Atommüll - der Stoff aus dem Alpträume sind: Alpträume der Menschheit, wenn sie sich bewußt macht, daß das strahlende Zeug immer weiter produziert wird, ohne irgendwo auf der Erde einen geeigneten Platz zur sicheren Lagerung für die nächsten Jahrmillionen zu kennen. Aber auch Alpträume der Atomindustriellen, die immer wieder befürchten müssen, daß der Weiterbetrieb der für sie profitablen Reaktoren an fehlender Entsorgung scheitert. (Red.)
Es gibt drei verschiedene Wege, den „Entsorgungsnotstand“ zum Hebel für die Stillegung der AKWs zu machen. Zum ersten der Weg der Argumentation und Beeinflussung des politischen Klimas. Je mehr Menschen begreifen, daß die ständige Produktion von hochradioaktiven Stoffen eine zu große Hypothek auf die Zukunft ist, um so größer wird der politische Druck gegen die Atomstromer. Der zweite Weg ist der juristische: Der Betrieb von Atomkraftwerken darf eigentlich nur dann von den Behörden genehmigt werden, wenn die Betreiber einen „Entsorgungsvorsorgenachweis“ vorlegen. Gelingt ihnen dies nicht, dann muß abgeschaltet werden. Als dritte Möglichkeit gibt es die Chance, durch direkten Widerstand gegen „Entsorgungs“-Projekte und Atommüll-Transporte sämtliche Pseudo-Lösungen zu blockieren und damit – um es mit einem Wort des Bundesumweltministers zu benennen – „Verstopfungs-Strategie“ zu betreiben.
Die Atommüll-Politik der rot-grünen Bundesregierung hat in den letzten Wochen viel Bewegung in die Auseinandersetzung auf den verschiedenen beschriebenen Ebene gebracht. Dadurch wurden Chancen vertan, aber auch neue Möglichkeiten eröffnet – wenn auch eher unfreiwillig.
Ich beschränke mich bei den weiteren Ausführungen auf die Frage der Zwischenlagerung und des Transportes von abgebrannten Brennelementen und von hochradioaktiven Abfällen aus der Wiederaufarbeitung. Denn in diesem Bereich gab es die meiste Bewegung. Bezüglich schwachaktivem Atommüll, bezüglich der Pilotkonditionierungsanlage (PKA) Gorleben und bezüglich der Endlagerprojekte Konrad und Gorleben hat sich in den letzten Monaten wenig getan. Lediglich die nicht von Rot-grün zu verantwortende Stillegung des Endlagers Morsleben hat die Situation im Bereich schwachaktiver Abfälle verändert, aber noch nicht wirklich zugespitzt.
Entsorgungskonzept
Entscheidend beim politischen Ringen um die öffentliche Meinung in Sachen Atommüll war und ist, ob das, was die Atomwirtschaft Entsorgung nennt, auch als Lösung des Problems anerkannt wird.
„Das bisherige Entsorgungskonzept für die radioaktiven Abfälle ist inhaltlich gescheitert und hat keine sachliche Grundlage mehr.“ So steht es im rot-grünen Koalitionsvertrag vom Oktober 1998. Das klingt ganz ähnlich wie das, was die Anti-Atom-Bewegung schon immer sagt. Doch weil Schröder, Müller und Trittin es nicht dabei belassen, entsteht im weiteren Text ein anderes Bild. Da ist vom Endlager ab 2030 und von der Standortsuche die Rede, als wäre es kein Problem, bis dahin eine entsprechend sichere Lagerstätte zu finden. Da sollen neue Zwischenlager an den AKWs entstehen. Summa summarum wird mit aller Gewalt vermieden, das Atommüll-Dilemma als Hebel für den Ausstieg aus der Atomenergie einzusetzen.
