Wenn es um Libertären Kommunalismus geht, wird aus den Reihen des spanischen Anarchosyndikalismus hart geurteilt. Über die erste Konferenz, die vergangenen Sommer in Lissabon zum Thema stattfand, heißt es in einem offenen Brief: ‚es handelt sich eindeutig um ein reformistisches Manöver unter dem Vorwand, die Kräfte des militanten Anarchismus in die politische Kollaboration umzuleiten‘ (Asociacion Internacional de los Trabajadores). Der Begriff libertärer Kommunalismus stammt vom us-amerikanischen Anarchisten Murray Bookchin. Grob gefaßt bezeichnet er eine Initiative zur Wiederbelebung von Basis- oder Direktdemokratie. Der Ton der Auseinandersetzung darum klingt nach Bruderstreit in der Familie des Anarchismus und unzeitgemäß dazu. Die dumme linke Tradition, im Streit um das rechtmäßige Erbe der ideologischen Überväter gesellschaftspolitische Irrelevanz zu kompensieren, scheint also auch bei den Libertären um sich zu greifen. Allerdings läßt sich der libertäre Kommunalismus m.E. auch gewinnbringender jenseits der Familien- oder Stammesfehde befragen. Einerseits danach, was seine Zeitdiagnose taugt, und zum anderen nach dem woher und wohin seiner Zielvorstellungen. Einen Anlaß dazu gibt das Buch von Janet Biehl, das jetzt im anarchistischen Trotzdem-Verlag erschienen ist (vgl. Besprechung in GWR 232). Sie erklärt und erläutert darin die Ideen Bookchins, der sich als Weiterentwickler anarchokommunistischer Vorstellungen begreift.
Und um mich im folgenden wichtigerem widmen zu können, das Fazit vorneweg: Biehls Buch enthält für Bookchin-KennerInnen nicht viel neues. Das Interview, das Biehl im Anhang mit dem Altanarcho führt, stellt die richtigen Fragen und gibt so vielleicht mehr Aufschluß über dessen Intentionen als die doch oft schemenhafte Zusammenfassung im Hauptteil des Buches. Wer eine bündige Einleitung in eine Strömung des gegenwärtigen Anarchismus sucht, wird auf jeden Fall hier fündig.
Geschichte, einmal anders
Das Konzept Bookchins fußt auf einer zunächst ungewöhnlichen Geschichtsbetrachtung. Nicht der menschliche Kampf gegen die Natur habe zu Unterwerfung geführt, sondern die Herrschaft über Mensch und Natur sei erst die Folge der Ausbildung sozialer Hierarchien. Es läßt sich als ein durchaus lobenswertes Projekt bezeichnen, im Anschluß an diese These die Geschichte zu durchforsten auf der Suche nach hierarchiefreien sozialen Zusammenhängen. Ergebnis einer solchen und von Bookchin betriebenen Studie ist vor allem, daß es bezüglich gesellschaftlicher Organisierung stets Alternativen zum Staat, insbesondere zum Nationalstaat gab (nachzulesen vor allem in Bookchins ‚Die Neugestaltung der Gesellschaft‘, Grafenau 1992) . Die Ablehnung des entmündigenden Nationalstaats gehört folglich ebenso zu Bookchins essentials wie die Verdammung kapitalistischen Wirtschaftens wegen ihrer zerstörerischen Auswirkungen. Dieser setzt er eine nur grob umrissene ‚moralische Wirtschaft‘ entgegen. Ein Gefühl gegenseitiger Verpflichtung soll das Konkurrenzstreben des Kapitalismus ablösen und ist somit die Voraussetzung für eine sogenannte ‚rationale Gesellschaft‘, die als Gegenmodell zum Nationalstaat gedacht ist. Bookchin unterscheidet hier begrifflich Staatsräson von Politik. Eine Differenzierung, die einerseits den Staatsbegriff historisiert, d.h. Staat als geschichtlich gewordene und damit veränderbare Herrschaftsformation begreift. Und andererseits wird Politik als öffentliche Regelung gemeinschaftlicher Interessen reformuliert. Dann wird die abstrakte Größe ‚gemeinschaftliche Interessen‘ in die konkrete Vorstellung von der ‚Gemeinde‘ übersetzt, und fertig ist das revolutionäre Subjekt. Ausgehend von der Selbstverwaltung der griechischen polis ist das Objekt seiner umstürzlerischen Begierde nämlich ‚die Stadt‘. Im Gegensatz beispielsweise zur klassischen Soziologie, für die der Nationalstaat immer auch der Garant bürgerlicher Freiheiten und moralischen Zusammenlebens war, feiert Bookchin die Stadt als Ort möglichen politischen Lebens. Selbstverständlich im Sinne von direkter Demokratie. Denn ebenfalls anders als in soziologischen Zeitdiagnosen, denen die moderne Stadt ja gerade die prototypische Schaubühne individualisierten Lebens war und ist, geht der libertäre Kommunalist von gemeinsamen Interessen aus. Wo die Insassen des sozialen Raums sich laut Soziologie in völliger Fremdheit begegnen, liegt für Bookchin im Gegenteil die Möglichkeit für gemeinschaftlich motiviertes Handeln. In Anlehnung an die historischen BürgerInnenversammlungen in Neuengland, an die Pariser Commune oder eben die polis sollen in freien Versammlungen freie Entscheidungen aller getroffen werden. Im gemächlichen Aufbau solcher basisdemokratischen Strukturen und Institutionen soll dann irgendwann der unausweichliche Konflikt mit dem Nationalstaat gesucht werden, der bekanntlich seine Herrschaft nicht freiwillig abgibt.
