ökologie

Geschichte der Startbahnbewegung

Von der Massenbewegung bis zum 2.11.1987

| Hans Schneider

Heute gibt es bereits 20 örtliche BürgerInneninitiativen gegen die Flughafenerweiterung Frankfurt-Rhein-Main. Nur ca. 10 Ortsgruppen waren es zu Beginn der "Massenphase" der Bewegung gegen die Startbahn-West. Sollte sich jetzt wieder eine soziale Bewegung gegen den Flughafenausbau bilden, die auch bereit zur direkten Aktion ist, kann auf eine Auswertung der Erfahrungen aus der alten Startbahn-Bewegung (1979-87) nicht verzichtet werden. Der Autor des folgenden Beitrags war von Ende 1981 bis zu den Schüssen ‘87 und den folgenden Startbahnprozessen Beteiligter der Startbahnbewegung. (Red.)

Die Geschichte der sozialen Bewegung gegen die Startbahn-West läßt sich sehr grob in zwei Phasen aufteilen: die Phase der Massenbewegung mit den Höhepunkten in den Jahren 1981/82 und die Phase der militanten Sonntagsspaziergänge von 1985 bis zu den Schüssen aus den Reihen der DemonstrantInnen, die am 2.11.1987 zwei Polizisten töteten und zwei weitere schwer verletzten, und in deren Gefolge die staatliche Repression die Startbahn-Bewegung vollständig zerschlug.

I. Beginn der Massenbewegung & Konzept „gewaltfrei, aber aktiv“

Die Anfänge des Protests gegen die Flughafenerweiterung reichen bis in die 60er Jahre zurück, Pfarrer Oeser war Bindeglied zur und Symbolfigur für die Anfangszeit zugleich. Doch erst nach dem Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts Berlin 1978 gründete sich eine Aktionsgemeinschaft und daraus im Februar 1979 die „Bürgerinitiative gegen die Flughafenerweiterung“ (im folgenden kurz BI genannt, obowhl sie aus vielen Gruppen bestand), dazu kam eine lokale Parteienaktionsgemeinschaft gegen die geplante Startbahn West. Stück für Stück erweiterte sich die Argumentation von der ökologischen Bedrohung durch Lärm, durch massive Waldabholzung und Grundwasserabsenkung auf eine ökonomische Kritik der Wachstums- und Industriegesellschaft und eine antimilitaristische Kritik der potentiellen militärischen Nutzung durch die NATO – wobei die ökologische Argumentation lange im Vordergrund stand.

Organisatorisch dominierte die BI mit ihren ca. 10 Ortsgruppen bis Dezember 1980 ein sogenanntes Leitungsteam („Provinz-Elite“), erfahrene und bereits lange protestierende BürgerInnen aus der Region. Von der „Massenphase“ wurde die BI in der Folge organisatorisch überrollt und konnte mit Strukturänderungen der Entwicklung nie Schritt halten. Nachdem die Ortsgruppen auf ca. 50 angewachsen waren, folgte eine basisdemokratische Umstrukturierung, wonach eine Delegiertenversammlung der Ortsgruppen einen achtköpfigen Delegiertenrat wählte. Im Mai 1981 schließlich wurde der Tatsache Rechnung getragen, daß viele Gruppen aus anderen Regionen und der Stadt Frankfurt/M. beteiligt waren. Es wurde ein Koordinationsausschuß (KO) gebildet, in dem nicht mehr die Ortsgruppendelegierten, sondern VertreterInnen aus den politischen Spektren der Startbahn-Bewegung saßen. Das trug den realen Abläufen zwar Rechnung, der KO war jedoch gleichzeitig zentralistischer als der Delegiertenrat und konnte trotzdem in der heißen Phase ab Oktober 1981 auch nur die erste direkte Aktion gut vorbereiten, danach überschlugen sich die Ereignisse.