In den Monaten nach der Regierungsbildung sind dann die öffentlichen Äußerungen von Jürgen Trittin alle nach dem gleichen Muster gestrickt: Einerseits tut er so, als wären die Reaktoren praktisch schon stillgelegt und jede Diskussion über Atommüll nur noch unter dem Aspekt zu betrachten, was nach dem Ende der Atomstromproduktion mit den übriggebliebenen strahlenden Abfällen geschehen muß. Andererseits nimmt er den Weiterbetrieb der AKWs als unabänderliches Faktum hin und spielt den obersten Müllmann: „Teile der Anti-AKW-Bewegung lehnen die Zwischenlagerung ab, sie lehnen weitere Transporte ab, und sie lehnen den Transport von Atommüll ab“ so doziert er im STERN, „alles zusammen ist aber nicht zu haben. Da muß man sich entscheiden.“
Als die Bundesregierung am 13. Januar – mit sehr kurzer Halbwertszeit – beschließt, die Wiederaufarbeitung zum Jahresende 1999 zu verbieten, setzt sich der Minister vehement für Rücktransporte aus Frankreich und Großbritannien ein und stellt die Sache so dar, als ob jeder Castor-Transport zukünftig ein Schritt zum Atomausstieg sei.
Unterm Strich bleibt in der Öffentlichkeit der Eindruck, als ob die neue Regierung wenn auch etwas unkoordiniert aber intensiv an neuen Entsorgungskonzepten feilt. Der Umstand, daß es eigentlich keine sichere Entsorgung geben kann, gerät dabei immer mehr aus dem Blickfeld.
Entsorgungsnachweis
Das gleiche Bild bei der Frage, ob dezentrale Zwischenlager an den Kraftwerksstandorten errichtet werden sollen. Nachdem bekannt wurde, daß am AKW Lingen eine Halle für 120 Castor-Behälter gebaut werden soll und damit noch 30 weitere Jahre Reaktorbetrieb abgesichert werden können, betreiben die Spitzen der Grünen Realpolitik pur:
„Mit ihrem Vorhaben, im emsländischen Lingen ein Zwischenlager einzurichten, weisen die Dortmunder VEW den anderen Energieversorgern den richtigen Weg.“ meint beispielsweise die grüne Vorstandssprecherin Gunda Röstel. „Die Dortmunder haben damit die Zeichen der Zeit erkannt. Unabhängig vom Ausgang der Energiekonsensverhandlungen (!!! d.A.) wären deshalb alle AKW-Betreiber gut beraten, dem Beispiel der VEW zu folgen.“
Und Bärbel Höhn, grüne Umweltministerin von NRW, betreibt Kirchturmpolitik : „Die Betreiberfirma gibt damit ein positives Beispiel, dem andere Stromkonzerne folgen sollten. Aus NRW-Sicht ist vor allem erfreulich, daß das Zwischenlager in Ahaus nun entlastet werden kann.“
Ach selige Zeiten, als noch nicht alles schöngeredet werden mußte, sondern Klartext vorherrschte. Noch 1997 erklärte Rainer Baake, damals grüner Staatssekretär im hessischen Umweltministerium (inzwischen Staatssekretär in Bonn): Die CDU/FDP-Bundesregierung „versucht – gedrängt durch die Stromwirtschaft – in sogenannten Konsensgesprächen noch vor der Bundestagswahl die Entsorgungsvorsorge einzuschränken. Die Zwischenlagerung soll als Entsorgungsvorsorgenachweis – entgegen der Rechtslage – einvernehmlich zwischen Bundesregierung und SPD anerkannt werden.“
Baake ging noch weiter: Er wollte vom Betreiber des AKW Biblis den Nachweis, wie denn die Entsorgung gesichert sei. Schließlich gibt es einen Haufen Gutachten, in denen dargelegt wird, daß die Wiederaufarbeitung im Ausland keineswegs die im Atomgesetz geforderte „schadlose Verwertung“ darstellt.
Die damalige Bundesumweltministerin Merkel untersagte das. Daraufhin erklärte der Staatssekretär – scheinbar in weiser Voraussicht auf einen Regierungswechsel in Bonn: „Ebenso wie die Bundesaufsicht entsprechende Entsorgungsauflagen verhindern darf, kann sie aufgrund ihrer Weisungskompetenz die Landesregierungen auch anweisen, ausreichende Entsorgungsnachweise zu verlangen. Sodann würde sich im Falle des Mißlingens der Nachweise die Frage stellen, ob weitergehende Maßnahmen, also insbesondere Betriebseinstellungen, anzuordnen sind.“
Auch das Land Schleswig-Holstein wollte dem AKW Brokdorf die Zustimmung zum Wiederanfahren nach der Revision 1998 verweigern: fehlender Entsorgungsnachweis aufgrund des Transportestopps. Merkel untersagte erneut. Wir dürfen gespannt sein, wann der neue Bundesumweltminister zum erstenmal den Weisungshammer schwingt – und ob sich die Landesregierungen trauen, an ihrer Position festzuhalten, jetzt, wo sie die Schuld für ihr Nichtstun nicht mehr Frau Merkel in die Schuhe schieben können.