Anarchismus, one & only
Auch Anarchoklassiker Bakunin war seinerzeit davon ausgegangen, es gäbe einen praktisch orientierten, gesunden Menschenverstand, der gerade in kommunalen Belangen deutlich werde und im Gegensatz zum Interesse des Staates stünde. Hier aber stößt die Theorie an die Realität und prallt weit davon ab, zumindest und ganz besonders heutzutage in Deutschland. Wer einmal auf einer Stadtteilversammlung war, weiß, daß gesund hier eher das ‚Volksempfinden‘ als der Verstand ist. Nach dem Niedergang sozialer Bewegungen der 70er und 80er Jahre an ein Aufleben von Basisdemokratie zu glauben, fällt schwer. Wo schon die Mobilisierung kaum möglich scheint, wenn es um einen einzigen Problempunkt geht, wirkt ein so multipunktuelles Unternehmen wie die BürgerInnenversammlung doch etwas ab von der Welt. Vielleicht ist es ein Kapitel aus der Abteilung ‚Ironie der Geschichte‘, daß der Gegenwartsanarchismus gerade da utopisch im weltfremdesten Sinne daherkommt, wo er versucht, konkret und zeitgemäß zu sein. Ganz davon abgesehen, daß ein grundsätzlich divergierendes Interesse zwischen Nationalstaat und Bevölkerung in den westlichen Industrienationen ohnehin Wunschdenken derjenigen ist, die allein mit rationalen Argumenten ihr Veränderungsglück versuchen – heute wohl mehr denn je. So ist es nicht nur ignorant gegenüber postmodernen (individualisierten) Lebenswelten, von einer potentiellen interessegeleiteten Einheit der BürgerInnen auszugehen. (Schon gegen einen Vermieter stellt sich selten ein ganzes Haus. Und wer ist nicht froh, daß Müllabfuhr und Abwassersyteme von anderen geregelt werden?). Sondern es ist dazu ein theoretischer Fehler, diese citoyen auch noch in Opposition zum Nationalstaat zu konzipieren. Die Teilhabe an Privilegien sichert doch längst und ausgeklügelt die Zustimmung zum System. Ignoranz und Fehler übrigens, die die Libertären KommunalistInnen mit dem Anarchosyndikalismus teilen, für den statt der Gemeinde nach wie vor das Proletariat der Hauptrevolutionär ist.
