Gero Gemballa: Colonia Dignidad. Ein Reporter auf den Spuren eines deutschen Skandals, Campus-Verlag, Frankfurt/New York 1998, 213 S., 36 DM.
„Als Kolonie der Würde, als Colonia Dignidad, hat sich eine Gruppe von Deutschen in Chile angesiedelt…“ (S. 9), versteckt hinter sauberen Fassaden und mit Blumenrabatten dekoriert.
Der äußerliche Schein trügt. Die Wahrheit ist, daß sich im Süden Chiles eine kriminelle Sekte angesiedelt hatte. Folter, Kindesmißbrauch, extreme Menschenrechtsverletzungen standen auf der Tagesordnung. Für General Pinochet und seine faschistischen AnhängerInnen in Chile war dieser deutsche Kleinstaat ein nützlicher Handlanger, um den Umsturz der Allende-Ära sorgsam einzuleiten.
Die Führer dieser kriminellen Sekte – zumeist ehemalige Nazis – verbündeten sich mit den reaktionären und faschistischen Kräften in Chile. Gemeinsam organisierten sie den Mord an Salvador Allende. „Die deutsche Enklave wurde zum Ausgangspunkt des chilenischen Militärputsches, der im September 1973 die Diktatur Pinochets einleitete.“ (S. 91)
Obwohl der Weltöffentlichkeit die verbrecherischen Machenschaften dieser Sektengemeinschaft seit Beginn der 60er Jahre schrittweise aufgedeckt wurden (S.213f), konnte Colonia Dignidad bis heute als Staat im Staate Chile stabil überleben. Zwar wurden dem Sektenführer Paul Schäfer und seiner engeren Führungsclique gewisse „Verfehlungen“ (sprich: sexueller Kindesmißbrauch) vorgeworfen. Jedoch nagte dieser Tatbestand nicht an dem heilen Image dieser Kolonie: „Die beste Butter, die man in Chile kaufen könne, stamme aus der Colonia Dignidad“ (S. 119), „es handle sich bei den Deutschen im Süden um so etwas wie einen Kibbuz“ (S. 119), es gebe dort keine Arbeitslosigkeit, keinen Wohnungsmangel und Ausbildungschancen für alle.
Wie konnte das überhaupt so perfekt funktionieren, daß eine anfänglich kleine Gemeinschaft von religiösen FanatikerInnen in diesem lateinamerikanischen Land ein umfangreiches Maß an politischem Einfluß gewann? Colonia Dignidad ist kein mysteriöses Zufallsprodukt. Im Nachkriegs-Deutschland gegründet als gemeinnütziger Verein, sowie (dann später) als „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, entpuppte sich die kriminelle Sektengemeinschaft in Chile rasch zu einem einflußreichen Multinationalen Konzern sowie zum Staat im Staat.
Wie kam Deutschland nach Chile?
1961 wurden die ersten Sektenmitglieder als Vorauskommando nach Chile geschickt. In Santiago war inzwischen ein Haus gekauft worden, im Süden gab es offensichtlich schon ein bereitgestelltes Landgut, das die frommen ChristInnen bewohnen sollten. Sektenführer Paul Schäfer und sein enger Mitarbeiter, der Baptistenpfarrer Hugo Baar, hatten die für die Kolonie in Frage kommenden Menschen schon seit einem längeren Zeitraum intensiv beeinflußt und dementsprechend bearbeitet. Im Gemeinschaftsraum des Wohnhauses der Sekte in Siegburg/Rheinland wurden die Gläubigen vor die letztendliche Wahlentscheidung gestellt:
„Auf einem Tisch liegt ein weißes Blatt Papier. In zwei Spalten können die Bewohner ankreuzen, ob sie im untergehenden Deutschland bleiben oder zum Paradies aufbrechen wollen.“ (S. 80)
Fast alle von ihnen entschieden sich für das Paradies in Chile. „Hugo Baar hatte zuvor schon Sektenmitglieder davon überzeugt, sich ihre Rentenansprüche auszahlen zu lassen, die Häuser zu verkaufen und die Sparbücher aufzulösen.“ (S. 79)
Die Geschäftsführer der Gemeinde sowie Inhaber der gemeindeeigenen Lebensmittelgeschäfte organisierten inzwischen diskret die Übertragung von Lebensversicherungsansprüchen und privatem Vermögen. Und schließlich wurde das Missionshaus in Lohmar-Heide für 900 000 DM an die Bundeswehr verkauft (S. 81). Die Erlöse wanderten in die Gemeindekasse als Startkapital für die Koloniegründung.