Entsorgungsrealitäten
Kommen wir schließlich nach der politischen und juristischen Bewertung zu den harten Fakten in Sachen Atommüll: Die AKW-Betreiber sind darauf angewiesen, daß in den kraftwerksinternen Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente regelmäßig Platz geschaffen wird. Weil bei der einmal im Jahre stattfindenden Revision der Anlage ein beträchtlicher Teil der Kernladung ausgetauscht werden muß, müßte sonst früher oder später wegen „Verstopfung“ abgeschaltet werden.
Weil schon seit dem Sommer 1998 in Folge des Kontaminations-Skandals keine Castor-Transporte nach La Hague und Sellafield mehr stattfinden, geraten manche Kraftwerke langsam aber sicher in die Enge.
Wäre der von der Bundesregierung anvisierte Stopp der Wiederaufarbeitung wirklich zum 1. Januar 2000 in Kraft getreten, dann hätte dies schwerwiegende Folgen für die Betreiber gehabt. In 16 der 19 Kraftwerke, so erklärte RWE-Chef Dietmar Kuhnt „haben wir keine ausreichende Lagerkapazität für Brennelemente.“ Schon innerhalb von drei Jahren hätten zwölf Reaktoren abgeschaltet werden müssen.
Auf die fast panischen Reaktionen der Betreiber, machten VertreterInnen von Rot-grün immer wieder darauf aufmerksam, daß die Koalition sich darauf festgelegt hat, daß durch „die neue Regelung der Entsorgung der Betrieb der Kraftwerke in keiner Weise behindert werden darf.“ Entsprechende Genehmigungen für „Behälter, Einlagerung, Transporte“ seien laut Vereinbarung zu gewährleisten. Noch mal zum mitdenken: Die selbe Bundesregierung, die sich angeblich den Atomausstieg auf die Fahnen geschrieben hat (wahrscheinlich nur auf die Fahnen), beschließt „daß der Betrieb der Kraftwerke in keiner Weise behindert werden darf.“
Die zwei Wochen zwischen dem Berliner Beschluß zum WAA-Ausstieg und der ersten Runde der Konsensgespräche waren davon geprägt, daß die Stromkonzerne die Regierung aufgrund dieser Zusicherung vor sich hertrieben. Dabei war es nur noch bizarr, wie Jürgen Trittin alles versprach, was die Anti- Atom-Bewegung aus guten Gründen bekämpft, nur um mit aller Gewalt zu gewährleisten, daß auch ja jeder Schrottmeiler noch auf Jahre hinaus Atommüll produzieren kann.
Zur Behebung der Lagerengpässe schlug der Umweltminister zuerst den massenhaften Bau neuer Zwischenlager-Hallen nach dem Lingener Beispiel vor. Doch die Betreiber monierten „technische Probleme“, weil Genehmigung und Bau dieser Hallen bis zu sechs Jahren dauern können. „Kann sich jemand vorstellen“, so PreußenElektra-Chef Hans-Dieter Harig, „daß an 20 Standorten in Deutschland Zwischenlager genehmigt und für eine vorerst unbegrenzte Lagerung auch hochradioaktiver Abfälle genehmigt werden können? Das ist genehmigungsrechtlich nicht zu bewältigen.“
Und für manchen Kraftwerktyp, etwa für Stade, gibt es überhaupt noch keine genehmigten Castoren. „Es ist schlicht unmöglich, so kurzfristig Lagerbehälter zu beschaffen“, meint Harig, „für Stade bedeutet der Wiederaufarbeitungsstopp deshalb den impliziten Stillegungsbescheid.“
Um dies zu verhindern, bietet Trittin als nächstes an, bis zur Fertigstellung der dezentralen Zwischenlager weiterhin Transporte von den AKWs nach Gorleben und Ahaus durchzuführen. Die Betreiber tragen dick auf und verlangen, daß die Bundesregierung dann jährlich 100 Transporte ins Münsterland und Wendland absichern müßte.
