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Die nächsten Schritte

Was macht die Anti-AKW-Bewegung mit rot-grüner Atompolitik?

| Jochen Stay

Regierungen bekommen in der Regel nach der Übernahme der Amtsgeschäfte eine „Schonfrist“ von 100 Tagen eingeräumt, damit sich die ProtagonistInnen an ihre neue Rolle gewöhnen können und sich in der veränderten Situation zurechtfinden.

Auch die Anti-AKW-Bewegung scheint nach dem 27. Oktober 1998, als Gerhard Schröder von einer rot- grünen Mehrheit im Bundestag zum Kanzler gewählt wurde und Jürgen Trittin Bundesumweltminister wurde, diese 100-Tage-Frist für sich in Anspruch zu nehmen.

In den ersten Monaten nach dem Regierungswechsel wurden die Schlagzeilen von der Propaganda der Atomwirtschaft beherrscht, die nachweisen möchte, daß – wenn schon nicht die Lichter ausgehen – der Ausstieg aus der Atomenergie die Volkswirtschaft und das Klima ruiniert. Demonstrationen gibt es – wenn überhaupt – nur von der von Arbeitslosigkeit bedrohten Belegschaft von Atomanlagen.

Die Bewegung meldete sich kaum zu Wort. Ein Teil der Aktiven scheint tatsächlich Hoffnungen auf rot-grüne AusstiegsVersprechungen zu setzen. Ein anderer Teil der Initiativen verstand sich in den letzten Jahren nur noch Anti- Castor-Bewegung und hat zur Zeit aufgrund des Transportestopps wenig zu tun. Doch viele Initiativen und Aktionsgruppen brauchten einfach erstmal Zeit, um die veränderte Situation zu begreifen und zu analysieren.

Doch jetzt im Januar scheint es endlich soweit zu sein: Es werden Nägel mit Köpfen gemacht. Auf gleich vier größeren überregionalen Treffen sollen diverse Vorhaben beschlossen oder weiterentwickelt werden.

Atommüll-Standorte-Treffen

Am 9. Januar trifft sich in Göttingen bereits zum dritten Mal das auf der letzten Anti-Atom-Herbstkonferenz in Berlin gegründete „Atommüll-Standorte-Treffen“. Dort arbeiten sowohl die BIs der „klassischen“ Entsorgungs-Standorte (Gorleben, Konrad etc.) mit, als auch die AktivistInnen aus den Regionen der potentiellen zukünftigen Zwischenlager, d.h. alle AKW-Standorte.

Drei konkrete Themen werden in Göttingen im Mittelpunkt stehen:

Koordination der Aktivitäten gegen den Bau von dezentralen Zwischenlagern: Die neuen Castor-Hallen würden den AKW-Betreibern das Leben leicht machen. Deshalb ist es wichtig, den Neubau dieser Atomanlagen zu verhindern, damit es nicht gelingt, die Atommüll-Misere zu verschleiern. Am AKW Lingen ist der Bau schon beantragt, auch in Neckarwestheim wurden entsprechende Pläne publik. Es wird also Zeit, den der Bewegung eigenen Sachverstand zum Thema Zwischenlager in einer bundesweiten Arbeitsgruppe zu bündeln und damit die betroffenen Standort-Initiativen optimal zu unterstützen. Wichtig ist die genaue Absprache in diesem Bereich auch deshalb, damit es nicht gelingt, die verschiedenen Initiativen („alte“ und „neue“ Zwischenlager-Standorte) gegeneinander auszuspielen.

Aktionen zum offiziellen Beginn der Atomkonsens-Gespräche: Voraussichtlich Ende Januar soll in Bonn die erste Verhandlungsrunde zwischen Atomwirtschaft und Bundesregierung stattfinden. Vor den Toren soll demonstriert und agiert werden. Geplant sind Aktionen, an denen sich aus allen Teilen der Bewegung Aktive beteiligen. Gerechnet wird mit mehreren hundert TeilnehmerInnen.

Entwicklung einer Struktur für eine „Ausstiegs-Kampagne ’99“: Die Konsensgespräche werden ein Jahr dauern. Danach wird die Bundesregierung je nach gesellschaftlicher Stimmung entscheiden. Im Augenblick tut die Atomindustrie alles, um diese Stimmung zu ihren Gunsten zu kippen. Da macht es aus Bewegungssicht auf die Dauer wenig Sinn, immer nur auf die Grünen zu schimpfen. Es ist notwendig, selbst Druck aufzubauen. Dazu sind bisher folgende Elemente vorgeschlagen:

