diskussion

Herrschaft als Massenmobilisierung

Libertäre Auseinandersetzung mit dem "Schwarzbuch des Kommunismus". Teil II: China und die Fragen nach dem "Warum?"

| Harold the Barrel

m September begannen wir eine libertäre Auseinandersetzung mit dem "Schwarzbuch des Kommunismus". Teil I (GWR 231, Seiten 15 & 16) befaßte sich mit der Sowjetunion und Osteuropa. (Red.)

Die zweiten 400 Seiten des „Schwarzbuchs“ beginnen mit dem neben Nicolas Werths Analyse der Sowjetunion lesenswertesten Kapitel, nämlich dem über China. Jean-Louis Margolin beschreibt den hohen Grad an Gewalt, der die chinesische Revolution von Anfang an begleitete. Nach der Niederschlagung der städtischen KommunistInnen durch die national-militärische Kuomintang errichtete die chinesische KP auf ihrem „langen Marsch“ eine Herrschaft des „demokratischen Terrors“ (S.520f), wie es ihr erster Führer, Peng Pai, bezeichnete. Alle DorfbewohnerInnen mußten in der Regel der Hinrichtung von Grundbesitzern und Konterrevolutionären beiwohnen und zustimmen – und wurden durch ihre Beteiligung an die neuen Verhältnisse gebunden. Der hohe Grad des chinesischen Militarismus in einer Bürgerkriegssituation führte sofort zu einer massiven inneren Repression in den „befreiten Gebieten“: laut Margolin mußten die Bauern dort im Jahr 1941 „35 % des Ernteertrags abliefern, viermal mehr als in den von der Kuomintang beherrschten Gebieten.“ (S.521) Der neue Vorsitzende, Mao Zedong, setzte Peng Pais Linie fort und wurde 1931 sogar kurzzeitig abgesetzt, weil er für die Entfremdung von Bevölkerung und KP aufgrund seiner harten Repression kritisiert worden war.

Die Landreform Anfang der fünfziger Jahre war die erste flächendeckende Erfassung des chinesischen Riesenreiches überhaupt, und hatte von Anfang an einen Kontrollaspekt. Die Partei legte im Vorfeld Quoten von Privilegierten fest (10-20 %) und teilte die Bauern/Bäuerinnen in „arme, halbarme, mittlere und reiche“ sowie die LandbesitzerInnen ein (S.528). Die Unterschiede waren unscharf, zumal in China im Gegensatz zu Osteuropa und Lateinamerika die ländlichen Besitzverhältnisse vergleichsweise differenziert waren (viele Kleinparzellen). In der sogenannten „Bitterkeitsversammlung“ sprachen die zunächst meist schüchternen DorfbewohnerInnen nach Anleitung durch die Kader schließlich das Todesurteil über reiche Bauern oder Landbesitzer aus, das sofort vollstreckt wurde. Der Anteil lokaler Willkür war hoch. Die Versammlungen waren autoritär strukturierte Rituale, die nur Konformismus abverlangten, und bildeten das Vorbild zu späteren Kampfversammlungen und Versammlungen zur Selbstkritik, die das System organisierte (S.529). Bei der Landreform wurden zwar 40 % des Bodens neu verteilt, aber die durchschnittliche Hofgröße der Kleinbauern lag immer noch bei 0,8 Hektar, weniger als in Japan, Taiwan oder Südkorea (S.531). Dafür gab es etwa zwei Millionen Tote und ca. vier Mio. reiche Bauern, die in die chinesischen Umerziehungslager, die Laogai, wanderten. „Die schreckliche Grausamkeit der chinesischen Landreform diente darum nicht primär der Reform selbst, sondern dem politischen Ziel der totalen Machtübernahme des kommunistischen Apparates. Dazu gehörten die Auswahl einer kleinen Zahl von Aktivisten als Agitatoren und Funktionäre, der Abschluß von ‘Blutspakten’ mit der Masse der Dorfbewohner, die in Hinrichtungen verwickelt waren, und die Demonstration gegenüber allen, die Widerstand leisteten oder nur halbherzig mitmachten, daß die KP in der Lage war, mit äußerster Härte zu regieren.“ (S.531)

