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Sisis Mörder Luigi Lucheni

Skurril und ergreifend: Luchenis Erinnerungen an seine italienische Kindheit

| Harold the Barrel

Luigi Lucheni: "Ich bereue nichts!" Die Aufzeichnungen des Sisi-Mörders, hrsg. von Santo Cappon. Zsolnay-Verlag, Wien 1998, 256 S., 36 DM

Maria Matray/Answald Krüger: Das Attentat. Der Tod der Kaiserin Elisabeth und die Tat des Anarchisten Lucheni. Kopie über GWR-Süd, 336 S., 19 DM

Die Wege der Anarchie sind manchmal versteckt, verworren, gar skurril – und darum gerade so reizvoll. Das betrifft nicht nur Geschichten und Inhalte, sondern auch die Publikationspraxis. Daß etwa in einem rechtskonservativen bis rechtsextremen Verlag ein Buch über den italienischen Anarchisten Luigi Lucheni erscheint, hat wohl weniger mit dessen anarchistischem Bekenntnis zu tun als mit der Tatsache, daß Lucheni vor genau hundert Jahren, im September 1898, im schweizerischen Genf die mythische Kaiserin Sisi ermordet hat. Die angeblich permanent unglückliche Aristokratin Sisi wiederum wird ja derzeit ständig mit Diana verglichen. Wir werden in den libertären Buchseiten den rechtskonservativen Verlagsnamen selbstverständlich nicht nennen und rufen InteressentInnen am Buch dazu auf, sich über die GWR-Süd-Red. eine Kopie zu bestellen, damit der Verlag nichts am libertären Interesse verdient!

Sachverhalt und Atmosphäre des Buches bilden eine weitere Skurrilität: erzählt wird in Gegenwartsaufnahmen und Rückblenden gleichzeitig das Leben Sisis und des verarmt aufgewachsenen italienischen Anarchisten Lucheni. Zwischen den aristokratischen Intrigen und dem ruhelosen Umherwandern des italienischen Arbeitslosen, der in die sozial besser gestellte, aber auch rassistische Schweiz auswandert, wechseln Matray/Krüger ständig die Perspektive. Dabei erzählen sie überraschend korrekt, werden auch Motiven Luchenis durchaus gerecht. Selbst Sisi wird in ihrer Abkehr von den höfischen Gepflogenheiten nicht mythisiert. Sie wird z.B. in ihrer frappierenden Unzugänglichkeit für das Unglück von Stephanie auch sehr kritisch gezeichnet. Die belgische Königstochter Stephanie hatte Sisis Sohn Rudolf mit 15 Jahren heiraten müssen und wurde von ihm in der Hochzeitsnacht vergewaltigt, konnte ihm überdies „nur“ ein Mädchen und nicht den erhofften männlichen Thronfolger schenken, worauf sich Rudolf in Affären einließ, die mit seinem Selbstmord und dem an seiner Geliebten endeten, wofür wiederum Stephanie die Schuld gegeben wurde. Der Doppelselbstmord wurde selbstverständlich vertuscht.

Da kann man/frau Lucheni schon verstehen, der als verarmter Arbeiter die AristokratInnen und ihre Albernheiten haßt, die vom Geld und von der Arbeit anderer leben und nie existentielle Sorgen haben. Zudem ist es die Zeit der „Propaganda der Tat“, d.h. der anarchistischen Attentate. Lucheni bezeichnet sich als individualistischer Anarchist und beteiligt sich nicht am kurz vorher stattfindenden Mailänder Massenaufstand, dem viele in die Schweiz emigrierte ItalienerInnen zu Hilfe eilen. Das Attentat geht aber nach hinten los, in Österreich kommt es sogar zu Pogromen gegen italienische ImmigrantInnen. Erzählt wird in dem Buch der zeitliche Ablauf der gerichtlichen Untersuchung unter Charles Léchet. Darin kommt die erst sehr späte Hinwendung Luchenis zum Anarchismus zum Vorschein, nachdem er vorher brav den Militärdienst für Italien abgeleistet und bei einem Offizier noch lange Zeit in Haushaltsdiensten gestanden hatte. Luchenis anarchistisches Wissen ist offensichtlich oberflächlich und so vermutet Léchet ein organisiertes anarchistisches Komplott, auf das ihn ein in AnarchistInnenkreise eingeführter Polizeispitzel hinweist. Erst im letzten Gespräch mit Lucheni nach dem Prozeß gestand dieser, daß es tatsächlich ein Komplott gegeben hatte und er nicht der vorgebliche Einzeltäter, sondern eher ausführendes Organ gewesen war. Hier endet das Buch von Matray/Krüger.