Verwunderlich für anarchistische Konzepte ist vor allem die komische Einzigartigkeit, die von Bookchin/ Biehl, wie auch vom Anarchosyndikalismus beansprucht wird. Im Anhang der Biehl’schen Ausführungen findet sich ein Interview mit Murray Bookchin, in dem er Stellung nimmt zu Kritikpunkten am Libertären Kommunalismus. Hier werden die richtigen Fragen gestellt, und im Grunde immer nur eine Antwort gegeben: ‚Eigentlich wird nur der libertär-kommunalistische Ansatz Aussicht auf Erfolg gegenüber der konzentrierten Macht der Medien bieten‘. Die Macht der Medien wird dabei wahlweise ersetzt durch Prozesse der Globalisierung und Privatisierung, die Entwicklung des Arbeitsmarktes oder die übrigen Großprobleme der Zeit. Ganz im Sinne der Aufklärung stellt Bookchin sich Politik als einen Prozeß anwachsenden Bewußtseins vor. Die BürgerInnen müssen erzogen, ja einmal sagt er sogar: gestählt werden, um die politische Kultur der Zukunft zu verkörpern. Bei dieser Haltung verwundert es wenig, wenn Bookchin angenervt scheint von der bisher fehlenden Resonanz auf sein fertiges Konzept. Dieses liegt immerhin schon seit Beginn der 80er Jahre in seinem Schreibtisch zur Umsetzung bereit. Aus diesem Groll erklärt sich vielleicht auch die teils abstruse Abgrenzung gegen andere libertäre oder linksradikale Strömungen. Besonders abgesehen hat er es dabei auf den sogenannten Lifestyle- oder kulturellen Anarchismus, den er als klischeehaft eigenbrödlerische und systemkonforme Variante libertären Gedankenguts beschreibt. Das ist schade, denn einerseits scheinen mir weder Stirner-Fans noch Esoterik- Hippies, auf die Bookchin abzielt, mit dem Label des ‚kulturellen Anarchismus‘ richtig etikettiert. Jenseits dieser Klischees könnte m.E. vielmehr der Schlüssel für ein realistischeres Bild von Gesellschaft liegen. Wenn wir mit Kultur ganz grob so etwas beschreiben wie die Summe aller Lebenswelten an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Denn gerade in der Gestaltung ihrer persönlichen Lebenswelten lassen sich Menschen auch heute noch politisch ansprechen. Und zwar individuell, bei konkreten Problemen und zu bestimmten Zeiten und nicht als Stadtbürgerin oder Prolet in geschichtlich entbundener Subjektform.
Und andererseits ist auch auf anderen Ebenen der Theorie die Kultur sozusagen unerläßlich. Ohne die Erkenntnisse über kulturelle Konstruktionen von Geschlecht beispielsweise, kann und darf auch ein Anarchismus heute nicht auskommen. So läßt doch der Blick auf die Konstruiertheit der Geschlechter für eins der ältesten und sicherlich auch der gründlichsten Herrschaftsverhältnisse potentiell ganz neue Perspektiven auftauchen. Weil, ganz einfach, was konstruiert auch veränderbar ist. Und hat nicht zuletzt deshalb eigentlich der von beiden zuvorgenannten Anarcho-Schulen so gerne ausgelassene Anarchafeminismus mindestens den gleichen Anspruch auf die libertäre Konsequenz-Plakette? (Darüber hinaus ist die gender-Debatte, im Gegensatz zu Syndikalismus und Kommunalismus, geradezu brandaktuell…).
Konstruktion vs. Heimat
Mit dem Stichwort Konstruktion läßt sich noch ein wenig weiter porkeln in den theoretischen Grundlagen des Libertären Kommunalismus. Das Aufsuchen von Theoriedefiziten geschieht natürlich am besten beim Meister selbst. In seinem letzten Buch ‚Die Agonie der Stadt‘ (Grafenau 1996) gibt es dann auch einige Aussagen, die das prinzipiell löbliche Unterfangen in ein theoretisch schummriges Licht rücken.
Die bereits erwähnte, emanzipatorische Kritik am Politikbegriff zum Beispiel wächst auf recht zweifelhaftem Boden. Bookchin schreibt: ‚Jeder Versuch, wieder eine authentische Politik zu schaffen und nicht nur ein weiteres Instrument der Staatsraison, setzt eine Erneuerung des Gemeinwesens selbst voraus; Politik ist gleichbedeutend mit der Erneuerung des Gemeinsinns und der Erziehung der Menschen zu Bürgern. Eine solche Politik weist gleichsam ein zellulares Wachstum auf, einen Prozeß organischer Vervielfältigung und Differenzierung gleich der eines Embryos im Mutterleib. Das Wort `Politik‘ würde geradezu entweiht, wenn man die Politik nur `konstruieren‘ wollte, so wie man einen Automotor aus Zylinderblock, Kolben, Zündkerzen und dergleichen zusammensetzt (…)‘. Er formuliert damit den Anarchismus als Substanzialismus, d.h. als eine Idee, die irgendwie organisch eingebettet sei. Diese Behauptung fußt auf dem plumpen Mißverständnis, das Bookchin mit einem Teil der von ihm geschmähten Linken teilt. Dieses Mißverständnis beinhaltet zuallererst den Glauben, alles was als konstruiert bezeichnet würde, sei nicht wirklich da, nicht echt oder authentisch. Und darüber hinaus transportiert es die Vorstellung, nur auf verwurzeltem, materiell eindeutigem Grund ließe sich Politik betreiben. Über die materielle Grundlage, und inwieweit diese nicht selbst immer auch Ergebnis eines Konstruktionsprozesses ist, darf dabei nicht mehr nachgedacht werden.
