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Eskalation des Türkei/Kurdistan-Konflikts

Öcalans Verschleppung und die Folgen / Ein libertärer Positionierungsversuch

| Bernd Drücke

Abdullah Öcalan, der Chef der kurdischen PKK, wurde nach einer monatelangen Odyssee in Kenia gekidnappt und vom türkischen Geheimdienst in die Türkei geflogen. Ohne die Mithilfe des griechischen Außenministers, der kenianischen Behörden und US-Geheimdienstes wäre die Entführung nicht möglich gewesen. Der griechische Staat hat sich von der Unterstützung dieser völkerrechtswidrigen Aktion vermutlich eine Verbesserung seiner schlechten Beziehungen zum Nachbarstaat Türkei erhofft und die USA erwarten als Dank für ihre Geheimdienstkooperation die Erlaubnis auch weiterhin Angriffe gegen den Irak von türkischem Boden fliegen zu können. Ein Ziel der amerikanischen Türkeipolitik ist es, den NATO-Partner als Aufmarschgebiet gegen den Irak zu erhalten. Als Gegenleistung für die türkische Waffenbrüderschaft setzt sich die US-Regierung seit Jahren für eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU ein und unterstützt den türkischen Krieg gegen das kurdische Bevölkerungsviertel in der Türkei, politisch, finanziell, durch Waffenlieferungen und durch die Ausbildung türkischer Offiziere in den USA.

„Der Satan hinter Gittern – eine gute Nachricht für die Türkei“

So die Schlagzeile der türkischen Boulevardzeitung Sabah am 17. Februar 1999, einen Tag nach der Entführung des PKK-Vorsitzenden. Die türkischen Medien jubeln über den „Sieg!“ (Hürriyet), sprich die gewaltsame Verschleppung des „Staatsfeindes Nummer 1“.

„Aufnahmen vom Terroristen-Führer.“ Unter diesem Titel verbreitete der türkische Fernsehsender TRT am 17. Januar stündlich ein Video, das einen erniedrigten, offensichtlich gefolterten, narkotisiert und gebrochen wirkenden Öcalan zeigt, der in Handschellen gefesselt und mit verklebten Augen zwischen vermummten Mitgliedern des türkischen Entführungskommandos sitzt, die den Gefangenen verspotten und jubeln.

Hier zeigt der kemalistische Staat der Weltöffentlichkeit nicht nur das Gesicht eines gedemütigten Menschen, sondern auch gleichzeitig seine eigene, durch die Vermummung nicht zu verdeckende faschistische Fratze.

Hier wird die psychische und bald wohl auch physische Vernichtung eines Menschen gefeiert, der für viele Kurdinnen und Kurden ein Hoffnungsträger und Symbol des eigenen Schicksals ist. Bei aller Kritik an dem einst so selbstherrlichen Ex-Stalinisten, für Mord- und Terroranschläge mitverantwortlichen Parteiführer und Möchtegernstaatschef Öcalan: hier empfinde ich auch Mitleid mit dem Menschen Öcalan und Abscheu gegenüber dem menschenverachtendem Terrorsystem in der Türkei.

Weder die niederländischen und deutschen StrafverteidigerInnen Öcalans noch unabhängige BeobachterInnen dürfen an dem bald drohenden Prozeß teilnehmen. Was Öcalan im Militärgefängnis auf der Gefängnisinsel Imrali und vor dem berüchtigten Staatssicherheitsgericht zu erwarten hat deutet sich durch die bereits jetzt von TRT weltweit zur Schau gestellte Mißhandlung an.

Da ist es zwar erschreckend, aber nicht unverständlich, wenn viele PKK-AnhängerInnen durchdrehen und jetzt zum Teil auch wieder gewalttätige Aktionen in ganz Europa durchführen. In der Brutalität der PKK spiegelt sich in abgeschwächter Form die Brutalität des türkischen Militärs, das in den letzten Jahren zigtausende Menschen kurdischer Abstammung ermordet, unzählige gefoltert und Millionen zur Flucht gezwungen hat. Die PKK ist militärisch längst geschlagen (vgl. GWR 235), aber die kurdischen Kinder, die uns bei einer Delegationsreise durch die Türkei und Kurdistan im kurdischen Slum der türkischen Großstadt Adana begeistert „Bîjî Serxwebun! (Es lebe die Unabhängigkeit!), Bîjî Azadî! (Es lebe die Freiheit!), das nationalistische „Bîjî Kurdistan!“ und die Führerkultparole „Bîjî Serok Apo!“ („Es lebe der Führer Apo!“) entgegengerufen haben, sie hoffen weiterhin auf die PKK und Öcalan. Bald sind sie erwachsen, und auch wenn sich die PKK jetzt spalten wird und ihr Zerfall droht: Das Problem dieser Kinder ist nicht gelöst. Solange ihnen verboten wird ihre kurdische Sprache zu sprechen, solange ihnen kulturelle, soziale und politische Rechte verwehrt werden, solange die Gewalt des kemalistischen Staates ihre Menschenrechte mit Füßen tritt, solange wird der türkisch-kurdische Krieg weitergehen, solange wird auch aus der Sicht dieser Kinder die Gewalt gegen diesen Unterdrückungsapparat und alles was damit in Verbindung gebracht wird, eine gerechte Sache sein.