Doch die Geschichte ist nicht vorbei, im Gegenteil: einem Zufall ist es zu verdanken, daß der Kanton Genf eine der wenigen Regionen überhaupt war, in der die Todesstrafe bereits abgeschafft war und Lucheni daher Lebenslänglich bekam.

So lebte Lucheni im Genfer Gefängnis bis zu seinem Selbstmord am 19.10.1910. Warum verübte er Selbstmord? Die Antwort gibt nun das von Santo Cappon herausgegebene Buch: Lucheni hatte im Gefängnis seine im Heim erworbene Halbbildung stark erweitert, die französische Sprache erlernt, viel gelesen und dann begonnen, seine Autobiographie, vor allem seine Kindheits- und Jugenderinnerungen aufzuschreiben. Doch der neue Gefängnisdirektor Fernex hatte 1909 Lucheni fünf Hefte seiner Autobiographie weggenommen – das einzige, was Lucheni am Leben hielt.

Und diese Kindheitserinnerungen sind ergreifend, grandios, und auch literarisch nicht schlecht. Lucheni hatte sich vor ihrer Abfassung vom Anarchismus abgewandt, den er nun, wiederum sehr oberflächlich, mit Gesetzlosigkeit und Attentaten gleichsetzte. Nun hatte er sich von seinem Attentat distanziert und gab gerade denjenigen die Schuld an seinem Lebensweg, die sich nicht an die Gesetze hielten, womit er vor allem die Korruption verurteilte. Lucheni will gegen die biologistischen Theorien des Cesare Lombroso, der Kriminalität auf Erbanlagen zurückführte und auch im Prozeß gegen Lucheni aussagte, beweisen, daß die Gesellschaft schuld an seinem Lebensweg ist. Dabei öffnet seine Kindheitsgeschichte den Blick auf die unglaubliche Armut in den norditalienischen Dörfern der damaligen Zeit und auf eine Praxis, die nur als Kindersklaverei zu bezeichnen ist: zunächst gibt die Mutter Luchenis das Neugeborene in ein Heim. Eine erste, noch liebevolle Ersatzfamilie kann das Kind nicht behalten und gibt es ans Heim zurück. Mit neun Jahren wird Lucheni schließlich von verarmten Lumpenhändlern aus dem Heim geholt, obwohl der Heimleiter sich hier nicht an die Vorschriften hält und ihn der kaum vertrauensvoll scheinenden Person nicht hätte ausliefern dürfen. Der Grund der Adoption ist schließlich nur der, daß das Heim den Adoptiveltern jährlich Geld bezahlt, auf welches die verarmten und verschuldeten Dorffamilien angewiesen waren. Lucheni verwahrlost als Lumpen- und Kotsammler oder Viehhirte, bekommt Läuse und wird von allen gemieden. Von einer Familie wird er zur nächsten durchgereicht, alle sind nur auf das Geld bedacht, das er ihnen bringen kann, auch der korrupte Dorfpfarrer. Insofern macht Lucheni erst jetzt auf bewußte und auch sehr libertäre Weise die Gesellschaft für seine Tat verantwortlich. Santo Cappon hat um die Lebenserinnerungen Luchenis herum die notwendigen Zusatzinformationen gruppiert, an denen mir nur der Schluß mißfällt. Da will er den unglücklichen Lucheni und die unglückliche Sisi auf die gleiche Ebene hieven – und das mißlingt. Sisi ist trotz ihres Abstandes zum Hof und ihrer realen Machtlosigkeit nie wirklich aus dem aristokratischen Leben ausgebrochen. Ihr Leben ist mit dem existentiellen Lebenskampf des Lucheni nie und nimmer vergleichbar. Das macht gerade die Gegenüberstellung in beiden Büchern mehr als deutlich.