Wie viele libertäre SozialistInnen ist auch George Orwell aufgrund seiner literarischen und journalistischen Kritiken des Staatssozialismus im Kalten Krieg als simpler bürgerlicher Antitotalitarist eingeordnet worden. Daß dieses Schubladendenken korrigiert werden muß, macht nun ein schöner Bildband deutlich, der bei Freedom Press/London erschienen ist und neben drei Aufsätzen von Anarchisten über Orwell vor allem anhand der 1946 von Vernon Richards und Marie-Louise Berneri gemachten privaten Photos dessen enge persönliche Verbindung mit der britischen anarchistischen Bewegung dokumentiert. (Red.)
Viele AnarchistInnen kennen George Orwell als den Autor der beiden großen satirischen Anti-Utopien „Farm der Tiere“ und „1984“, sowie seines beeindruckenden Berichtes „Mein Katalonien“, den Ken Loach als literarische Vorlage für seinen Film „Land und Freiheit“ über den Verrat innerhalb der spanischen Revolution benutzt hatte. Nur wenige allerdings wissen um die widersprüchlichen und doch sehr persönlichen Beziehungen, die Orwell zeit seines Lebens zu den britischen AnarchistInnen unterhielt.
Der junge emotionale Anarchist
George Orwell ist ein Pseudonym. In Wirklichkeit hieß Orwell Eric Blair und stammte aus der gehobenen kolonialen Mittelklasse Englands. Orwell wurde im Juni 1903 noch in Bengalen, damals britische Kolonie, geboren, bevor seine Mutter ihn 1904 mit zurück nach England nahm. Bereits in seiner Schulzeit vertrat Orwell eine Art modischen Anarchismus, der sich gegen Strafen und die Gesetze sowohl Gottes als auch der Menschen wandte. So tief scheint diese frühe rebellische Haltung jedoch nicht haften geblieben zu sein, denn von 1922-27 ging er als kolonialer Polizeibeamter nach Birma.
Dort wurde er mit der kolonialen Realität konfrontiert, sah die Hinrichtung von Kolonisierten und kehrte als absoluter Anarchist zurück, der sich als Täter schuldig fühlte und von sich verlangte, den Rest seines Lebens der Sühne dieser Schuld zu widmen. Dies führte ihn in die sozialistische Bewegung. Später widersprach er dem absoluten Anarchismus dieser Lebensphase, der stark von der Gegnerschaft zu institutionalisierter Gewalt, insbesondere zur Todesstrafe, geprägt war. Selbst ordinäre Gewalt oder einzelne Verbrechen könnten nie so schlimm werden wie institutionalisierte und staatliche Formen der Gewalt, so meinte er damals. Später revidierte er diese Einsichten bis nahezu in ihr Gegenteil.
Zunächst allerdings versuchte er sich als Journalist und Schriftsteller ohne größeren Erfolg. Typisch für diese Zeit ist sein Buch „The Road to Wigan Pier“, veröffentlicht 1937, in welchem er einerseits die Armut und die intolerablen Arbeitsbedingungen in Nordengland beschrieb, andererseits eine harte Kritik an Boheme- und SalonsozialistInnen losließ, die nichts riskierten, dem Vegetarismus oder dem Antialkoholismus frönten und nichts von der Realität des ArbeiterInnenlebens wüßten.
Er wollte nicht so sein wie sie und beteiligte sich dann als Mitglied der trotzkistisch-linkssozialistischen Partei „Independent Labour Party“ an den Kämpfen zur Verteidigung der spanischen Revolution. Im Dezember 1936 kam er mit seiner Frau Eileen O’Shaughnessy in Barcelona an und war schwer von der Begeisterung und der Gleichheit beeindruckt, die er unter den spanischen AnarchistInnen wahrnahm. Mehr zufällig kämpfte er von Februar bis April 1937 bei der linksmarxistischen POUM-Miliz. In „Mein Katalonien“, seinem 1938 veröffentlichten Erlebnisbericht, gestand er an einer Stelle, daß er, wenn er die Strömungen anfänglich besser durchschaut hätte, wohl zu den AnarchistInnen gegangen wäre. Wie dem auch sei, wichtig ist an „Mein Katalonien“ die Schilderung des Verrats der StaatskommunistInnen in den Mai-Kämpfen von Barcelona 1937. Nach einem neuerlichen Fronteinsatz bei den Internationalen Brigaden und einer Kriegsverletzung entkam er knapp der stalinistischen Verfolgung und kehrte im Sommer 1938 nach England als emotionaler Anarchist zurück. Seine Schilderung der Mai-Kämpfe gehörte zu den wenigen zeitgenössischen Verteidigungen des Anarchismus durch Intellektuelle. Wie isoliert Libertäre wie er oder auch Vernon Richards mit dieser Sicht der Dinge innerhalb der Linken waren, zeigt die Tatsache, daß „Mein Katalonien“ nicht nur kaum einen Verlag fand, sondern in seiner ersten Auflage mit nur 1 500 Exemplaren noch nicht einmal 1950, als Orwell als bekannter Schriftsteller starb, ganz verkauft war.