Strategie der BI war zunächst die Ausschöpfung aller legalen Mittel. Bis September 1980 scheiterte der juristische Weg und der hessische Wirtschaftsminister Karry verkündete den sofortigen Bauvollzug. Im März 1981 täuschte die sozialliberale Landesregierung unter Börner und Karry zudem die BürgerInnen mit einem inszenierten Landtagshearing, dessen Ergebnis, die Bau-Befürwortung, schon vorher feststand. Eine ProtestwählerInnenliste erreichte sofort 25 % bei den Kommunalwahlen im gleichen Monat. Und im April 1981 wurde schließlich mit knapper Mehrheit in der BI das hessenweite Volksbegehren für einen Volksentscheid gestartet. In einer ersten Phase mußten dazu 120 000 Unterschriften gesammelt werden, in einer zweiten Phase mußten 20 % der Bevölkerung Hessens unterschreiben (800 000). Bis zur Übergabe der Unterschriften für die erste Phase am 14.11.81 waren 220 000 Unterschriften gesammelt worden, bis zum gerichtlichen Verbot des in der Landesverfassung gewährten Verfahrens im Februar 82 waren es 300 000 geworden. Aber da war die Bewegung bereits in der Krise.

Das Volksbegehren war sehr umstritten, weil es nach den juristischen Niederlagen die legalistische Schiene weiterverfolgte. Die BefürworterInnen sahen in der landesweiten Ausdehnung die Möglichkeit, BürgerInnen anzusprechen, für die der Schritt zur direkten Aktion noch zu groß war und die Bewegung auf andere Projekte auszudehnen (z.B. eine damals in Nordhessen geplante WAA). Die GegnerInnen des Volksbegehrens kritisierten die Legitimierung der BetreiberInnen im Falle einer Niederlage sowie die Verlagerung der Entscheidungskompetenz weg von der betroffenen Region auf die Landesebene. Außerdem wurde die Bindung von großen organisatorischen Energien beklagt, die besser in die Vorbereitung der direkten Aktionen gesteckt worden wären – eine Kritik, die zu Recht erhoben wurde, weil das Volksbegehren parallel zur Phase der Zuspitzung der direkten Aktionen lief.

Im Mai 1980 hatte nach langer Vorbereitung auch durch viele Graswurzel- und gewaltfreie Aktionsgruppen die Republik Freies Wendland in Gorleben stattgefunden. Das libertäre Hüttendorf endete nach vier Wochen mit einer Räumung durch Wegtragen. Erst mit historischem Abstand zeigt sich die Richtigkeit des Räumungskonzepts bei der Begründung des Mythos von 1004 – doch unmittelbar zur damaligen Zeit wurde das Räumungskonzept – durchaus vergleichbar mit der Kritik an X-tausendmal quer 1997 – von seiten einiger autonomer Gruppen als „Passivität“ ausgelegt. In der Region Mörfelden-Walldorf südlich von Frankfurt/M. gab es zu Beginn der Startbahnbewegung keine gewaltfrei-libertäre Gruppenstruktur, gewaltfreie Aktionsgruppen bildeten sich erst im Laufe der Auseinandersetzung. So übernahm die BI die Kritik der sogenannten Passivität bei der Räumung von Gorleben und nannte ihr Widerstandskonzept „gewaltfrei, aber aktiv“. Mit dieser Kompromißformel konnte zwar anfangs für Aktionskonzepte bis weit in bürgerliche Kreise hinein geworben werden, ihr haftete aber von vorneherein ein falsches Verständnis gewaltfreier Aktion an: daß nämlich gewaltfreie Aktion in Wirklichkeit passiv sei und Aktivität ein Gegensatz zum Prinzip der Gewaltfreiheit sein könne. Außerdem wurde in BI-Kreisen mit „gewaltfrei“ auch immer wieder die legalistischen Kampagnen wie das Volksbegehren umschrieben und daher ein Verständnis gewaltfreier Aktion erschwert, das den legalen Rahmen praktisch überschreitet und ihn sogar theoretisch als Gewaltstruktur des Staates analysiert. An diesem Widerspruch setzten dann später die militanten Aktionskonzepte an.