  • Großangelegte Info-Offensive, um einerseits alle potentiellen AtomkraftgegnerInnen die aktuelle Lage zu erläutern. Schließlich meinen wirklich viele, der Ausstieg sei nun beschlossen und es gäbe keinen Grund mehr, aktiv sein zu müssen. Andererseits geht es auch darum, der Propaganda der Atomwirtschaft öffentlich etwas entgegenzusetzen.
  • Aufbau eine breiten gesellschaftlichen Bündnisses, um die Atomausstiegsforderung nicht den Grünen zu überlassen, sondern gemeinsam mit vielen Gruppen (Umweltverbände, Gewerkschaften, Energiewende- AktivistInnen, Kirchen, Jugendverbände, Wirtschaftszweig regenerative Energien etc.) in der öffentlichen Debatte präsent zu sein. Das Gründungstreffen dieses Bündnisses soll möglichst noch im Februar stattfinden.
  • Dezentrale Info- und Aktionswoche rund um den Tschernobyl-Jahrestag Ende April. Damit soll die Basis der Bewegung gefestigt und verbreitert werden. Es geht um Präsenz in der Öffentlichkeit, um Informationsvermittlung, um den Aufbau neuer regionaler Kontakte, um erste konkrete Aktionsansätze.
  • Großdemonstration oder Großaktion im Juni oder Oktober, getragen vom „breiten Bündnis“, in der Hoffnung, daß es bis dahin gelingt, möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, daß es wieder nötig ist, für den Atomausstieg auf die Straße zu gehen.

„X-tausendmal quer – überall“

Am gleichen Wochenende (8.-10. Januar) findet in Saasen bei Gießen ein Planungswochenende der Kampagne „X- tausendmal quer – überall“ statt. Da zur Zeit überhaupt nicht absehbar ist, wie lange der augenblickliche Transporte-Stopp noch anhält, ist es von großer Notwendigkeit, die Vorbereitungen für die angekündigte große gewaltfreie Sitzblockade für den ersten Castor zu forcieren.

Die Kampagne hat in den letzten Monaten einerseits intensiv an einer inneren Arbeitsstruktur gebastelt, die es ermöglicht, daß zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen aus dem ganzen Bundesgebiet aktiv an der Kampagne mitwirken können. Anderseits liegt der Schwerpunkt natürlich auf der Verbreitung des Aufrufes und der Mobilisierung für die mögliche Aktion. Der bisherige Rücklauf an Absichts- und Solidaritätserklärungen ist beachtlich, wenn mensch bedenkt, daß augenblicklich kein konkreter Transporttermin ansteht. Wenn die Zahlen der täglich eintreffenden Briefe konstant bleiben, dann werden bis zum Planungswochenende etwa 800 Menschen in die Kampagne eingestiegen sein.

Neben diversen organisatorischen Themen wird es in Saasen um folgendes gehen:

Kann das Aktionsfeld der Kampagne „X-tausendmal quer – überall“ ausgeweitet werden? Konkret geht es darum, herauszufinden, ob neben der weiter notwendigen Vorbereitung auf den nächsten Castor noch andere Handlungsbereiche dazukommen können. Beteiligt sich die Kampagne in irgendeiner Weise am Widerstand gegen die dezentrale Zwischenlagerung, damit auch dieser vermeintliche Entsorgungs-Weg für die Betreiber verschlossen bleibt? Werden eigene Aktivitäten zu den Konsensgesprächen gestartet? Beteiligt sich „X-tausendmal quer – überall“ am breiten Bündnis für die „Ausstiegs-Kampagne ’99“?

„Forum Nichtregierungsorganisationen (NGOs) & Gewerkschaften“

Am 16. Januar trifft sich in Hannover das „Forum NGOs und Gewerkschaften“. Hier ist in den letzten Monaten schon der Ansatz eines breiten Bündnisses entstanden, dem es allerdings nicht nur um den Atomausstieg geht, sondern in dem auch Verkehrs-, Agrar- und Baupolitik eine Rolle spielen. Beim Januar-Treffen werden wahrscheinlich folgende Ideen weiterverfolgt:

Atomausstiegsgespräche: Parallel zu den Atomkonsensgesprächen zwischen Regierung und AKW-Betreibern sollen die „Ausstiegsgespräche“ stattfinden, um öffentlich zu zeigen, daß es noch wesentlich andere Standpunkte in der Debatte gibt, als diejenigen von Atomwirtschaft und Gerhard Schröder. Die „Ausstiegsgespräche“ werden die Konsensverhandlungen über das ganze Jahr „begleiten“, jeweils mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten, jeweils mit der Bündelung bewegungsinternen und -externen Sachverstandes und jeweils mit einer Pressekonferenz zur Erläuterung der erzielten Ergebnisse.

