn er die Lieder von Brel als frauenfeindlich bezeichnet? Was auf den ersten Blick so erscheint, sind oft Provokationen oder gesellschaftliche Karikaturen, eine Kritik traditioneller Verhaltensweisen, die Frauen einnahmen.
Ein wichtiges Thema in Brels Liedern und seinem Leben war auch die Auseinandersetzung mit der Religion. Obwohl Brel antiklerial war, läßt uns Todd auch hier im unklaren darüber, zu welchen Erkenntnissen diese Auseinandersetzung letztendlich führt. War Brel nun religiös oder war er es nicht?
Als Brel von der Chanson-Bühne abtritt und sich dem Theater als Schauspieler sowie dem Kino als Regisseur und Darsteller zuwendet, schreibt Todd dazu:
„Er verläßt eine Welt, die ihn an den Rand der Erschöpfung gebracht hat. Schließlich kann man Brel auf Schallplatte oder Kassette hören – obwohl man einiges verpaßt, wenn man ihn dabei nicht sieht“ (S. 402). Man/frau verpaßt da doch mehr als nur „einiges“ – und genauso ist es mit dem Buch. Todd hat viele Bilder zueinander geklebt und liefert ein Buch, das sich sehr gut liest, das nie langweilig wird, in dem aber die Seele des Menschen doch fehlt. Viele Fragen bleiben Interpretationssache. Das Buch will das Publikum nicht erschrecken, jede/r LeserIn kann sich nun seinen oder ihren Brel zusammen mischen.