Massenmobilisierung beim „Großen Sprung“

Beim Lesen von Margolins Analyse maoistischer Staatsgewalt ist mir besonders der Charakter der Massenmobilisierung aufgefallen, der zwar in allen staatssozialistischen Regimes eine Rolle spielt, aber nirgendwo so ausgeprägt war wie in China. Während Herrschaft in bürgerlich-kapitalistischen Regimes in der Regel zum Ziel hat, die Bevölkerung ruhig, passiv oder zumindest gleichgültig zu halten, hielt Maos Staat die Massen in beständiger Bewegung, um Zustimmung zum System zu organisieren. Zugespitzt: während der Schrebergarten im Kapitalismus als Inbegriff des Konservatismus und der Ruhigstellung der BürgerInnen gilt, galt die Anlage von Blumenbeeten während der chinesischen „Kulturrevolution“ als konterrevolutionärer Akt. Die in zustimmender Bewegung gehaltenen Massen durften bei Mao nie zur Ruhe kommen. Sie hätten dabei ja selbständig zu denken anfangen können. So gab es während der fünfziger Jahre immer wieder „Massenkampagnen“, etwa eine zur „Eliminierung versteckter Konterrevolutionäre“ (1955), die sich gegen Intellektuelle und alte Parteikämpfer richtete. Auch die bekannte Kampagne „Laßt hundert Blumen blühen“ (1957) war eine solche Massenkampagne: Mao ermutigte von oben zu möglichst breiter Kritik, um nach wenigen Wochen die Liberalisierung für beendet zu erklären, alle KritikerInnen zu verfolgen und die Einheit des Parteiapparats zu stärken.

Auch die große Hungersnot von 1959-1961, die von Margolin als die „größte Hungersnot aller Zeiten“ (S.539) mit ca. 20 (von China 1988 offiziell genannt) bis 43 Mio. Toten bezeichnet wird, war Folge einer Massenmobilisierung: angefangen hatte es mit der Kollektivierung von 1955/56, bei der anfangs noch der invididuelle Rückzug aus der Kooperative erlaubt war und die Dörfer stehenblieben. Doch 1958 wurde die Errichtung der Volkskommunen befohlen (der eigentliche „Große Sprung“), wobei keine individualistischen Ausnahmen mehr geduldet wurden. Die mobilisierten Massen wurden parallel zum Bau von neuen Wohnprojekten, Bewässerungsprojekten, einer drastischen Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion und zur Errichtung von Industrieprojekten (Kleinhochöfen in jeder ländlichen Kommune, um Autarkie zu erreichen) gezwungen, was zu totaler körperlicher Erschöpfung führte. Gleichzeitig wurden die Zwangsabgaben von Getreide für den Staat zum Aufbau von Industrien in den Städten drastisch erhöht. 1960 konnten die Bauern aus körperlicher Schwäche kaum noch die Ernte einbringen. Die Produktion ging zurück, doch die Abgabeforderungen des Staates blieben und noch während der Hungerjahre 1959-1961 wurde Getreide exportiert. Mao konnte den Produktionsrückgang und damit das Scheitern des „Großen Sprungs“ nicht zugeben und frühzeitig gegensteuern – eine Struktur, die Margolin erst recht als Ursache für die Ausbreitung der Hungersnot anführt. Die Hungersnot umfaßte das ganze Land und führte zur Rücknahme der Volkskommunen und zum Aufstieg von Maos pragmatischem Widersacher Liu Saoqi und seinem Verbündeten Deng Xiaoping innerhalb der Partei.

Im Vergleich zum „Großen Sprung“ forderte die „Kulturrevolution“ mit ca. 500 000 bis 1 Mio. Opfern weitaus weniger Todesopfer, doch veranschaulicht Margolin unter dem äußerst deplazierten Titel „Anarchischer Totalitarismus (1966-1976)“ (S. 570ff) noch einmal anschaulich die Funktionsweise dieser Form der Herrschaft durch Massenmobilisierung: gegen seine Bedrohung durch Aufsteiger innerhalb der Partei mobilisierte Mao vor allem Jugendliche und sogenannte „schlechte Elemente“, Leute mit sogenanntem ungünstigen Klassenhintergrund, d.h. Saisonarbeiter, Tagelöhner. Sie bildeten die „Roten Garden“, welche Intellektuelle und LehrerInnen diskriminierten, die mittleren Parteibüros in den Provinzen stürmten und sich nationalistisch gegen Fremde und Minderheiten wandten. Maos Widersacher führten gegen sie die sogenannten „Fortsetzer“ ins Feld. Und alle bekämpften sich gegenseitig, aber immer mit Mao-Zitaten aus verschiedenen Epochen. Die Ausrichtung an Mao wurde nie in Frage gestellt, und die „Gruppe Kulturrevolution beim ZK“ beanspruchte die Steuerung. Kennzeichen der Herrschaft durch Massenmobilisierung ist jedoch die Möglichkeit, daß sie auch aus dem Ruder laufen kann. Nachdem die „Roten Garden“ Maos Position wieder gefestigt hatten, hatten sie gleichzeitig zuviel Macht gewonnen und wurden durch das Militär des Mao-Verbündeten Lin Biao, das sich bisher rausgehalten hatte, niedergeschlagen – dieser Abschluß der „Kulturrevolution“ forderte die meisten Todesopfer. Mao konnte seinen Erfolg jedoch nicht mehr auskosten: sein Tod 1976 läutete die Rückkehr Deng Xiaopings zur Macht ein.