Doch das niedersächsische Innenministerium hält „allenfalls durchschnittlich einen Transport pro Jahr“ für machbar. „Mehr als ein Transport ist undenkbar, wenn der Widerstand nicht endet“, so Innenminister Heiner Bartling (SPD). Und er nimmt an, „daß sich der Widerstand in der Bevölkerung gerade auch wegen der rot-grünen Bundesregierung noch einmal wesentlich erhöhen wird“.
Rot-grün in Bonn hat relativ wenig Interesse, verantwortlich für neue Polizeieinsatz-Rekorde zu sein. Deshalb wird kurz vor der ersten offiziellen Konsens-Runde nochmals umgeschwenkt. Heraus kommt der Weg des vermeintlich geringsten Widerstandes. Der kurzfristige WAA-Stopp wird zurückgenommen. Jetzt soll jedes AKW so lange weiter nach La Hague und Sellafield transportieren dürfen, bis jeweils die neue Lagerhalle auf dem Kraftwerksgelände fertiggestellt ist. Und Jürgen Trittin wird vom Sprecher der Atomstromer – dem HEW-Chef Manfred Timm – öffentlich dafür gelobt, daß er nochmals versprochen hat, keine „Verstopfungs-Strategie“ zu fahren.
Übrigens hat diese ganze Entwicklung recht wenig mit den in der Öffentlichkeit heiß diskutierten Verträgen mit Cogema und BNFL respektive Frankreich und England zu tun. Auch angedrohte Schadenersatzforderungen sind kein wirkliches Problem. Schließlich hatten einige EVUs schon vor Jahren aus eigenem Antrieb eben jene Verträge gekündigt, weil das Zahlen von Schadenersatz immer noch billiger ist, als die Wiederaufarbeitung weiter zu betreiben. So wurde beispielsweise für die Kündigung des Kontraktes zwischen dem AKW Krümmel und den Sellafield-Betreibern 89 Millionen DM gezahlt, ohne mit der Wimper zu zucken.
Selbst die angeblichen Schwächen im Trittinschen Gesetzentwurf spielten faktisch keine Rolle, sondern lieferten nur den willkommenen Vorwand zum Umschwenken.
Entsorgungszukunft
Jetzt sollen die WAA-Transporte also möglichst schnell wieder anrollen. Treppenwitz der Geschichte ist, daß die gleichen Leute aus der Bundesregierung, die voller Entrüstung erklären, wie unmoralisch und nationalborniert es wäre, Rücktransporte von deutschem Atommüll aus Frankreich zu blockieren, selbst beschlossen haben, daß die strahlende Abfälle aus der Bundesrepublik weiterhin in die Nachbarländer gebracht werden.
Die niedersächsische Landesregierung hebt Anfang Februar ihr Verbot zum Beladen von Castoren in den vier AKWs des Landes auf. Als letzter Schritt zur Verhinderung einer „Verstopfung“ wird nun von der Stromzunft erwartet, daß auch auf Bundesebene Trittin den Merkelschen Transportestopp aufhebt. Schließlich werden noch in diesem Jahr bei sechs AKWs die Abklingbecken voll sein.
Im Umweltministerium wurde ein Drei-Stufen-Plan für die Wiederaufnahme der Transporte erarbeitet. Der Plan sieht vor, daß zunächst an jedem AKW Tauchtests mit Behältern vorgenommen werden. Damit sollen „Vollschutzhemden“ erprobt werden, die die Castoren beim Beladen mit abgebrannten Brennelementen vor Radioaktivität schützen sollen. Bisher war dafür nur ein einziger Test in Philippsburg vorgesehen. Die zweite Stufe soll aus drei bis fünf Probetransporten bestehen, bei denen die Brennelemente unter wissenschaftlicher Begutachtung transportiert werden. Erst danach sollen routinemäßig Transporte möglich sein.