„Wer seine Kinder wiedersehen will, der muß sich auf den Weg nach Chile machen.“ (S. 81)
Die leiblichen Eltern der im Gemeindeheim lebenden Minderjährigen wurden um ihre Unterschriften auf Paßantragformulare gebeten. Begründung: Eine Chorreise ins europäische Ausland stehe bevor und um mit den Kindern verreisen zu können, müßten jetzt Pässe beantragt werden. Die zu Gehorsam und Pflicht getrimmten Eltern beantragten Pässe für ihre Kinder, ohne zu ahnen, daß Schäfer und Baar eine Kindesentführung – größeren Umfangs – geplant hatten. Die Kinder wurden in einen Bus gesetzt, angeblich um zu der Chorreise nach Belgien aufzubrechen. Die Wahrheit ist, daß sie direkt zum Flughafen nach Frankfurt und nach Luxemburg gebracht wurden. Dort wurden sie ins Flugzeug gesetzt und nach Argentinien geflogen; von dort aus ging es dann weiter nach Chile (S. 80).
„Das Bundesfamilienministerium, der Siegburger Bürgermeister und der chilenische Botschafter in Bonn hatten der Reisegruppe Empfehlungsschreiben ausgestellt.“ (S. 80) Tatsache ist, daß Schäfer und Baar eine verbotene Massenauswanderung organisiert hatten, welche von ihnen – bereits Jahre zuvor – vorausgeplant worden ist. „Schon früh waren heimlich von ihnen alle Unterlagen für eine Auswanderung beschafft, allmählich der Kontakt zum chilenischen Botschafter in Bonn, Arturo Maschke, einem erklärten Deutschen-Freund, aufgebaut worden.“ (S. 79)
Erschreckend ist, daß die deutschen Gerichte zu diesem Vorfall schwiegen, keine offizielle Stelle reagierte, auch die Polizei nicht, die Paul Schäfer schon seit längerer Zeit mit internationalem Haftbefehl suchte (Anklage wegen Kindesmißbrauch an Jungen im Kindes- und Jugendalter). Eltern, die vor Gericht um ihre verschwundenen Kinder kämpften, fanden kein Gehör. Die Mär vom christlichen Verein hilfsbereiter AussiedlerInnen war stärker als die „konkreten Ermittlungsergebnisse“ (S. 81).
Auch die chilenische Botschaft, das Auswärtige Amt, die deutsche Botschaft in Chile sowie das Justiz- und Bundesfamilienministerium glaubten es gerne: „fromme Menschen suchen ihr Glück in der Wildnis.“ (S. 81) Die Vorwürfe gegen Paul Schäfer wurden als Verleumdung abgetan.
„Arbeit ist Gottesdienst“ (S. 82)
Am 21. September 1961 wird mit einem Dekret des chilenischen Innenminsteriums die „Sociedad Benefactura y Educacional Dignidad“ zur juristischen Person ihres Landes. Das 1800 Hektar große, schlammige und unwegsame Gelände – das Landgut bestand aus einem halbverfallenen Steinhaus und einigen Holzhütten – mußte von den Ankömmlingen zunächst mit Schwerstarbeitseinsätzen bewirtschaftet werden. Mit der Paradies-Erwartung war es nun aus. „Der Aufenthalt in Chile wurde für Paul Schäfers Gefolgsleute eine Gefangenschaft mit Zwangsarbeit.“ (S. 83) Jeglicher persönlicher Besitz wurde rigoros abgeschafft, geschlafen wurde auf Krankenhaus- und Feldbetten, die heuchlerischerweise als mildtätige Spenden in Deutschland erbettelt und von dort nach Chile geschickt worden sind. Eigentlich errichteten die damals handwerklich tätigen EinwanderInnen jetzt ihre eigene Falle: während über große Lautsprecher das Gelände mit Marschmusik beschallt wird, roden die ArbeiterInnen den Wald und errichten die Betonpfeiler für die spätere staatsähnliche Stacheldrahtgrenze mit davorliegendem Sicherheitsstreifen. Zwar dürfen die ArbeiterInnen mitsingen, eine freiwillige Ausreise oder gar Fluchtmöglichkeit aus diesem von der Außenwelt abgeschnittenen Staats-Gehege gibt es jedoch nach der Errichtung der doppelten Stacheldrahtumzäunung nicht mehr! Nur äußerst wenigen Menschen gelingt später die Flucht, zumeist sind es männliche Jugendliche, welche dann der Außenwelt vor Gericht und vor der Presse über die subtil angelegten repressiven Zustände dieser Kolonie Bericht erstatten können (S. 115-153).
Bald nach der Ankunft der ins „Paradies“ Eingewanderten wird ein internes Strafsystem eingerichtet. „Wer sich über die viele Arbeit beschwert, Heimweh zeigt oder Zweifel an Schäfers Allmacht anmeldet, wird entsprechend bestraft: Er bekommt Prügel, wird eingesperrt oder im Krankenhaus mit Psychopharmaka behandelt, erhält Sprechverbot und darf sich nicht unbewacht auf dem Gelände bewegen.“ (S. 84)
Colonia Dignidad bietet in erster Linie: harte Arbeit in Handwerk und Landwirtschaft sowie in der Gastronomie für die kolonieeigenen Ertrags-Gaststätten. Exportierte Nahrungsmittel, vermarktet als „Ökoprodukte“, sind auf deutschen und chilenischen Tischen recht beliebt.