Direkt nach seiner Rückkehr aus Spanien sprach ihn Emma Goldman an und er wurde von ihr überzeugt, der anarchistischen „Internationalen Antifaschistischen Solidarität“, einer englischen Solidaritätsorganisation für Spanien, beizutreten. Dort lernte er Rebecca West, Herbert Read, Vernon Richards und Marie-Louise Berneri kennen und mit letzteren blieb eine auch persönliche Freundschaft bis zu seinem Tod bestehen.
Konflikte während und nach dem Zweiten Weltkrieg
Orwell trat der pazifistischen Peace Pledge Union bei, schrieb für die pazifistische Zeitung „Peace News“, und schlug sogar eine Untergrundorganisierung der PazifistInnen und libertären SozialistInnen vor, weil er den Krieg kommen sah und ihn als Klassenkrieg interpretierte, in dem auch bürgerliche Demokratien zu Organisationsverboten greifen und zur Diktatur degenerieren würden. Diese Position änderte er abrupt nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939, und während einige seiner Freunde und Bekannten unter den PazifistInnen und AnarchistInnen den Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg verweigerten, befürwortete er den Krieg und arbeitete für die Kriegspropaganda im BBC-Radio. Solch eine Meinungsänderung wäre nur zu verständlich gewesen, unverständlich blieb den AnarchistInnen aber immer die schwere publizistische Attacke, die Orwell in den Kriegsjahren sowohl gegen PazifistInnen wie AnarchistInnen ritt, die er als „Defätisten“ und „objektive Faschisten“ bezeichnete – und das, nachdem er bereits in „Mein Katalonien“ beschrieben hatte, welch schlimme Formen die Uminterpretation der tatsächlichen Motive bestimmter Strömungen in angeblich „objektive“ annehmen konnte.
Trotz dieser inhaltlichen Kritik wiederum setzte er sich vehement für die Meinungsfreiheit ein, und als die Räume des anarchistischen Verlags „Freedom Press“ 1944 durchsucht wurden und vier Redakteure der kriegsgegnerischen Zeitung „War Commentary“ zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, setzte er sich in einem Freedom-Verteidigungskomitee zusammen mit Herbert Read und George Woodcock, später auch noch in der „Liga für die Würde und Rechte des Menschen“ zusammen mit Arthur Koester und Bertrand Russell für die Freiheit Andersdenkender ein.
Zwar milderte er den Ton seiner Kritik an Pazifismus wie am Anarchismus nach dem Zweiten Weltkrieg ab, doch zog er nun die durch einen Rechtsstaat gewährten freiheitlichen Rechte als scheinbar realistischer den libertären Utopien einer Gesetzeslosigkeit vor, die seiner Ansicht nach nur auf öffentlicher Meinung und Tugendterror aufgebaut sein könne, welche im Endeffekt totalitärer sein werde als bürgerliche Staaten. Auch an Tolstoj meinte er trotz dessen Staats- und Gewaltkritik den absolutistischen Wunsch zu erkennen, andere zur Meinungsänderung zwingen zu wollen – während er Gandhi andererseits immerhin großen Respekt zollte. Den Anarchismus hielt er nun für eine vorindustrielle Organisationsform der Gesellschaft, eine komplexe Industriegesellschaft könne realistischerweise auf zentralistische Organisationsformen nicht verzichten. Daß er trotzdem vor den Gefahren des Zentralismus und der Absolutheit staatlicher Ideologien warnen wollte, beweisen natürlich die Romane „Farm der Tiere“ und „1984“.
Die AnarchistInnen wiederum kritisierten an Orwell, daß er die oft leidenschaftlich und begeisternd vorgetragenen Theorien der AnarchistInnen und PazifistInnen mit den gewaltsamen Machthabern und Staatenlenkern ineinssetzte, die tatsächlich ihre autoritären Visionen in die Praxis umsetzten. Insofern sei Orwell selbst sehr widersprüchlich gewesen, habe etwa 1939 Positionen als faschistisch kritisiert, die er selbst ein Jahr zuvor noch eingenommen hatte. Zu dieser Widersprüchlichkeit paßt, daß der seit langen Jahren an Tuberkulose erkrankte Orwell nach dem Tode seiner Frau den Adoptivsohn Richard ausgerechnet der Anarchistin Lilian Wolfe zur Pflege übergab, die zudem auch noch Pazifistin, Vegetarierin und Abstinenzlerin war und damit eben jene Eigenschaften hatte, die er noch 1937 als Salonanarchismus verächtlich kritisiert hatte.
Daß trotz der inhaltlichen Widersprüche auch zu Vernon Richards und Marie-Louise Berneri eine tiefe Freundschaft möglich war, beweisen die nun bei Freedom Press veröffentlichten Privatphotos des ansonsten sehr photoscheuen George Orwell.
Literatur
George Orwell: Mein Katalonien, zuerst 1938
George Orwell: Farm der Tiere, zuerst 1945
George Orwell: 1984, zuerst 1949
George Orwell at home (and among the Anarchists). Essays and Photographs, Freedom Press, London 1998