Simone Weil gehört für mich sicher zu den faszinierendsten, aber auch mysteriösesten Frauen in der anarchistisch-pazifistischen Bewegung. 1909 innerhalb einer wohlhabenden jüdischen Familie in Paris geboren, völlig areligiös erzogen, wurde sie Lehrerin in der Provinz (Le Puy / Haute Loire), gewann dort zu Beginn der dreißiger Jahre Anschluß an die libertäre ArbeiterInnenbewegung, arbeitete als Intellektuelle trotz ihrer kranken körperlichen Verfassung (immer wiederkehrende starke Kopfschmerzen) 1934- 36 in Industriefabriken, beteiligte sich im August und September 1936 an der spanischen Revolution (wo sie sich beim Kochen durch siedendes Öl verbrannte), wandte sich nach früher Beteiligung bei der französischen Résistance und zweimaliger Verhaftung durch die Deutschen im britischen Exil mystisch-christlichen Gedanken zu und wollte aber kurz vor ihrem Tod 1943 wieder nach Frankreich zurück, um erneute für die Résistance zu kämpfen, was ihr de Gaulle aufgrund ihrer Krankheit nicht erlaubte. An Simone Weil besticht ihr beständiger Versuch, als libertäre Intellektuelle jegliche persönliche Egozentrik zu vermeiden und konsequent ihr Leben in Einklang mit dem Leben der Armen, Flüchtlinge und ArbeiterInnen zu bringen – bis hin zur Selbstaufgabe und ohne Rücksicht auf ihre körperliche Verfassung und Gesundheit.
Den Zug des Selbstleidens bis hin zum Selbsthaß hatte sie in ihrer areligiösen Erziehung durch die Aufnahme des stoischen Denkens aus dem Griechentum gewonnen. Gleichzeitig bedeutete diese Tradition einen solidarischen Altruismus, ein Leben und Leiden für die Emanzipation der anderen. Simone Weil stellte rigoros- moralische Anforderungen an ihre eigene theoretische-schriftstellerische Arbeit und forderte sie genauso konsequent von anderen selbsternannten RevolutionärInnen ein. Das Beispiel ihrer Haltung zum Schriftstellertum und zum Journalismus mag dies verdeutlichen: aus dem Anspruch heraus, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit auf wahre, wahrhaftige Weise beschrieben werden kann, ergeben sich nach Weil moralische Verpflichtungen für SchriftstellerInnen und JournalistInnen. Doch statt solcher Demut existiere Arroganz und Eitelkeit unter den SchriftstellerInnen:
„Man scheut sich, etwas Gedrucktes zu lesen, wenn man einmal der Unmenge und Ungeheuerlichkeit des sachlich Falschen inne geworden ist, das sich, selbst in den Büchern der angesehensten Verfasser allenthalben schamlos darbietet. Man liest dann, als tränke man Wasser aus einem trüben Brunnen.“ Die LeserInnen aber, so Weil, „glauben dem Buch aufs Wort. Man hat nicht das Recht, sie Falsches schlucken zu lassen“, auch nicht guten Glaubens. Noch weniger ist Simone Weil bereit, die „Existenz von Zeitungen zu dulden, von denen alle Welt weiß, daß kein Mitarbeiter dort bleiben könnte, wenn er nicht bisweilen einwilligte, die Wahrheit bewußt zu entstellen. Aber man glaubt, dieses Verbrechen sei nicht strafbar.“ Obwohl sie Libertäre ist, verlangt Weil hier in ihrer Weißglut strenge Bestrafung für journalistische Lüge oder Unredlichkeit, bis hin zu Zuchthaus. Obwohl das überzogen ist, zeigt Weil hier die Dimension dessen auf, was ihrer Meinung nach SchreibtischtäterInnen gesellschaftlich anrichten: „Unsere Epoche ist derart von Lügen vergiftet, daß sie alles, was sie berührt, in Lüge verwandelt.“ Und: „Die wahre Art zu schreiben ist, so zu schreiben, wie man übersetzt. Wenn man einen in fremder Sprache geschriebenen Text übersetzt, sucht man nicht etwas hinzuzufügen; im Gegenteil verwendet man eine religiöse Gewissenhaftigkeit darauf, nichts hinzuzusetzen.“ Das mache eine bescheidene Form im Unterschied zur egozentrischen, verschwenderischen und damit propagandistischen Form des Schreibens aus. Die asketische Grundlage ihres Anarchismus, die sie auf nahezu alle Bereiche ihres Lebens anwandte, wird hier sehr deutlich. Wie immer man/frau zu diesem Asketismus stehen mag, kommt sie darüber doch zu höchst spannenden Einsichten, auch zum Beispiel für den sogenannten tagespolitischen Journalismus: „Man muß über ewige Dinge schreiben, um mit Sicherheit aktuell zu sein.“ (alle voraufgehenden Zitate: Weil zit. nach Krogmann, S.49f)