Wohlbemerkt handelt es sich stets um Arbeit ohne Lohn, denn Kost und Logis sind für alle – in geschlechtergetrennten Gemeinschaftsunterkünften – „frei“ vorhanden. Chilenische ArbeiterInnen aus der näheren Umgebung erhalten zwar einen Mindestlohn, jedoch ohne Sozialversicherung. Ein Krankenhaus, eine Schule sowie ein Internat bilden das „sozio-kulturelle Inventar“ von Colonia Dignidad. In der Schule arbeiten unausgebildete Lehrer. Und in dem Internat wohnen männliche Jugendliche, aus verarmten chilenischen Verhältnissen. Sie sind aus Gründen vermeintlicher „christlicher Barmherzigkeit“ im Internat untergebracht. Die Wahrheit ist, daß sie dem Pädophilen Paul Schäfer für „Sprinter-Dienste“ (S. 207f) zur Verfügung stehen müssen.
Eine Kommune ohne frei wählbare Formen des Zusammenlebens
Ein Familien- oder Intimleben, in dem sich Menschen in freier und selbständiger Entscheidung für ihnen jeweils angemessen erscheinende Lebensformen zusammenschließen, gibt es in der Colonia Dignidad schlichtweg nicht. Es bestehen außerdem realistische Vermutungen, daß viele Kinder dieser Kolonie aufgrund von „künstlicher Befruchtung“ entstanden sind, teilweise leben dort ebenso entführte Kinder. Beispielsweise wurden chilenische Babies ihren Müttern nach der Geburt im Kolonie-Krankenhaus entrissen und auf Befehl des Sektenführers einigen wenigen von ihm auserwählten Ehepaaren als deren eigene Kinder ins Gemeinderegister eingetragen. Zalo Luna, ein 18-jähriger Freund des Flüchtlings Tobias Müller (S. 199) hat als Zeuge vor dem chilenischen Gericht ausgesagt:
„Sexuelle Kontakte seien in der Kolonie streng verboten. Es gebe aber einen Kindergarten voller Kinder, von denen niemand wisse, woher sie stammen. In der Kolonie hätten Experimente mit künstlicher Befruchtung stattgefunden.“ (S. 199)
Tatsache ist, daß Frauen, die im Kolonie-Krankenhaus entbunden haben – speziell Chileninnen, die im weiteren Kolonie-Umfeld wohnten – für Experimente künstlicher Befruchtung zur Verfügung stehen „mußten“ (S. 200).
Das Buch von Gero Gemballo ist eine gelungene Reportage, spannend und atemberaubend zu lesen. Darüber hinaus ist es eine wichtige und sorgfältig recherchierte Dokumentation. Zu einseitig wäre es jedoch, die Aufdeckung dieses politischen Skandals lediglich als Bestätigung menschlicher Vergehen und perfekt organisierter Greueltaten zu begreifen. Die Antwort wäre dann lediglich: Resignation sowie die Überzeugung, daß Formen zivilen Ungehorsams und organisierte Menschenrechtsarbeit gegen totalitär organisierte Staatsgebilde von vorneherein nichts ausrichten können.
Denn selbst eine recht etablierte Menschenrechtsorganisation wie Amnesty International hatte es massiv schwer, mit der Anklage gegen die Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Kolonie – sowie auch insbesondere gegen die eindeutig nachgewiesenen brutalen Foltermethoden an chilenischen RegimekritikerInnen – öffentlich anerkannt zu werden (S. 96-108).
Es gibt Fragen, welche für mich nach dem Lesen des Buches offen geblieben sind: Wie ist es möglich, daß eine Gruppe von erwachsenen, offensichtlich verunsicherten Nachkriegsdeutschen sich so bedingungslos gläubig einem fanatischen religiösen Guru und dessen Gehilfen unterwerfen konnte bzw. wollte? Denn diese Art von praktiziertem totalem Gehorsam ist gewissermaßen die Grundbasis für das Gelingen dieses deutschen Kleinstaates, in dem äußerlich Ruhe und Ordnung herrschen, real aber Angst und Ohnmacht hinter sauberen deutschen Fassaden versteckt gehalten werden.
Und: Sind die TäterInnen ausschließlich die Führer und die aktiv beteiligten Menschen der Kolonie, die Folterschergen Pinochets, die OrganisatorInnen des Waffenhandels für die Militärs? Sind nicht eigentlich wir als Zuschauer- und BetrachterInnen dieser politisch organisierten Verbrechen die versteckten MittäterInnen?