II. Höhepunkt der „Massenphase“ 81/82

Bereits im Mai 1980 war auf dem Waldgelände zunächst eine BI-Hütte, dann ein Hüttendorf entstanden, das bis zum Herbst 1981 trotz zahlreicher Probleme und von der Polizei eingeschleuster „agents provocateurs“ (ein militanter Hüttendorfbewohner wurde als Polizeispitzel enttarnt) (1) bestehen blieb. Im Oktober 1980 erfolgte die erste Rodung auf einem Bauabschnitt außerhalb des Hüttendorfs. Bundesweit konnten 3 000 AktivistInnen mobilisiert werden, deren Rest (72 Leute) anderntags von der Polizei geräumt wurde, wonach es zu ersten Knüppeleinsätzen kam. Dieses 7-Hektar-Rodungsgebiet wurde nach Karrys Vollzugsankündigung am 6.10.1981 von 10 000 Aktiven besetzt. Die Menschen verschanzten sich in Gruben, hinter Wällen und „verknoteten“ ihre Leiber und Gliedmaßen. Die Polizei rückte massenhaft an, mit Bulldozer, Bagger und Wasserwerfer – und zog wieder ab. Es war der erste und letzte Sieg auf ganzer Linie. Schon am 7.10.81 wurden die restlichen 1 000 BesetzerInnen geräumt, es wurde eine Mauer hochgezogen und am 11.10. bei einem Gottesdienst und einer Kundgebung an der Mauer brutal in die Menge geknüppelt („Blutsonntag“). Am 2.11.1981 wurde zudem ganz überraschend das Hüttendorf geräumt. Am 7.11.81 rief die BI zur „Wiederbesetzung“ auf: 40 000 Menschen kamen in den Wald, 60 DemonstrantInnen zogen ihre Kleider aus und überstiegen die NATO- Stacheldrähte. Sie kamen mit Zusagen von Politikern und der Einsatzleitung vor Ort zurück, die Besetzung wurde abgeblasen – doch die Zusagen hatten keine juristische Relevanz und wurden von der Landesregierung negiert. Dieser „Nackten“-Sonntag hat innerhalb der Bewegung zu kontroversen Einschätzungen geführt: viele KritikerInnen sahen die „Nackten“-Aktion als eine typische gewaltfreie Aktion, die nichts gebracht habe außer einem guten Presseecho. In der GWR wurde damals innerhalb der Chronologie der Ereignisse zum „Nackten“-Sonntag hinzugefügt: „Keine gewaltfreie Aktion“ (2) Warum? Weil damit 40 000 extra in den Wald zur Besetzung gekommene Aktive zur Passivität und zur Hinnahme eines Verhandlungsabschlusses gezwungen wurden, den eine StellvertreterInnengruppe ausgehandelt hatte und den zu diskutieren sie keine Möglichkeit hatten. Recht besehen war das aber kein Problem der gewaltfreien Aktion, sondern ein Problem der mangelnden Basisdemokratie bei dieser Aktion. Doch die militanten KritikerInnen identifizierten dieses Vorgehen in der Folge mit Gewaltfreiheit, um sich populistisch davon absetzen zu können. Immerhin hatte der „Nackten“-Sonntag durch die positive Presse zu einem Anstieg der Mobilisierung geführt. Doch den neu zur direkten Aktion bereiten Menschen konnten die Kontroversen innerhalb der Bewegung nicht mehr vermittelt werden.

