Es war eine der Sternstunden der Anti-Atom-Bewegung in den letzten Jahren aber es war auch eine ihrer umstrittensten Aktionen, als Anfang März 1997 beim bisher letzten Castor-Transport nach Gorleben 9 000 Menschen unter dem Motto „X-tausendmal quer“ an einer gewaltfreien Sitzblockade nahe des Dannenberger Castor-Verladekrans teilgenommen haben.
Die Tatsache, daß die Polizei zur Räumung der Blockade zu massiver Gewalt griff und dies in der Öffentlichkeit als eklatantes Mißverhältnis zum Verhalten der BlockiererInnen erkannt wurde, hat mit dazu beigetragen, daß es seither keine weiteren Castor-Transporte ins Wendland mehr gegeben hat.
Trotz (oder auch wegen) dieses Erfolges gab es innerhalb der Bewegung heftigen Streit um „X-tausendmal quer“. Neben vielen anderen, wie z.B. eher gruppendynamischen Faktoren, spielte dabei die Bewertung und die Benutzung des Begriffs „gewaltfrei“ eine wichtige Rolle. Kommt es durch die Benennung einer Aktion als „Gewaltfreie Aktion“ zu einer Spaltung der Bewegung – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – oder kann durch die Klarheit in der Wortwahl auch für potentielle MitstreiterInnen die Teilnahme erleichtert, die öffentliche Wirksamkeit verstärkt und der Polizei ihr Handeln erschwert werden?
Letztendlich blieb die Diskussion viel zu oft auf der Ebene persönlicher Reibereien hängen. Die grundsätzlichen inhaltlichen Fragen konnten kaum geklärt werden.
Als die BI Ahaus im Sommer 1997 beschloß, ebenfalls unter dem Titel „X-tausendmal quer“ zu einer gewaltfreien Sitzblockade des Castor-Transportes nach Ahaus aufzurufen, entspann sich im Münsterland eine Fortsetzung des Konfliktes. Die Bürgerinitiative entschied sich, auf einige wesentliche Kritikpunkte insofern einzugehen, daß der Aufruftext entsprechend geändert wurde. Einige Passagen, die sehr offensiv die politische Wirksamkeit gewaltfreien Handelns propagierten, wurden „entschärft“. Konflikte gab es weiterhin, doch die plötzliche Vorverlegung des Transporttermins hat dann dazu geführt, daß vieles nicht so ablaufen konnte, wie vorher geplant. So gab es am „Tag X“ im März ’98 keine eigene „X-tausendmal quer“-Blockade, sondern nur „gemischte“ Aktionen. Dies führte dazu, daß sich der szeneinterne Streit im Münsterland neuen Feldern zuwandte, aber nicht mehr weiter „X-tausendmal quer“ zum Inhalt hatte.
Schon seit dem Winter 97/98 gibt es im Wendland eine neue Gruppe, die für einen potentiellen nächsten Gorleben-Castor eine „X-tausendmal quer“-Kampagne vorbereitet. Im Juni ist der entsprechende Aufruf publiziert worden. In dieser Gruppe wurde die Frage der Gewichtung von „Gewaltfreiheit“ offen diskutiert und sie legte sich schließlich darauf fest, im Aufruf selbst eher defensiv damit umzugehen. So heißt es beispielsweise im Untertitel nicht „gewaltfreie Sitzblockade“, sondern „große Sitzblockade“. Die neue wendländische „X-tausendmal quer“- Gruppe, bestehend aus einigen, die bereits bei der ’97-Aktion mit vorbereitet haben und einigen „Neuen“, bemüht sich sehr, in ständigem Austausch mit den anderen Widerstandsgruppen im Wendland zu sein, um so Konflikte, wie es sie 1997 gab, bereits im Ansatz zu vermeiden.
Nachdem nun im Frühsommer durch den Castor-Skandal eine völlig neue politische Situation entstanden ist (siehe Artikel in der letzten GWR), haben sich viele derjenigen, die bereits an der ersten „X-tausendmal quer“-Kampagne mitgearbeitet hatten, zusammengetan und gemeinsam überlegt, wie eine adäquate Antwort der Anti-AKW- Bewegung auf die aktuelle Entwicklung aussehen kann. Erstaunlich schnell gab es einen Konsens, jetzt wieder sehr offensiv für eine „Gewaltfreie Aktion“ zu mobilisieren, da sich die Beteiligten davon eine Klarheit nach innen und außen und eine große politische Effektivität erhoffen.
Den ganzen Sommer über wurden Konzepte entwickelt und zum bundesweiten Aktionstag der Anti-AKW- Bewegung Mitte September ist nun schließlich der neue Aufruf „X-tausendmal quer – überall“ veröffentlicht worden. Der Anspruch ist gewaltig: Egal, von wo nach wo der nächste Castor nach der Aufhebung des augenblicklichen Transporte-Stopps rollen soll: mit mindestens einer großen gewaltfreien Sitzblockade wird er aufgehalten. Es gibt 13 mögliche AKWs, 3 mögliche Zwischenlager und mindestens 5 mögliche Grenzübergänge zwischen Deutschland und Frankreich, die als Aktionsorte in Frage kommen.