Die Konzerne wollen keine Garantie für „kontaminationsfreie“ Transporte geben. Sie argumentieren, daß selbst nach vollständiger Abdichtung und Reinigung der Behälter leichte, „gesundheitlich unbedenkliche“ Überschreitungen des Grenzwertes möglich seien. In Frankreich, so rechtfertigen sie dies, werde aktuell bei rund zehn Prozent der Atommülltransporte der Grenzwert von vier Becquerel pro Quadratzentimeter überschritten.
Nun können wir gespannt sein, wer sich in dieser Auseinandersetzung durchsetzt. Doch selbst, wenn die WAA- Transporte wieder genehmigt sind, hören die „technischen Probleme“ für die Atomiker nicht auf:
- Für einige Kraftwerke gibt es zur Zeit keine benutzbaren Behälter, weil NTL 10 und NTL 3 bei Tests versagt haben und der NTL 11 nach einer Pannenserie ausfällt. Es gibt sogar Gerüchte, nach denen französische Behälter überhaupt nicht mehr zum Einsatz kommen sollen.
- Einige Kraftwerke haben keine WAA-Verträge mehr, z.B. Gundremmingen und Neckarwestheim. Bei anderen sind nur noch wenige Transporte nach La Hague oder Sellafield nach den Altverträgen möglich, z.B. Lingen und Krümmel. Danach müßten die Transporte von diesen Reaktoren doch nach Gorleben und Ahaus rollen.
- Doch Transporte von den AKWs in die Zwischenlager sind so lange nicht möglich, wie das Problem der Restfeuchte in der Deckeldichtung nicht geklärt ist. Dieses schon immer von den Initiativen vermutete Problem ist nun endlich auch den Leuten von der Bundesanstalt für Materialprüfung bei Beladetests in Greifswald aufgefallen. Damit ist das gesamte Behälterkonzept für die Langzeitlagerung in Frage gestellt. Umfangreiche Prüfungen und Testreihen sind anberaumt.
Es wird interessant, zu erleben, wie die Bundesregierung in diesen sicherheitsrelevanten Bereichen durchsetzt, daß durch „die neue Regelung der Entsorgung der Betrieb der Kraftwerke in keiner Weise behindert werden darf.“
Widerstand
Manche Chancen erhalten soziale Bewegungen nur einmal. In der aktuellen Situation besteht die reale Möglichkeit, die Reaktoren reihenweise vom Netz zu blockieren und gleichzeitig einen schnelleren Stopp der Wiederaufarbeitung durchzusetzen, als ihn Atomwirtschaft und Bundesregierung gerne hätten.
Wer in diesem Ansinnen einen Anflug von Größenwahn vermutet, dem sei eine einfache Rechnung nahegelegt: Entscheidend ist nicht, ob bei jedem Transport Tausende präsent sind, sondern daß die Polizei beim ersten Transport so viele Überstunden macht, daß erstmal Ruhe ist. Wir wissen von Gorleben und Ahaus, daß die Polizei kräftemäßig pro Jahr nur einen 30.000- Mann/Frau-Einsatz schafft. 30.000 PolizistInnen sind dann nötig, wenn ca. 10.000 QuerstellerInnen erwartet werden. Schafft es die Anti-AKW-Bewegung also, zum ersten Transport 10.000 Menschen zu mobilisieren, dann war dieser erste Transport – ob er durchkommt oder nicht – auch der letzte für etwa 12 Monate (siehe dazu auch die Einschätzung des niedersächsischen Innenministers). Und selbst wenn die Polizei diesen Kraftakt zweimal im Jahr schafft, reicht das noch lange nicht aus, um die Entsorgungsengpässe zu beseitigen.
Wenn alle Menschen, die die Nutzung der Atomenergie aus den unterschiedlichsten Gründen für unverantwortbar halten, in den nächsten Monaten nicht wie das Kaninchen nach der Schlange auf die Konsensgespräche starren, sondern selbst aktiv dafür sorgen, daß keine Castor-Transporte mehr rollen, dann wird das die AKW-Betreiber in größere Schwierigkeiten bringen, als alle rot-grünen Ausstiegs-Rhetorik zusammen.