Es folgte wiederum nur eine Woche später, am 13.11. ein öffentliches Ultimatum von BI-Sprecher Alexander Schubart an die Landesregierung (wofür er später hart bestraft wurde), am 14.11. eine Massendemo mit 150 000 Menschen in Wiesbaden und am 15.11. schließlich die legendäre Flughafenblockade mit Blockade des Autobahnzubringers von mehreren Zehntausend Aktiven. Und hier drehte sich das medienpolitische Pendel, die Saat der Medienbetreuung durch die Polizei, die in Bussen redaktionelle Arbeitsplätze für JournalistInnen zur Verfügung stellte, ging auf. Im damaligen Bericht in der GWR hieß es zur Flughafenblockade:

„Nachdem sich viele Menschen friedlich vor dem Flughafen versammelt hatten und noch keine Scheiben zu Bruch gegangen waren, prügelte die Polizei die Leute weg. In dem entstehenden Chaos warfen endlich einige Frustrierte die von der Polizei provozierten Steine. Jetzt erst gingen am Terminal die Scheiben zu Bruch. Die Berichterstattung der Polizei war am Flughafen-Sonntag hervorragend. Wo sie in den Wochen vorher unkoordiniert und schlurig oft den Informationen der Bürgerinitiativen hinterherhinkten und ein schlechtes Image erhielten, war hier alles darauf ausgerichtet, daß die Polizei ihre Berichte durchbrachte, um die Startbahn-GegnerInnen zu diffamieren. Zu diesem Geschäft ließen sich unglaublicherweise auch Journalisten hinreißen, die sich noch vor einigen Wochen mit scheinbarem Wohlwollen gegenüber unserer Sache profilieren wollten. Ihnen ist aber inzwischen ihr Redaktionssitz wichtiger geworden als politische Moral. Der Staat konnte sich keine gewaltige gewaltfreie Aktion leisten, die womöglich Schule macht. (…) Darum wurden aus ein paar Militanten tausende gewalttätiger Demonstranten. Und die Polizei schlug zu, um einzuschüchtern und gewaltsame Reaktionen zu provozieren. Das Konzept ging auf. (…) Die Spitze war ein Film in der ‘Report’-Sendung vom 17.11., der direkt aus der Polizei-Schule kam. Es war zu sehen, wie vermummte Gestalten Steine in die (Polizei-)Kamera werfen. Für den Zuschauer vor der Glotze entsteht der Eindruck, die werfen auf uns. Psycho! Hier zeigt sich ein reibungsloses Zusammenspiel von Polizei und Presse. Bilder von Hunderten, die friedlich auf der Autobahn sitzblockierten, gab es dann erst in der taz.“ (3)

Obwohl die Militanz bei dieser gewaltfreien Massenaktion, der ersten Autobahn- und Flughafenblockade in der BRD- Geschichte, minimal war, bedeutete sie den Wendepunkt in der Massenmobilisierung innerhalb der Startbahn-Bewegung. Das mag auch mit dem Ultimatum-Aufruf zusammenhängen, wodurch die Flughafenblockade als Aktion den Charakter einer Entscheidungs“schlacht“ bekam, die zu „verlieren“ sich der Staat auf keinen Fall leisten konnte. An der gut organisierten und ebenfalls nur von minimaler Militanz begleiteten symbolischen Eintagesbesetzung des Bauloses II am 30.1.1982 beteiligten sich dann „nur“ noch 10 000 Menschen. Das Konzept „gewaltfrei, aber aktiv“ galt großen Teilen der Bewegung als gescheitert. In der GWR wurde die Losung „Gewaltfreiheit mit Helm“ kontrovers diskutiert, also die passive Schutzkleidung gegen Polizeiknüppel und Tränengas. Manch schnell entstandene gewaltfreie Aktionsgruppe löste sich wieder auf. (4)

III. Militante Zaunkämpfe bis zum 2.11.87

1984 war die Startbahn gebaut und in Betrieb genommen. Das Areal war durch eine Betonmauer zum Wald hin abgeriegelt. Nun schlug die Stunde der Autonomen. Aus den bereits seit 1982 entstandenen Sonntagsspaziergängen an der Mauer entsprangen immer wieder spontane Aktionen, bei denen mit Baumpflöcken Betonstreben aus der Mauer gebrochen wurden – für die Betreiber auf Dauer ein kostspieliger Schaden. Besonders nach Fertigstellung der Startbahn, etwa ab 1985, entstand aus diesen Aktionen eine militante Politik, die das Strebenknacken mit flankierenden Angriffen auf anrückende Polizei oder Wasserwerfer schützte. Benutzt wurden Steine, Mollis, Zwillen oder Leuchtpistolen. Es kam zur fröhlichen Sylvestermilitanz oder zu weniger fröhlichen Scharmützeln im Wald mit klaffenden Platzwunden.