Die neue Kampagne will sich der Herausforderung, die in einer solchen Vielzahl von möglichen Aktionsorten und der augenblicklich nicht vorhandenen Informationen über Strecke und Zeitpunkt des nächsten Castor- Transportes („Ort X, Tag X“) liegt, offensiv stellen. Aller Erfahrungsschatz der gewaltfreien Bewegung in diesem Land, gekoppelt mit dem Kampagnen-Knowhow der letzten Jahre und mit der Spontaneität und Motivation vieler neuer MitstreiterInnen soll eine so große Mobilisierung bis weit in bürgerliche Schichten hinein ermöglichen, daß selbst eine organisatorisch so anspruchsvolle Kampagne gemeistert werden kann.
Ein Grundgedanke von „X-tausendmal quer – überall“ ist es, die Verantwortung und die Arbeit von Vornherein auf vielen Schultern zu verteilen. Es soll also nicht „die“ Zentrale geben, sondern viele verschiedene beteiligte Gruppen, die bestimmte klar definierte Aufgabenbereiche übernehmen. Viel Energie wird in den Aufbau von Regionalkontakten gesteckt, die der Kampagne in möglichst vielen Städten und Regionen eine eigene Basis verschaffen und die dann auch wieder aktiv an Entscheidungs- und Arbeitsstrukturen der Kampagne beteiligt ist. Für alle anfallenden Arbeiten werden auch immer wieder neue Leute gesucht.
Politisch ist die Stoßrichtung der Kampagne klar: Der Transportestopp soll möglichst lange ausgedehnt werden, damit wächst der Druck in Richtung Stillegung aller Atomanlagen, besonders natürlich bei den AKWs, deren Lagerbecken so voll sind, daß ohne Abtransporte in allernächster Zeit der Reaktor heruntergefahren werden muß. Erstmals kann es so auch gelingen, die Atommülltransporte zu den Wiederaufarbeitungsanlagen im Ausland zu einem Aktionsfeld zu machen, daß über einige besonders aktive Insidergruppen hinausgeht.
Egal wie die Bundestagswahl ausgeht, kann es schon bald wieder zu Transporten kommen. In La Hague stehen sechs mit hochaktivem WAA-Müll beladene Glaskokillen zum Transport nach Gorleben bereit. In Ohu und Biblis stehen zur Beladung bereite Behälter. In Stade ist der Platz im Abklingbecken randvoll.
Gehen wir für die folgenden Überlegungen einmal davon aus, daß die nächste Bundesregierung von SPD und Bündnisgrünen gebildet wird. Dann müssen wir feststellen: Auch rot/grün garantiert keinen weiteren Transportestopp. Die sowohl von SPD als auch Grünen geplanten Zwischenlagerhallen an den AKWs werden mindestens zwei Jahre auf sich warten lassen. Bis dahin werden sich aber einige Betreiber nicht gedulden können und wollen. Und auch wenn der Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung beschlossen ist, sollen die Glaskokillen nach Gorleben rollen.
So kann es relativ bald nach der Wahl zu einer interessanten Zuspitzung im Atom-Streit kommen. Auf der einen Seite eine angeblich ausstiegswilllige Bundesregierung, die der Bevölkerung versucht zu erklären, warum sie gegen die jetzt anstehenden Transporte nichts unternehmen kann und auf der anderen Seite eine Anti-Atom-Bewegung, die erkennt, daß sie zum entscheidenden Faktor im Atom-Streit werden kann.
„X-tausendmal quer – überall“ ist auch deshalb so wichtig, weil nach der Wahl die Gefahr droht, daß viele Menschen – sei es aus politischer Überzeugung oder aus Bequemlichkeit – erstmal sehen wollen, was rot/grün so schafft. Da aber weiterhin die Regel gilt, daß wir um so länger auf den Ausstieg warten müssen, je mehr Menschen untätig auf rot/grünes Handeln warten, kann gerade diese Kampagne dazu führen, viele Leute zum Mitmachen zu bewegen, die Breite der Bewegung zu stabilisieren oder gar zu erweitern und den politischen Druck aufrechtzuerhalten.
Kommt es nicht zu rot/grün, so haben wir mit „X-tausendmal quer – überall“ ein Instrument zur Hand, mit dem wir in kurzer Zeit den politischen Druck gegen eine atomfreundliche oder eine atompolitisch unentschlossene Regierung verstärken können. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, daß es bei den Castor- Transporten zu den Zwischenlagern die Situation gibt, daß aufgrund der vorhandenen Polizei-Kräfte nur einen „Tag X“ jährlich geben kann, so wird bewußt, wie groß die Chance ist, wenn wir dies auch auf die WAA-Transporte übertragen können, von denen in den letzten Jahren jeweils zwischen 60 und 100 gerollt sind.
Spannende Zeiten stehen bevor…
Aufrufe, auch in größeren Stückzahlen können bestellt werden bei:
X-tausendmal quer - überall
Herrlichkeit 1
27283 Verden
Fax: 04231/957565
Dort können sich auch Menschen melden, die in irgendeiner Weise bei dieser neuen Kampagne mitarbeiten wollen.