Schön ist an dieser erfolgversprechenden Handlungsperspektive auch, daß da nicht „nationale Interessen“ gepflegt werden, sondern in enger Zusammenarbeit mit Initiativen aus Frankreich und Großbritannien gemeinsamer Widerstand entsteht.
Es gibt eine lange Tradition des Widerstandes gegen Transporte zur Wiederaufarbeitung. Aber nie ist es gelungen, mehr als wenige hundert Menschen zu Aktionen zu mobilisieren. Selbst bei der großangelegten Krümmel- Kampagne 1997 („5.000 auf die Krümmel-Schienen“) kamen am Transport-Tag keine Tausend Leute zusammen.
Es gibt neben der bereits genannten Chance durch die „Verstopfungs-Strategie“ mindestens drei weitere gute Gründe, den Versuch zu unternehmen, dies jetzt ändern. Und weil es gute Gründe sind, besteht auch die Hoffnung, daß viele Menschen das ähnlich sehen, entsprechend handeln und so der Versuch erfolgreich ist.
- Der Transporte-Stopp schafft klare Verhältnisse:Es kann gegen den „1. Transport“ mobilisiert werden. Das gab es beim bisherigen Widerstand gegen WAA-Transporte nicht. Da mußte sich die Bewegung immer einen X-beliebigen aussuchen.
- Stopp der WAA:Die „Verstopfungs-Strategie“ hat natürlich Grenzen, denn es sollen nach und nach (je nach Widerstand dagegen) Zwischenlager an den AKWs gebaut werden. Auch ist den Betreibern zuzutrauen, daß ihnen noch was einfällt – schließlich geht es um sehr viel Geld. So hat Michael Sailer vom Öko-Institut in der FR vorgeschlagen, die Betreiber sollen die Brennelemente doch einfach in Castor-Behälter packen und diese unter offenem Himmel auf dem Kraftwerksgelände lagern. Er nennt das „Transport-Bereitstellungs-Lagerung“.
Sollten also wegen der beschriebenen „Hintertürchen“ vielleicht nicht sofort die Stillegung vieler AKWs erreicht werden, so rollt wenigstens kein oder kaum mehr Müll zur Wiederaufarbeitung. Dann schaffen die Bewegung das, was die Bundesregierung nicht geschafft hat. Und außerdem erhöht jeder X-tausendfache Widerstand gegen Transporte den politischen Druck auf die gesamte Atomenergie-Nutzung. - Absicherung des Widerstandes gegen dezentrale Zwischenlagerung: Die bereits anlaufende Arbeit an den Standorten gegen den Bau neuer Castor-Hallen ist durch die neue Atommüll- Absprache zwischen Regierung und Atomindustrie in einer schwierigen Lage. Da der Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung an die Fertigstellung der Zwischenlager gekoppelt ist, könnte jede Verzögerung bei der Errichtung der Hallen in der öffentlichen Debatte leicht als kontraproduktiv für den WAA-Ausstieg dargestellt werden. Nur wenn gleichzeitig die Transporte verhindert werden, ist also starker Druck gegen die neuen Zwischenlager möglich.
Fazit
Nachdem die Anti-Atom-Bewegung in den letzten Monaten angesichts des Bonner Theaters etwas ratlos erschien, ergeben sich aus der neuen Situation konkrete und erfolgversprechende Handlungsoptionen. Dabei können die Initiativen auf große Unterstützung aus der atomkritischen Öffentlichkeit rechnen, denn viele sind völlig enttäuscht von Rot-grün.
Also: Die internen Atommüll-Lager platzen. Die Atomindustrie reagierte erst panisch, scheint durch die Erlaubnis, weiter zur WAA transportieren zu können aber beruhigt. Und die AtomkraftgegnerInnen? Ran an die WAA-Transporte! Vielfältiger Widerstand ist angesagt. Wir lassen sie nicht mehr raus: „Verstopfungs- Strategie“ und Stopp der Wiederaufarbeitung. Gleichzeitig Sand ins Getriebe bei Genehmigung und Bau der neuen Zwischenlager.
Wann, wenn nicht jetzt?