Die anfänglich weggebliebenen BürgerInnen kamen zwischenzeitlich bis zu einem gewissen Grade wieder, die Frauen aus der „Küchenbrigade“ bekochten nun die meist männlichen militanten Kämpfer. Zwar wurde das Niveau aus der „Massenphase“ nie mehr erreicht, doch einige Tausend kamen schon mal wieder in den Wald. Die verbitterten BürgerInnen, die vormals den gewaltfreien Widerstand unterstützt hatten, befürworteten nun die Militanz. Dabei beteiligten sie sich jedoch kaum am Strebenknacken, sondern bildeten meist die passiven und auch mal klatschenden ZuschauerInnen. Zwar war das Strebenknacken lustig und wäre gut als gewaltfreie Aktion denkbar gewesen, doch die flankierenden Steinhagel und Angriffe machten sie zur eindeutig militanten Aktion, an der Gewaltfreie kaum noch ohne Selbstwiderspruch teilnehmen konnten. Auch die Graffitis an der Mauer deuteten auf den klar militanten, ja antigewaltfreien Charakter der Aktionen, je länger sie dauerten (z.B. das sprichwörtliche „Schwerter zum Flughafen“). Da die gewaltfreien AktivistInnen keine Aktionsalternativen zu bieten hatten oder sich einfach zurückzogen, kann bei dem, was nun kam, zumindest eines nicht unterstellt werden: daß Gewaltfreie die militanten MauerkämpferInnen in irgendeiner Weise gestört, gespalten oder sonstwie an ihren Aktionen behindert hätten. Im Gegenteil: die Schüsse vom 2.11.1987 können als beispielhaft für das analysiert werden, wohin die militante Konzeption eine soziale Bewegung führen kann, wenn sie sich ohne Widerspruch durchsetzt und voll durchgezogen wird.

Besonders nach dem Abflauen der Tschernobyl-Bewegung und den parallel in Wackersdorf stattfindenden Zaunkämpfen, die ohne unmittelbar zählbare Erfolge geblieben waren, aber sich besonders an der Startbahn eher zu immergleichen Ritualen entwickelt hatten, regte sich eine erste Kritik innerhalb des autonomen Spektrums, die von der Frankfurter „Lupus-Gruppe“ noch auf den ersten Libertären Tagen im April ‘87 in Frankfurt/M. vorgetragen wurde. Hier einige Ausschnitte dieser relativ radikalen Selbstkritik:

„Es gibt gerade unter uns eine Hierarchie der Wertigkeit, die zutiefst reaktionär ist, die die Widersprüchlichkeit zwischen Angsthasen und Furchtlosen, Drückebergern und Frontkämpfern, Wasserträgern und Fightern nicht aufhebt, sondern vertieft und kultiviert.“ Das betraf das Verhältnis zu den militanzbefürwortenden BürgerInnen, die sich zuvor noch bei den gewaltfreien Massenaktionen gleichberechtigt an der Aktion beteiligt hatten und nun nur Kulisse waren und blieben. Aktionen der Autonomen führten nach Lupus zum „Effekt einer 3-fachen Demobilisierung: 1. diejenigen, die unter dem Druck der Ereignisse keine Chance mehr sehen, dem etwas entgegenzusetzen, ziehen sich zurück. 2. diejenigen, die nicht direkt beteiligt sind, haben keine Lust (mehr), sich als Kulisse hirnrissiger Aktionen verheizen zu lassen, weil das militante Vorgehen für sie keinen kollektiven Schutz darstellt, sondern nur das Risiko, die Konsequenzen militanten Vorgehens individuell auszubaden. 3. schließlich jene, die unbedingt ihre Aktion durchziehen müssen und damit genau jenem Bild Nahrung geben, das Staat und Presse so gerne über uns verbreiten.“ Das führe zu informellen Hierarchien innerhalb der nichtorganisierten autonomen Bewegung: „Ohne jemanden sichtbar aus Entscheidungen auszuschließen, werden allzuoft Entscheidungen von wenigen getroffen und durchgepowert, von jenen, auf die es – unausgesprochen – ankommt.“ (5)