Den Vergleich mit dem Übersetzen verwandte Simone Weil übrigens auch in der ArbeiterInnenbildung, bei der sie von jeder und jedem Intellektuellen verlangte, ihre komplexen Erkenntnisse ohne Reduktion der Komplexität so darzulegen (zu „übersetzen“), daß jede/r ArbeiterIn sie verstünde. Der hohe Anspruch an die so formulierte politische Vermittlung zeigt sich in den politischen Schriften von Simone Weil in einer Klarheit und gesellschaftlichen Prophetie der Analyse, die im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend ist. In ihren Reflexionen über die deutsche ArbeiterInnenbewegung, die sie nach einem zweimonatigen Deutschlandbesuch 1932 anstellte, kritisierte sie die deutsche Sozialdemokratie, sie habe die ArbeiterInnen dem deutschen Staat ausgeliefert, und die Kommunistische Partei, sie habe sie dem russischen Staatsinteresse geopfert. So erweise sich die ArbeiterInnenklasse in Deutschland als unfähig, die Krise des Kapitalismus durch Generalstreik auszunutzen. In weiteren Schriften zur Situation der ArbeiterInnen und mit Blick auf die Sowjetunion analysierte sie mit erstaunlicher Hellsichtigkeit bürokratische Tendenzen, in der Zusammenfassung von Heinz Abosch:
„‚Als Kaste oder Klasse ist die Bürokratie ein neuer Faktor im gesellschaftlichen Kampf‘ – das ist eine zentrale These. Herrschaft gründet nicht allein auf ökonomischen Beziehungen, wie es der Marxismus lehrt, sie ist das Wesen der gesellschaftlichen Struktur, die auf einer Hierarchie von Befehlenden und Gehorchenden beruht. Über die ökonomischen Verhältnisse hinaus gibt es ein Herrschaftsverhältnis; man kann jene umstürzen, ohne an diesem etwas zu ändern. Die Kritik an Marx nimmt Argumente des Anarchismus wieder auf. Weil der Marxismus die Herrschaftsverhältnisse jenseits des ökonomischen Bereichs ignorierte, reproduzierte er sie innerhalb der Arbeiterbewegung und erwies sich als unfähig, eine herrschaftsfreie Gesellschaft zu errichten.“
Grandios und prophetisch auch Simone Weils frühe Kritik der Produktivkräfte: „Von einem bestimmten Niveau ab schaffe die Technik ebenso viele Schwierigkeiten, wie sie andere beseitige. Verworfen wird das Bild einer sozusagen gratis tätigen Automation, die nichts als humanes Glück produziere. Die Technik biete nichts umsonst, die in großer Anzahl erzeugten Produkte setzten eine Organisation hierarchischer Unterordnung, Undurchschaubarkeit und Verschwendung voraus, die kostspielig genug wären. Der technische Traum wird zum Trauma (…): auf dem Niveau hoher Produktion erscheint nicht das ‚Reich der Freiheit‘, sondern verschärfte Repression. (…) Eine Gesellschaft hoher Produktion verlange eine repressive, nicht freiheitliche Organisation. Andererseits stoße sie unwiderruflich auf die Grenzen der natürlichen Vorräte, die kein kontinuierliches Wachstum erlaubten.“ (Abosch zit. nach Vorwort zu Weil: Unterdrückung und Freiheit, S.11f)
Das ist quasi eine frühe Analyse des erst Jahrzehnte später kommenden Atomstaats! Schon 1934 trat die asketische Anarchistin für eine radikalen Wachstumsstopp ein und kann daher als Vorläuferin des ökologischen Anarchismus gelten. Auch in ihrem eigenen Leben setzte sie ihren moralischen Rigorismus im Alltag um: als sie im Exil während des Zweiten Weltkrieges ausreichend Nahrungsmittelmarken bekam, behielt sie nur soviele, wie auch die Menschen im besetzten Frankreich bekamen und verschenkte die anderen an Hilfs- und Solidaritätsorganisationen.
Literatur
Heinz Abosch: Simone Weil zur Einführung, Hamburg 1990 (Besprechung in GWR 157, S.20).
Angelica Krogmann: Simone Weil, Reinbek 1970.
Simone Weil: Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften, mit einem Vorwort von Heinz Abosch, München 1975.
Rainer Wimmer: Vier jüdische Philosophinnen, Tübingen 1990.