Kongreß „Atomausstieg – Energiewende – Arbeitsplätze“ im Herbst 1999: Das Motto steht noch nicht fest, da es gut sein kann, daß neben dem Energiethema auch die anderen Stränge des Forums „NGOs und Gewerkschaften“ hier einfließen sollen. Jedenfalls soll es ein Großkongreß (500 – 800 TeilnehmerInnen) werden, der voraussichtlich in Hannover stattfinden wird. Federführend in der Vorbereitung ist für das Forum die Gewerkschaft IG BAU (Bau Agrar Umwelt)

Vernetzung zum 1. Castor

Vierter Termin im Januar ist ein Vernetzungstreffen aller Initiativen und Kampagnen, die bereits Vorbereitungen für einen möglichen nächsten Castor-Transport treffen. Ort und Zeit stehen noch nicht endgültig fest, wahrscheinlich wird Münster der Tagungsort sein. Beteiligung erhofft wird

  • von den Zwischenlager-Standorten Ahaus, Gorleben und Greifswald. Denn es stehen z.B. in La Hague sechs Behälter abfahrbereit zum Transport nach Gorleben.
  • von den Standorten Rossendorf und Rheinsberg. Beides sind abgeschaltete Ost-Reaktoren (In Rossendorf bei Dresden ein Forschungsreaktor), deren Brennelemente demnächst auf Reisen geschickt werden sollen (von Rheinsberg nach Greifswald und von Rossendorf nach Ahaus).
  • von den AKW-Standorten Ohu, Neckarwestheim und Biblis, weil an diesen Reaktoren bereits leere Castor- Behälter angeliefert wurden.
  • von den AKW-Standorten Stade, Krümmel und Philippsburg, weil dort (neben Biblis und Neckarwestheim) die Abklingbecken fast voll sind. Damit ist hier die Dringlichkeit, wieder zu transportieren, am höchsten.
  • von den Initiativen entlang der deutsch-französischen Grenze (z.B. Freiburg, Karlsruhe, Saarbrücken, Trier), weil es dort massiven Widerstand geben soll, falls die Transporte zur Wiederaufarbeitung wieder aufgenommen werden sollten.
  • von der Kampagne „X-tausendmal quer – überall“, die schon seit Monaten standortunabhängig eine Aktion für den nächsten Castor vorbereitet.
  • von allen weitere Initiativen, die zu Castor-Transporten arbeiten.

Thema wird sein, wie entsprechende Infrastrukturen aufgebaut werden können, obwohl noch nicht bekannt ist, von wo nach wo der nächster Castor rollen wird. Auch die Abstimmung der Aktivitäten mit denjenigen Initiativen, die jetzt in den Widerstand gegen die dezentralen Zwischenlager einsteigen, wird ein wichtiger Punkt auf der Tagesordnung sein.

Was tun?

Alles in allem werden im Januar viele Leute oft an vielen Tischen sitzen, viel Papier wälzen und viel reden. Das ist natürlich nicht nach dem Geschmack von Aktionsgruppen, die es lieber etwas praktischer haben. Nachdem sich viele Gruppen in den letzten Jahren völlig auf „Wie-halte-ich-den-Castor-möglichst-lange-auf“-Aktionen spezialisiert haben, steht nun die Frage im Raum, welche Konsequenzen diese Szene aus der veränderten Situation zieht.

Wird einfach weiter an der ultimativen Aktion für den nächsten Transport gebastelt? Oder planen einige Gruppen schon für den Auftakt der Konsensgespräche in Bonn? Müssen sich Büros und Geschäftsstellen von AKW-Betreibern und Regierungsparteien in den nächsten Monaten des öfteren auf ungebetenen Besuch einstellen („und dann haben wir uns Schreibtisch von Trittin festgekettet“)?

Die praktische Ebene des Widerstandes wird – zumindest so lange der Transporte-Stopp noch hält – nicht mehr so eindimensional wie in den letzten Jahren bleiben (Castor fährt von A nach B – Wir stellen und quer). Doch weder große Latschdemos im breiten Bündnis, noch wissenschaftliche Kritik bei Pressekonferenzen und Kongressen, weder Einwendungskampagnen gegen den Neubau von Zwischenlagern noch das Organisieren von Infotischen in der Fußgehzone haben per se die nötige Attraktivität. Schließlich sind wir alle durch die Aktionen der letzten Jahre ziemlich verwöhnt.

Notwendig wäre also vielleicht noch ein weiteres Treffen – oder viele kleine: Als Thema bietet sich die Frage an, wie es gelingen kann, den Widerstand der nächsten Monate sowohl effektiv als auch attraktiv zu gestalten. Zwischenlager-Bauplätze besetzen? Bauverkehr blockieren? Konsensgespräche stören? Inbetriebnahme der PKA Gorleben verhindern? Laufende AKWs dichtmachen? Transporte mit Uranhexafluorid oder mit frischen Brennelementen stoppen? Stromkonzerne ärgern?

Lassen wir uns überraschen!