Interessant ist jetzt, daß diese Selbstkritik auf den Libertären Tagen im April 1987 diskutiert wurde und dort nach meiner Wahrnehmung auf große Zustimmung traf, daß trotzdem schon während der Libertären Tage ein Mauerspaziergang ganz nach dem alten Muster mit militanten Schlachten stattfand, und dann nur ein halbes Jahr später, am 2.11.87, zum 6. Jahrestag der Hüttendorfräumung, die Schüsse auf die Polizisten fielen (nach vielen Untersuchungen des Hergangs konnten die Schüsse zwar nicht den Festgenommenen und später Verurteilten nachgewiesen werden, aber die Analysen liefen darauf hinaus, daß sie tatsächlich aus den Reihen der DemonstrantInnen auf die Polizei abgegeben wurden, die Militanz bei den Zaunkämpfen hatte ein Niveau erreicht, bei dem das zumindest möglich war und auch nicht sofort bemerkt oder verhindert wurde). (6) Die unmittelbaren Folgen waren desaströs und bildeten das Ende der Startbahnbewegung: die Polizei konnte brutalste Repression nun öffentlich legitimieren, mehrere Wellen von Festnahmen führten zu einem Aussagekarussell der AktivistInnen mit peinlichen und erschreckenden gegenseitigen Beschuldigungen (bis hin zur Denunziation von TäterInnen bei Strommastsägeaktionen), die nur mühsam gestoppt werden konnten. Die kommenden Jahre hatten alle mit den Prozessen zu tun, die Bewegung war am Ende. (7)

Die Reaktionen aus dem autonomen Spektrum zum 2.11. waren ungefähr zweigeteilt: zunächst gab es eine Welle von erschreckten Erklärungen aus eher diffus sich zur autonomen Szene zählenden Gruppen und aus autonom-libertären Strömungen, in denen plötzlich ein Konsens beschworen wurde, nach welchem Schußwaffen bei der eigenen Bewaffnung tabu gewesen seien und jede/r das gewußt habe, das mache den Unterschied zwischen militanter und militärischer Politik aus. In einer zweiten Welle von Erklärungen meldeten sich dann eher die straffer organisierten marxistisch-autoritären und die antiimperialistisch orientierten Gruppen zu Wort und empörten sich über die angeblich naiven Betroffenheiten aus dem autonomen Spektrum. Ein süffisantes „Highlight“ von „Einigen Autonomen aus Göttingen“ zur Kostprobe:

„Dem Staat keinen Millimeter…, sondern neun Millimeter“ (die Tatwaffe war eine 9mm-Waffe Typ Sig-Saur, d.A.) „Im Moment irgendwelche Bullen abzuknallen kann nicht unsere Sache (sein). Abgesehen von der persönlichen Befriedigung (sic!; d.A.) ist an einer solchen Aktion nicht viel Positives nachvollziehbar. (…) Anders ist es, wenn es sich darum handelt, bestimmte Repräsentanten oder besondere Schweine umzuplätten. (…) Durch die Ereignisse an der Startbahn kommt es in diversen Papieren und Diskussionen erneut zu einer Nennung und Vermischung der Begriffe ‚militant‘ und ‚militärisch‘, die wir haarsträubend finden. (…) Der Gebrauch einer Knarre, ja selbst wenn es zwei oder drei gewesen wären, macht für uns noch lange (ganz lange) keine militärische Auseinandersetzung aus. Auch die Existenz von diversen Kleingruppen und dieser oder jener Bombenanschlag sind für uns keine militärische Auseinandersetzung. Für uns ist das alles militante Politik mit militanten Mitteln. (…) Eine militärische Auseinandersetzung setzt eine Organisierung und Ausrüstung voraus, die es hier momentan nicht gibt und auch in absehbarer Zeit nicht geben wird. Außerdem bedeutet sie eine Härte der Auseinandersetzung, die diese ‚Linke‘, die schon bei zwei toten Bullen fast einen Kollaps kriegt, keine fünf Minuten durchhalten würde.“ (8)