Der türkische Staat investiert jährlich mehr als 15 Milliarden Dollar in den Krieg. Er setzt weiterhin auf Terror und Gewalt. Auch weil die türkische Armee zur Zeit ein Verbot gegen die gemäßigte kurdische HADEP, Nachfolgepartei der verbotenen demokratischen Parteien HEP und DEP (siehe B. Drücke, Serxwebun! Gesellschaft, Kultur und Geschichte Kurdistans, Edition Blackbox, Bielefeld 1998), vor dem Verfassungsgericht durchsetzt, bleibt die Hoffnung auf einen türkisch-kurdischen Dialog, auf eine friedliche Lösung, auf sprachliche und kulturelle Autonomie der Kurdinnen und Kurden in der Türkei unrealistisch (siehe Kommentar, S. 2).

Die Hamburger ZEIT vom 18. Februar 1999 analysiert die Aktionen der PKK-AktivistInnen in Europa: „Den Kampf auf die Straßen europäischer Städte zu verlagern, Geiseln zu nehmen oder Botschaften zu stürmen ist nicht einmal unlogisch. Die PKK-Anhänger sind überzeugt, daß Ankara ohne politischen Druck aus Europa in der Kurdenfrage niemals einlenken wird.

Und darin haben sie nicht unrecht. Der Hebel, mit dem hier Druck auszuüben wäre, ist der türkische Wunsch einer Mitgliedschaft in der EU. Die Europäer müssen Flagge zeigen und der Türkei unmißverständlich signalisieren, daß eine Aufnahme in die EU prinzipiell zu haben ist – aber nicht ohne Kompromisse in der Kurdenfrage. Das Problem ist mit einem Verbot der PKK wie in Deutschland und Abschiebungen gewalttätiger Kurden nicht zu lösen. Die kurdische Gewalt in diesen Tagen zeigt, daß die Europäisierung der Kurdenfrage nicht aufzuhalten ist.“

Die Bildzeitung propagiert folgende „Lösung“: „Schluß jetzt! Kanzler, Herr Schily – halten Sie Wort! Terroristen haben bei uns nichts zu suchen!“ So ihre Titelschlagzeile vom 18. Februar 1999. Der Bild-Leitartikel beginnt mit einem Zitat Gerhard Schröders – „Wer unser Gastrecht mißbraucht, für den gibt es nur eins: raus, und zwar schnell!“ – und endet mit der Forderung „Raus mit den Terrorkurden!“ Bild-Kommentator Peter Boenisch: „Die Kurden – und nicht nur sie – haben Asyl. Und nach jeder Trümmer-Orgie freien Abzug. Schieben wir wirklich mal einen Gewalttäter ab, ist er gleich wieder da. Womöglich noch mit Verwandten an der Hand und (oder) Rauschgift im Gepäck. Diese liberale Republik droht ein Staat von Weicheiern zu werden. Das ist brandgefährlich. Denn eine Demokratie, die sich nicht wehrt, öffnet der Willkür und den Hitlers Tür und Tor.“

Volksverhetzung wie sie im Buche steht.

Daß die PKK zu einer friedlichen Lösung bereit ist, das hat sie durch den von ihr mehrmals einseitig verkündeten und eingehaltenen Waffenstillstand unter Beweis gestellt.

Die dringend anstehende, aber eher unwahrscheinliche Basisdemokratisierung der PKK und der immer noch vom Miltär dominierten türkischen Gesellschaft ist nur nach einem von beiden Seiten getragenen Waffenstillstand möglich.

Die zu Tausenden unter bestialischen Bedingungen inhaftierten politischen Gefangenen in der Türkei – u.a. die inhaftierten MenschenrechtlerInnen wie z.B. Layla Zana, die Kriegsdienstverweigerer, kritischen JournalistInnen, Mitglieder der Parteien HEP, DEP, HADEP und PKK und auch Abdullah Öcalan – müssen sofort freigelassen werden.

Unsere Solidarität gilt nicht der autoritären, Gewalt ausübenden Organisation PKK. Unsere Unterstützungsarbeit sollte sich auf die Flüchtlinge, auf die außerparlamentarischen, antimilitaristischen, feministischen, gewaltfreien, libertären und neuen sozialen Bewegungen auch in der Türkei konzentrieren. Eine wirklich dauerhafte und friedliche Lösung des Konflikts kann es nur von unten geben, durch eine Graswurzelrevolution, eine radikale Entmilitarisierung und Basisdemokratisierung der türkischen Gesellschaft.

Doch solange den kurdischen und türkischen Kindern in der Schule der Kemalismus – „Stolz ist, wer sich Türke nennen darf“ (Atatürk) – eingebläut wird und der Geist des autoritären, gewalttätigen „Vaters aller Türken“ in den Köpfen der türkischen Bevölkerungsmehrheit spukt, ist eine solche Entwicklung hin zu einer freiheitlichen, gewaltfreieren oder gar herrschaftslosen Gesellschaft nicht realistisch.

Berichtigung

In der GWR 237 war zu lesen, daß die Agenten des türkischen Geheimdienstes bei der Entführung des PKK-Chefs unterstützt wurden "durch den US-Geheimdienst CIA, den israelischen Mossad, den griechischen Botschafter und die kenianischen Behörden". Die zunächst übereinstimmend von dpa, der Jungen Welt und der Özgür Politika gemeldete Beteiligung des Mossad an der Aktion wurde jedoch inzwischen von israelischer Seite dementiert, während die USA ihre Beteiligung angedeutet haben.

Ob der Mossad an Öcalans Entführung beteiligt war, ist also nicht klar.

Wenn wir den aktuellen Pressemeldungen Glauben schenken, dann wurde der griechische Botschafter offenbar vom griechischen Außenminister getäuscht. Dieser wiederum ist aufgrund seiner öffentlich gewordenen Verstrickung in die Verschleppung Öcalans zurückgetreten.