Bei Bookchin führt dieses Denkverbot ziemlich direkt in die Verwurzelung seiner Ideen in den Bereich nationaler Geschichte. Denn wie andere BürgerrechtlerInnen hat auch Bookchin einen Traum, und der klingt verdammt us- amerikanisch: ‚Wie die Europäer müssen auch die Amerikaner ein ganzes Wiedervereinigen, das sie bisher nur in Teilen kannten: ihre Geschichte, die von der menschlichen Freiheit handelt, nicht nur von der Freiheit des Eigentums, des Handels oder des egoistisch verfolgten Besitzstrebens. Generationenlang konnte das amerikanische Volk die Stimme der gesellschaftlichen Erneuerung nur in fremden Sprachen vernehmen, deren Überlieferung und ‚Ismen‘ ihnen unverständlich bleiben mußten (Marx auf deutsch, Lenin auf russisch, Mao auf chinesisch, Ho Chi Minh auf vietnamesisch)‘. Zwar wehrt sich Bookchin im Anhang des Biehl-Buches gegen den Vorwurf des US-Chauvinismus, der ihm wegen dieser Passagen bereits gemacht wurde, vermag sie aber nicht wirklich zu entkräften. Die Staatsfeindschaft scheint vor nationalen Denkmustern nicht zu schützen. Denn wenn er die Grundlagen einer kommunalistischen Bewegung beschreibt, zeigt sich, daß er auch meint, was er sagt. ‚Die Bewegung muß mehr aufweisen als bloßes Sendungsbewußtsein – sie muß ein `Heimatgefühl‘ vermitteln können. Den meisten progressiven Bewegungen geht nämlich jedes Traditionsbewußtsein ab, jede Verwurzelung in dem, was Amerikaner lieb und teuer ist und was sich in den besten Überlieferungen ihrer Vergangenheit ausdrückt‘. Nun ist Heimat zwar noch nicht per se Nation. Aber dann schon, wenn Bookchin die im freiheitlichen und antinationalistischen Kontext entwickelten Werte bzw. Konzepte Dezentralismus, Föderalismus und Individualismus ‚dem kreativen amerikanischen Erbe‘ zurechnet. Es stört vor allem die universelle Gültigkeit, die Bookchin beansprucht. Was z.B. den Deutschen an ihren Traditionen lieb und teuer ist, hat mit Anarchismus oder Linkssein nicht das geringste zu tun. Es gibt also durchaus gute Gründe für die Skepsis gegenüber Traditionen und deren Identitätsstiftung. Es zeugt schon von ideologisch motivierter Blauäugigkeit, über die Kehrseite der gepriesenen Kreativität hinwegzusehen. Immerhin konnten die Griechen der polis nur durch Sklavenhaltung und Kriegswirtschaft ihre Elitendemokratie abhalten, die kreativen Neuengländer ließen ihre Frauen kochen und gingen nach der Bürgerversammlung auf Indianerjagd. Nur auf Kosten anderer konnten jene Werte im nationalen Rahmen verwirklicht werden. Natürlich weiß auch Bookchin um all das. Deshalb sagt er in besagtem Interview auch ganz klar, daß es nirgends wirkliche Vorbilder für den Libertären Kommunalismus gegeben habe. Als bloße Behauptung wirkt das mehr wie ein Rückzieher denn als Konsequenz aus der Kritik.
Literatur
Biehl, Janet: Der libertäre Kommunalismus. Die politische Praxis der Sozialökologie. Grafenau 1998, Trotzdem-Verlag.
Bookchin, Murray: Die Neugestaltung der Gesellschaft. Pfade in eine ökologische Zukunft, Grafenau 1992; und Die Agonie der Stadt. Aufstieg und Niedergang des freien Bürgers, Grafenau 1996 (beide Trotzdem Verlag).