Margolins Analyse Chinas unter Mao zerstört viele Mythen: den Mythos der Popularität Maos unter den Bauern/Bäuerinnen – im Gegensatz dazu waren gerade die Pragmatiker unter den Bauern stärker geschätzt; den Mythos, in China habe niemand gehungert, jede/r eine tägliche Schale Reis bekommen, anders als in anderen Ländern der „Dritten Welt“ – in Wirklichkeit gab es dort 1959-61 eine der größten Hungersnöte aller Zeiten; den Mythos schließlich, die „Kulturrevolution“ sei eine „Rebellion“, die Mao nur gerechtfertigt habe – tatsächlich verließen die AkteurInnen nie die autoritäre Ausrichtung auf Mao.

Warum?

Äußerst schwach gegenüber den Analysen Margolins sind die Kapitel zu Kuba und Nicaragua im Schwarzbuch. Während Margolin die Kuomintang als frühe Gegner zumindest erwähnt, werden von Pascal Fontaine die US-Interventionen in Kuba und Nicaragua sowie die Contra-Kriege nicht berücksichtigt oder pauschal verharmlost. Es geht bei kommunistischen Begründungen für revolutionäre Gewalt jedoch immer um Gegengewalt. Wer sie kritisiert, muß zumindest ein Bewußtsein für Umfang und Dimension bürgerlicher oder imperialistischer Gewalt erkennen lassen. Im Kuba-Kapitel passiert das nicht, und es wird zudem die vom US-Altanarchisten Sam Dolgoff beschriebene Niederschlagung der anarchosyndikalistischen Bewegung durch Castro/Guevara verschwiegen („Leuchtfeuer in der Karibik. Eine libertäre Analyse der kubanischen Revolution“, Libertad Verlag). Beide Kapitel sind äußerst ärgerlich, viel zu kurz und ungenügend, während die weiteren Beiträge über Kambodscha, Afrokommunismus und Afghanistan zwar ebenfalls zu kurz, aber annehmbar ausfallen. Auf die ebenfalls problematischen DDR-Kapitel am Ende der deutschen Ausgabe des „Schwarzbuchs“ kann hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden.

Dafür ist das Abschlußkapitel von Herausgeber Courtois („Warum?“, S.793ff) im Gegensatz zur zu Recht umstrittenen Einleitung nicht schlecht. Auf der Suche nach den Ursachen für staatskommunistische Verbrechen bietet Courtois eine Mischung aus: erstens der Fortsetzung einer „Kultur der Gewalt“ (S.800) im zaristischen Rußland, zweitens einer aus dem Weltkrieg 1914-18 hervorgegangenen gesteigerten Gewalttätigkeit weltweit, und drittens der Kultivierung des Netschajew’schen kalten, unmoralischen, bedürfnislos nur der Sache ergebenen Berufsrevolutionärs durch den Leninismus. Dabei diskutiert Courtois zunächst Kautskys sozialdemokratische Analyse „Die Diktatur des Proletariats“ (1918). Gegen Lenins Antwort auf den „Renegat Kautsky“ ist Kautsky geradezu hellsichtig, was die Gefahren eines ständigen Guerillakrieges und eines Bürgerkrieges, der nicht mehr aufhört, anbetrifft. Nach Kautsky wird im Leninismus der Bürgerkrieg, die Gewalt der Waffen und damit auch die Grausamkeit zur Form der Austragung sozialer und politischer Gegensätze (S.809). Leider setzt Kautsky dagegen nur die parlamentarische Demokratie und ihre Wahlmaschinerie. Und Courtois vergißt in seiner Wertschätzung Kautskys dessen Rolle bei der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD. Immerhin zitiert Courtois später aber noch Isaac Steinbergs verzweifelte Antinomie, nach welcher der Terror nicht nur die Seele des Besiegten, sondern auch des Siegers vergifte. Und Courtois widmet sich dann überraschenderweise noch einmal recht ausführlich dem Bruch Bakunin-Netschajew, der sinnbildlich für die Frage stehe, ob das „revolutionäre Handeln bestimmten grundlegenden moralischen Zwängen“ (S.823) verbunden bleiben muß.