Daß der angebliche Konsens innerhalb der Autonomen nie einer war und immer von einer anderen autonomen Gruppe aufgekündigt werden konnte, verdeutlicht wie keine andere diese praktische Situation, in welcher Militanz einen Grad erreicht hatte, in welcher der Schußwaffengebrauch nur der nächste logische Schritt gewesen ist. Das Konzept der Militanz wird nie diesen sowohl theoretischen wie praktischen Widerspruch, der im Falle der Startbahnbewegung geradewegs in die Katastrophe führte, auflösen können: daß der behauptete festmachbare Unterschied zwischen militanter und militärischer Politik in Wirklichkeit fließend ist und von der Bestimmung her völlig willkürlich.

Noch ein Beispiel, um den Unterschied zu verdeutlichen: die Stadtguerilla „Revolutionäre Zellen“ (RZ) hat mitten in der „Massenphase“, am 11. Mai 1981, den hessischen Wirtschaftsminister Karry, der immerhin nur ein Jahr vorher den Bauvollzug durchsetzte, ermordet. Die bewaffneten DilletantInnen wollten Karry eigentlich nur zur Warnung ins Knie schießen, zielten aber schlecht und so starb er halt, was die RZ in einer Erklärung dann tatsächlich als „Unfall“ (9) bezeichneten. Doch obwohl die RZ mit ihrer „Aktion“ die Startbahnbewegung unterstützen wollten, konnte die staatliche Repression – noch dazu in der „Massenphase“, als sie verzweifelt nach Vorwänden suchte – aus diesem dilettantischen politischen Mord keinen Nutzen ziehen, um die Bewegung zu spalten, weil sich diese so eindeutig auf das Konzept „gewaltfrei, aber aktiv“ bezog, daß sie damit nicht desavouiert werden konnte. Mit Distanzierung hat das übrigens gar nichts zu tun, sehr viel aber mit einer kritischen Solidarität, die ihren Namen nur verdient, wenn sie die Kritik gegebenenfalls auch einmal deutlich ausspricht.

(1) vgl. Gerd Panzer: Selbstorganisierte Verteidigung. Das Beispiel des Kampfes gegen die Startbahn West in Frankfurt, in: Wege des Ungehorsam II, Kassel 1986, S.102-127, hieraus auch viele weitere Informationen für diesen Artikel, zur Spitzelproblematik siehe S.117 und GWR 59: Von der Startbahn zur Staatbahn

(2) GWR 61, S.19.

(3) GWR 61, S.18.

(4) vgl. GWR 61: Gewaltfreiheit mit Helm, S.14ff. und GWR 63: Wir wollen nicht mehr zur GA!, S.10.

(5) Autonome Ff/M: Bestimmungen sozialer und gesellschaftlicher Bedingungen aus sozialrevolutionärer Sicht, in: Reader zu Libertäre Tage; vgl. auch: GWR 115: Jetzt nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Versuch einer Auseinandersetzung mit den libertären Tagen, S.25ff.

(6) vgl. zum genauen Hergang mehrere Artikel in Doku 2.11.87. Berichte, Stellungnahmen, Diskussionen zu den Schüssen an der Startbahn West, hrsg. ID Archiv im IISG, NL, März 1987.

(7) vgl. GWR 134: Startbahn-Prozesse, S.10f.

(8) vgl. Doku 2.11.1987, S.245.

(9) RZ: Barrikaden sind überall, in: Revolutionärer Zorn Nr. 107, S.13.